Darmstadt: WBG 2011 – ISBN 978–3–5342–3814–9 – 14,90 €
Die neue Einführung der slowenischen Germanistin Andrea Leskovec in die interkulturelle Literaturwissenschaft, die auf dem Einband den Stempel »Bachelor/Master geprüft« trägt, erscheint beim Blick in das Inhaltsverzeichnis vielversprechend. Die Überschriften sind teilweise als Fragen formuliert und lassen auf Antworten hoffen. Tatsächlich zeigt sich schon das erste Kapitel Was ist Literaturwissenschaft? bemüht, einen möglichst umfassenden Überblick über das Feld der interkulturellen Literaturwissenschaft zu geben. Mit dem hehren Anspruch, Licht in das Dunkel der Begriffsunschärfen im Feld der interkulturellen Literaturwissenschaft zu bringen und dem in der öffentlichen Diskussion inzwischen zum Modewort gewordenen Begriff der Interkulturalität eine wissenschaftliche Kontur zu geben, gibt die Autorin eine differenzierte Einführung in die unterschiedlichen Forschungsrichtungen und Methoden, wobei wichtige Namen und Standardwerke genannt werden, die eine weitere Vertiefung ermöglichen (die auf dem Einband angekündigte kommentierte Bibliografie findet sich leider innerhalb des Buches nicht).
Didaktisch klug stellt Leskovec unterschiedliche kultur- und literaturwissenschaftliche Ansätze, Begriffe und Methoden in prägnanten Kurzerklärungen nebeneinander, um dann die Spezifik der interdisziplinären interkulturellen Literaturwissenschaft zu klären. Dabei kritisiert sie zu Recht eine kulturwissenschaftliche Instrumentalisierung von Literatur, die deren ästhetische Eigenqualität nicht würdigt, und betont wiederholt, dass eine interkulturelle Literaturwissenschaft in jedem Fall vom Text ausgehen müsse. In diesem Zusammenhang verweist sie mehrfach auch auf die ›poetische Alterität‹, die ebenso wie die ›kulturelle Alterität‹ Gegenstand einer interkulturellen Literarturwissenschaft sein müsse. Ein Hinweis auf Norbert Mecklenburg (1990 u. 2008), auf den die Unterscheidung von ›kultureller‹ und ›poetischer Alterität‹ zurückgeht, fehlt hier allerdings.
Eine zentrale Stellung bei der Erläuterung der Grundbegriffe nimmt der Begriff der Fremdheit als dem »Ausgangspunkt der interkulturellen Literaturwissenschaft« (S. 23) ein, mit dem sich Leskovec auf der Grundlage ihrer Dissertation ausführlich beschäftigt. Daran schließt eine kritische Auseinandersetzung mit der interkulturellen Hermeneutik an. Im letzten Kapitel wird dem Leser dann mit den auf dem Konzept einer kognitiven Hermeneutik (vgl. Tepe 2007) basierenden Punkten »Basisanalyse«, »Erfahren-Erkennen«, »Sichtbarmachen« und »Reflexion« ein brauchbares Grundgerüst für eine erste interkulturelle Textanalyse gegeben.
Eine dezidiert auslandsgermanistische Perspektive, die von der »Relevanz von Kulturunterschieden für die Erforschung und Vermittlung von Literatur« (S. 16) geprägt ist, ist stets präsent und steuert auch die das vierte Kapitel bestimmende Suche nach alternativen hermeneutischen Konzepten, die – nach Angaben aus Leskovecs 2009 erschienenen Dissertation Fremdheit und Literatur – aus dem Wunsch entstand, den spezifischen »Bedürfnissen und Voraussetzungen der Auslandsgermanistik im Allgemeinen und der slowenischen Germanistik im Besonderen in Forschung und Lehre« (vgl. Leskovec 2009: 2) gerecht zu werden. Vor dem Hintergrund der ausgeprägt interkulturellen Situation auf dem Gebiet des ehemaligen Jugoslawiens plädiert die Autorin für eine Öffnung der nationalsprachlichen Literaturwissenschaften, die sie als latent durch eine Funktionalisierung im Sinne »nationale[r] Selbstversicherung und Abgrenzung nach außen« (S. 33) geprägt sieht, in Richtung einer Interkulturalitätsforschung, die Zentrismen und Mechanismen der Ausgrenzung des Fremden bewusst macht, ihnen entgegenwirkt und Ambiguitätstoleranz erzeugt. Dieses politische Anliegen spiegelt sich im Grunde auch in ihrer konstruktiven Kritik an der interkulturellen Hermeneutik, für deren Neuformulierung sie hier wie in ihrer Dissertation plädiert. Dabei spielt vor allem die Klassifizierung des Fremden eine Rolle, das laut Leskovec in der postmodernen Pluralität nicht mehr rein binär gedacht werden kann, da dieser Ansatz eine intrakulturelle Homogenität suggeriert, die nicht mit der zunehmend heterogenen Wirklichkeit übereinstimmt, in der sich Eigenes und Fremdes nicht so einfach voneinander trennen lassen. Daher plädiert sie nicht für eine harmonisierende Hermeneutik à la Gadamer, sondern für die Anwendung einer dekonstruktivistischen Methode, »die die Annahme eines einheitlichen Sinns, der den Texten inhärent sein soll, unterläuft.« (S. 31)
Gerade das Bewusstsein über die Brüchigkeit von Sinn und die Tatsache, dass Verstehen immer auch die Relativität von Erkenntnissen miteinschließt, es ein unabschließbarer Prozess ist, führt die hermeneutische Methode an ihre Grenzen. Sie könnte daher mit poststrukturalistischen Methoden, die die Unabschließbarkeit von Sinnentwürfen reflektieren, kombiniert werden und ihre Ziele neu definieren (S. 91).
