Räumliche Darstellung kultureller Konfrontationen

Amsterdam, 25. bis 27. Januar 2012

Wilhelm Amann

Die Konjunktur von Raumdebatten darf zu den Leistungsnachweisen der Kulturwissenschaften gezählt werden, die heterogene, voneinander abgeschottete Einzelwissenschaften dialogisiert, Austauschprozesse initiiert, disziplinäre Grenzen verflüssigt sowie strukturelle Gemeinsamkeiten transparent machen. Bei den »Raumkehren«, dem »Raumwissen« handelt es sich insofern um einen multiperspektivischen Forschungsgegenstand, an dem spezifische kulturwissenschaftliche Verfahren zur Erprobung kommen. Andererseits wirkt diese »Form der der beweglichen Verschaltung« (H. Böhme/K. Scherpe) wiederum auf die Fachdisziplinen zurück, indem sie zur Selbstverständigung über kulturwissenschaftliche Paradigmen beiträgt.

In diesem Rahmen widmete sich ein Symposium im Bungehuis der Universiteit van Amsterdam (25.–27. Januar 2012) der »räumlichen Darstellung kultureller Konfrontationen«. Im Zentrum standen hier – anders als der Tagungstitel zunächst nahelegt – nicht in erster Linie räumliche Aspekte eines spektakulären ›Clash of Civilizations‹ als vielmehr multiple Differenzerfahrungen, die an literarischen, theatralen und medialen Konzeptionalisierungen von Räumen festzumachen sind.

Angesichts einer ausufernden Grundlagendiskussion um Raum und Räumlichkeit fragte ROLF PARR (Essen-Duisburg) in seinem öffentlichen Einleitungsvortrag im Goethe Institut Amsterdam nach spezifischen literarisch-kulturellen Praktiken, durch die Raumverhältnisse produziert, in Umlauf gebracht und etabliert werden. Dazu gehören die in Literatur und Medien gleichermaßen aufzufindenden Kollektivsymbole, die über einfache Achsen (rechts/links etc.) ein Raummodell konstituieren, das sich bestens zur Visualisierung von Kulturen und Nationen eignet. Die daraus abgeleiteten Kollektivsymbolsysteme (à la »im Herzen Europas«) funktionieren dabei als ›mental maps‹. Insbesondere für die Interkulturalitätsforschung stellen Vergleiche zwischen solchen Symbolsystemen eine Möglichkeit dar, die nur selten konkret benannten kulturellen Unterschiede auch materialiter festzumachen.

Den Transformationen einer an Raumachsen geknüpften kartografischen Imagination durch ein literarisch-kulturelles Raumbewusstsein spürte MARTINA WAGNER-EGELHAAF (Münster) anhand von Reisestationen Goethes in Italien nach. Die angesichts der Villa Pallagonia formulierte Sentenz, derzufolge »das Gefühl der Wasserwaage und des Perpendikels uns eigentlich zu Menschen macht und der Grund aller Eurythmie ist«, gilt insgesamt für die (ästhetische) Selbstverortung in der Konfrontation mit dem kulturell Anderen. Während im Norden noch die Abgrenzung von den »Cimmerern« vorherrscht und Sizilien »nach Asien und Afrika« deutet, findet die »Wiedergeburt« in der Mitte, in Rom, statt, wo auch Oppositionen von Innen und Außen, Enge und Weite aufgehoben erscheinen.

Auf unterschiedliche Auslegungen von Raumsymboliken im Kontext nationaler Stereotypisierungen ging CHRISTIAN MOSER (Bonn) in seinen Ausführungen zum Niederlande-Image im 18. Jahrhundert ein. Deiche, Dämme und Kanäle galten seit Goethes Werther in Deutschland als zentrale Symbole einer einfältigen, philiströsen Lebenswelt. Voltaire und Diderot hingegen würdigten den Kanalbau als kulturelle Leistung und Symbol der Befreiung aus der unproduktiven physischen Beschaffenheit des Landes. War der Kanal aus französischer Sicht Symbol der Grenzüberwindung, so aus deutscher Sicht Symbol der Grenzziehung. Beide Positionen sind bei Schiller auf ambivalente Weise präsent. Der politischen Hochschätzung der Niederlande in den historiografischen Schriften steht eine ästhetische Diskreditierung gegenüber, die vor allem kulturtopologisch mit der »barbarischen« geraden Linie begründet wird.

Gleich mehrere Vorträge beschäftigten sich mit Räumen des Theaters, da hier komplexe historisch-kulturelle Veränderungen der Raumkonstitution und -organisation exemplarisch nachvollzogen werden können. Anhand des ›Donaueschinger Bühnenplans‹ – dessen überlieferte Skizze auf den ersten Blick einem Trainerentwurf von Spielsituationen auf einem Fussballfeld ähnelt – rekonstruierte CARLA DAUVEN-VAN KNIPPENBERG (Amsterdam) Elemente der Aufführungspraxis des mittelalterlichen Passionsspiels. Die Simultanbühne brachte die Unvereinbarkeit der Symbolwelten von Himmel und Hölle zur Anschauung und diente zugleich der Visualisierung des Heilplans für das illiterate Publikum. Zu den der Hölle zugeordneten Feinden Christi zählten auch Juden, die von den Aufführungen ausgeschlossen waren. Der Marktplatz als theatraler Spielort wurde zu Beginn und am Ende der mehrtägigen Aufführung rituell markiert. Die Herauslösung von Performanzformen aus diesen Zusammenhängen und die Annäherung von Theater- und Lebensraum verdeutlichte ELKE HUWILER (Amsterdam) für das Schweizer Schauspiel der Frühen Neuzeit. Ein Stück wie Von Papst und Christi Gegensatz (1523) des Niklaus Manuel barg kurz vor der Reformation in Bern hohes Identifikationspotenzial, da es die Prozession des armen Christus gegen den pompösen Zug des Papstes in Szene setzte und sich den Marktplatz über die temporäre Bedeutung als Spielstätte hinaus auch als Ort der Rechtsprechung und Macht zunutze machte.

Vorstellungen einer linearer Entwicklung des theatralen Ordnungsraums von situativ gebundenen Aufführungen zum institutionalisierten Theaterraum trat KIRSTEN KRAMER (Heidelberg) in ihren Überlegungen zu Diderots Konzept der ›vierten Wand‹ entgegen. Zwar gilt die Fiktion des abwesenden Zuschauers als wichtige Markierung in der Entstehung des bürgerlichen Illusionstheaters, Diderots deutlich handlungsorientiertes Raumkonzept kann darüber hinaus als kulturelles Raumdispositiv verstanden werden, wie Kramer am Beispiel der Pantomimen-Episode in Rameaus Neffe erläuterte; der Zuschauer wird unwillkürlich in das Spiel hineingezogen. Mit der Grenzziehung wird umgekehrt die Permeabilität zwischen Theater und Lebenswelt wieder thematisch. Dem entsprechen Forderungen nach territorialer Entgrenzung des Theaters, so etwa Rousseaus später politisch wirksam gewordenes Plädoyer für öffentliche Feste in seinem Brief an D’Alembert. Möglicherweise sind hier Verbindungslinien zum Theatralitätsverständnis und den Aufführungsräumen Christoph Schlingensiefs zu suchen, dessen ästhetisches Programm SWANTJE HANKE (Amsterdam) in einem Abriss vorstellte. Nur am Rande fand das Kunst- und Filmprojekt Ausländer raus! – Schlingensiefs Container Erwähnung, das doch starke Bezüge zu frühneuzeitlichen Inszenierungspraktiken erkennen lässt, überdies kann man die gesamte Aktion auch gut als eine Art Praxismodul kulturwissenschaftlicher Raumdebatten fassen.