Entsprechend der von dem Philosophen Bernhard Waldenfels entwickelten Kategorien der alltäglichen, strukturellen und radikalen Fremdheit (vgl. Waldenfels 1997), die das Phänomen des Fremden aus dem engen Begriffsrahmen des Fremdkulturellen lösen, entwickelt sie einen, an zahlreichen Literaturbeispielen erläuterten, neuen Ansatz, der – in Anlehnung an die wiederum von Waldenfels 2006 beschriebenen Reaktionsmodi auf das Fremde – in die Deskription »reproduktiver« und »produktiver« Analysemethoden mündet.
Bei der reproduktiven Analyse steht die Frage nach den unterschiedlichen Kontexten des literarischen Textes im Vordergrund, der Text wird in bekannte Ordnungen eingeordnet. Bei der produktiven Analyse geht es dagegen um eine produktive Auseinandersetzung mit jenen Fremdheitsaspekten des Textes, die sich mit Hilfe von Kontextualisierung nicht auflösen/beseitigen lassen (S. 92f.).
Leskovec sieht die Aufgabe interkultureller Literaturwissenschaft nicht auf »Methode[n] zur Beschreibung fremdkultureller Phänomene« und Kulturvermittlung beschränkt, wie es nach ihrer Ansicht im Fachbereich noch immer überwiegend der Fall ist. Die eigentliche Aufgabe der interkulturellen Literaturwissenschaft sieht sie vielmehr darin, interkulturelle Kompetenzen zu stärken und damit an der Herausbildung einer »Kultur des Friedens« (vgl. Wintersteiner 2001) mitzuwirken. In diesem Zusammenhang sind auch ihre Ausführungen zu einer ›produktiven Analyse‹ von Texten mit ›interkulturellem Potential‹ zu sehen, die dem handlungstheoretischen Ansatz von Bernhard Waldenfels folgen und die Herausbildung interkultureller Kompetenzen zum lerntheoretischen Ziel haben.
Globales Ziel interkultureller Literaturwissenschaft ist […] ein gesellschaftspolitisches, nämlich die Ausbildung interkultureller Kompetenzen über die Beschäftigung mit Literatur, was sie in den Kontext des globalen Lernens einrückt (S. 22).
Lescovecs Definition der interkulturellen Literaturwissenschaft als »Instrument der Kompetenzentwicklung« (S. 8) und die starke Betonung der handlungstheoretischen Aspekte bedingen eine Fokussierung auf didaktischen Aspekte, führen darüber hinaus in dieser Einführung aber auch zu einer nicht unproblematischen Gleichsetzung des Wissenschaftsbetriebes mit einem reinen Bildungsapparat, der seine Schüler »zu einer aktiven Beteiligung an gesellschaftlichen Prozessen« (S. 35) befähigen und primär der Vermittlung interkultureller Kompetenzen (metakognitive Kompetenz, interkulturelle Wissens- und Handlungskompetenz) und nicht einer bloßen »Wissensanhäufung oder -vermehrung« (S. 34) dienen soll.
Für Leskovec liegt der »Sinn« der Forschungsrichtung letztlich allein in der gesellschaftspolitischen Funktion als Vermittlungsinstrument interkultureller Kompetenzen begründet. Ein gesellschaftspolitischer »Nutzen« der Wissenschaft ist natürlich nichts, das per se vermieden werden müsste und die Entwicklung einer »Kultur des Friedens« erscheint aus vielerlei Gründen sicherlich wünschenswert. Dennoch ist eine vollständige Funktionalisierung der Wissenschaften äußerst problematisch. Um eine wissenschaftstheoretische Zukunft des interkulturellen Forschungsfeldes zu sichern, scheint es mir vielmehr wichtig zu sein, eine kritische Distanz zum Politischen zu wahren, sich um Unabhängigkeit von soziökonomischen Zwängen zu bemühen und somit die Reduktion der Interkulturalitätsforschung auf eine wissenschaftliche Absicherung interkultureller Soft Skills als Schlüsselkompetenzen für den globalen Wettbewerb zu vermeiden.
Insgesamt scheint mir diese Einführung besonders für angehende Lehrkräfte geeignet zu sein, da hier didaktische Aspekte einen breiten Raum einnehmen und sich zahlreiche praktische, durch etliche Literaturbeispiele gestützte Hinweise auf das Wie der Vermittlung interkultureller Kompetenzen über Textanalysen finden lassen.
Leskovec, Andrea (2009): Fremdheit und Literatur: Alternativer hermeneutischer Ansatz für eine interkulturell ausgerichtete Literaturwissenschaft. Berlin.
Mecklenburg, Norbert (1990): Über kulturelle und poetische Alterität. Kultur- und literaturtheoretische Grundprobleme einer interkulturellen Germanistik. In: Dietrich Krusche/Alois Wierlacher (Hg.): Hermeneutik der Fremde. München, S. 80–102.
Ders. (2008), Das Mädchen aus der Fremde. Germanistik als interkulturelle Literaturwissenschaft. München.
Tepe, Peter (2007): Kognitive Hermeneutik: Textinterpretation ist als Erfahrungswissenschaft möglich. Würzburg.
Waldenfels, Bernhard (1997): Topographie des Fremden. Frankfurt a.M.
Ders. (2006): Grundmotive einer Phänomenologie des Fremden. Frankfurt a.M.
Wintersteiner, Werner (2001): »Hätten wir das Wort, wir bräuchten die Waffen nicht.« Erziehung für eine Kultur des Friedens. Innsbruck/Wien/München.