Zum Kanon von Autoren, die vonseiten der Literaturwissenschaften für kulturwissenschaftliche Belange gerne herangezogen werden, gehört W. G. Sebald. CAROL JACOBS (Yale) und ANNA SEIDL (Amsterdam) variierten das Tagungsthema und fragten nach ›Räumen der Konfrontation‹ als poetologisches Prinzip bei Sebald. Dazu zählen Seidl zufolge Unterbrechungen der Raumbewegungen der häufig wandernden Ich-Erzähler durch Konfrontationsobjekte, die als Fotos, Skizzen, Karten gesondert markiert zur Auflösung linearer Erzählstrukturen beitragen. Jacobs hob durch ein ›close reading‹ der Ringe des Saturn die Bedeutung von Netz, Gewebe, Faden, Gitter als Knotenpunkte und parergonale Strukturen hervor, über die der Raum der Darstellung und dargestellter Raum zur Vermittlung kommen. Jacobs’ textkonzentrierte Lektüre lässt sich, wie die Diskussion ergab, mit der Bedeutung von Netzen, Gittern etc. in der frühneuzeitlichen Raumdiskussion in Verbindung bringen. Während dort die topologischen Modelle in erster Linie der wissenschaftlichen Raumerschließung dienten, sind sie bei Sebald Ausdrucksformen einer unsicher gewordenen, verstellenden Raumwahrnehmung. Angesichts einer emphatischen Sebald-Philologie unternahm JOHANN HARTLE (Amsterdam) Relativierungsversuche und stellte Austerlitz neben Peter Weiss’ Ästhetik des Widerstands. Die erhellende Gegenüberstellung der konträren ästhetischen und politischen Programme beider Autoren, die bei ihrer Erinnerungsarbeit doch in ihrer Skepsis gegenüber der eigenen kulturnationalen und sprachlichen Identität übereinkommen, führte dann doch etwas vom Tagungsthema ab. Das Ineinander von Raumbewegung und Erzählgeflecht findet kein Pendant in Weiss’ Roman, in dem der Raum eher durch Positionsabfolgen verzeichnet wird.

Auf die übergreifende Fragestellung zurück führte NICOLE COLINS (Amsterdam) Analyse von Erinnerungsräumen in Michael Hanekes Film Caché, in dem ein düsteres Kapitel der französischen Kolonialgeschichte – das Massaker an algerische Demonstranten in Paris 1961 – in Form einer rätselhafte Alltags- und Lebensgeschichte wiederkehrt. Der Film verbindet beide Ebenen, indem er die Konstruktion kommunikativer und dynamischer Erinnerungsräume mit der Frage verknüpft, ob und wie überhaupt solche Räume aktiviert werden können. Die Gedächtniskrise des Protagonisten verweist auf die ausgeblendeten Räume der eigenen wie der nationalen Geschichte und geht im Film, wie Colin verdeutlichte, mit einer medialen Selbstreflexion einher, die verstörend auf den Zuschauer wirkt. Für die mediale Irritation der Tagungsteilnehmer war MARKUS ENGELNS (Bielefeld) mit seiner Präsentation über virtuelle und textuelle Räume von PC-Spielen am Beispiel von Fallout 3 zuständig. Ausgangspunkt war für Engelns die Beobachtung, dass der Raum in Computerspielen verschiedene Realisierungsebenen aufweist: eine simulierende Realisierungsebene, die die Spielwelt als empirisch-mathematisches Konstrukt bestimmt, sowie eine mit erzählten Welten vergleichbare narrative Realisierungsebene. Das Beispiel Fallout 3 zeigt aufgrund seines postapokalyptischen Szenarios zerstörte Gegenstände, die der Spieler als Gegenstände der Vergangenheit erkennt. Insofern ist narrative Zeit in Computerspielen verräumlicht, weil sie nur noch im Raum, nicht aber als Prozess für den Spieler vorhanden ist. Vergangenheit konstruiert Fallout 3 dann relativ schematisch über die von Fortschrittsideologien durchzogene US-Kultur der 1950er Jahre, die mit einer zerstörten Gegenwart konfrontiert wird.

Der bei Engelns implizit doch noch aufgerufenen Vorstellung vom ›Clash of Civilizations‹ fügte DANA BÖNISCH (Bonn) mit raumtheoretischen Überlegungen zu Jarett Kobeks ATTA-Fiktion eine Variante hinzu. Kobeks Roman von 2011 erzählt die Geschichte Attas nicht aus Sicht eines religiösen Fanatikers, sondern als Auseinandersetzung des diplomierten Stadtplaners mit der Architektur des Urbanen und Globalen. Bönisch verwies auf eine Reihe von »Archi-texturen« im Kontext von 9/11, so Michel de Certeaus Blick vom World Trade Center, der dem Autor, aber wohl nicht dem Attentäter als Anregung diente. In Kobeks Fiktion erscheinen Atta die blockhaften Architekturen des Westens ihrerseits als Manifestationen von Gewalt, die ihr Gegenbild in Attas Diplomarbeit über den organischen Raum der Altstadt Aleppos finden. Von den hier wirksamen ›mental maps‹ waren die Anschlüsse an die einleitenden Ausführungen Rolf Parrs offenkundig. Über das breite Spektrum der Gegenstände hinweg blieb somit auf der in vielfacher Hinsicht anregenden Tagung die thematische Einheit gewahrt.