Ann Arbor: The University of Michigan Press 2011 – ISBN 978–0–472–11751–2 – $ 70.00
Die Untersuchung kultureller Repräsentationen bezüglich des ›Orients‹ ist in den letzten Jahren zu einem der wichtigsten Bereiche literatur- und kulturwissenschaftlicher Forschung avanciert. Die Impulse des Cultural turn der Literaturwissenschaften und der angloamerikanischen Postcolonial Studies haben dazu besonders beigetragen, was nicht zuletzt daran abgelesen werden kann, dass der Anteil von amerikanischen Germanisten am Korpus dieser Fachliteratur nicht unerheblich ist. Zu den ersten amerikanischen Germanisten, die sich mit dem Bild des ›Orients‹ in der deutschen Literatur befassten, gehört zweifellos die zur Zeit an der Ohio State University lehrende Professorin Nina Berman, die bereits 1994 an der University of California at Berkeley mit einer Dissertation zum Thema Orientalismus, Kolonialismus und Moderne1 promovierte. Schon in dieser Arbeit näherte sich die Autorin den diversen Bedeutungen deutschsprachiger Darstellungen des ›Orients‹ an der Wende vom 19. zum 20. Jahrhundert. Anhand literarischer Texte von Karl May, Hugo von Hofmannsthal und Else Lasker-Schüler untersuchte sie das Verhältnis von kultureller Produktion, Modernisierung und wirtschaftlicher sowie politischer Expansion, und damit berücksichtigte sie schon hier die kulturpolitische Komponente der ›Orient‹-Repräsentation, die bis dahin von Orientalismus-Forschern2 außer Acht gelassen worden war.
In ihrer neuen Studie German Literature on the Middle East. Discourses and Practices, 1000–1989, die Ende 2011 in der University of Michigan Press erschien, nimmt Nina Berman den Themenkomplex des ›Orient‹-Diskurses in der deutschen Literatur wieder auf. In diesem historisch umfassend informierten Werk spannt sie einen Bogen von der Zeit, in der die ersten Kreuzritter im Heiligen Land eintrafen, über die Zeit der Auseinandersetzungen mit dem Osmanischen Reich und das Zeitalter des Imperialismus bis hin zum Jahr der deutschen Wiedervereinigung. Somit überschreitet sie in extenso das vielfältig untersuchte 19. Jahrhundert. Die Autorin will die komplexe und widersprüchliche Beziehung zwischen dem Bereich der sozialen, ökonomischen und politischen Praxis auf der einen und der textuellen und kulturellen Repräsentation auf der anderen Seite herstellen. Sie macht ihre Beobachtungen an der deutschen ›Middle-East‹ bezogenen Literatur fest. Der Begriff ›Middle-East‹ (›Mittlerer Osten‹), wie ihn Nina Berman in ihrer Studie verwendet, umfasst Regionen, die im Deutschen traditionell als Naher Osten und Nordafrika bezeichnet werden. Ihre Ausgangsthese ist, dass das ›Orient‹-Bild, das so unterschiedliche Werke wie z.B. Wolframs von Eschenbach Parzival, Daniel Casper von Lohensteins Ibrahim Bassa, Gotthold Ephraim Lessings Nathan der Weise, Else Lasker-Schülers Der Prinz von Theben und Feridun Zaimoǧlus Leyla zeichnen, vielschichtig sei, und dass jede Betrachtung daher den politischen, ökonomischen und sozialen Kontexten, in denen die jeweiligen Texte entstanden, Rechnung tragen müsse. Die methodisch-inhaltlichen Achsen der Studie sind zum einen Forschungsansätze, die unter dem Begriff der practice theory und des New Historicism figurieren, sowie die Orientalismus-Thesen Edward W. Saids und die Diskurstheorien des späten Michel Foucault, mit denen sie sich kritisch auseinandersetzt. Die aktuellen Forschungsmeinungen zu diesen Forschungsansätzen referiert sie in einer thematischen Einleitung (S. 1–23).
Die Untersuchung erfolgt in fünf chronologischen Schritten von unterschiedlicher Länge. Das erste Kapitel analysiert die Beziehungen ›Europas‹ und ›Deutschlands‹ zu Ländern des ›Mittleren Ostens‹ in der Zeit zwischen 1000–1350 (S. 23–61). Einleitend zu diesem Kapitel stellt Nina Berman fest, dass diese Beziehungen fundamental bestimmt waren durch die christliche Weltsicht. Die Autorin nimmt eine Differenzierung vor, indem sie darauf hinweist, dass sich das politische, ökonomische und kulturelle Verhältnis zu dieser Region von einem europäischen Land zum anderen unterscheidet, obwohl das Heilige Land die gleiche prominente Rolle für die meisten europäischen Länder einnahm. Sie hebt deutlich hervor, dass die meisten Stoffe, die sich auf den ›Mittleren Osten‹ und den Islam beziehen in der deutschen Kultur von anderen europäischen Literaturen – vor allem der französischen – übernommen wurden. Doch stellt die Autorin fest, dass trotz aller Kontinuität der Klischees, Motive und Topoi die Repräsentation des ›Mittleren Ostens‹ in der deutschen Literatur sich insofern gewandelt habe, als die deutschen Dichter anders als ihre europäischen – namentlich französischen – Gewährsmänner mit verschiedenen zentralen Merkmalen der vorherrschenden Kreuzzugsideologie brachen, indem sie positive ›orientalische‹ Charaktere entwarfen. Die Autorin macht diese Beobachtungen besonders anhand von zwei Texten von Wolfram von Eschenbach, nämlich Parzival und Willehalm. Sie räumt zwar ein, dass »[t]he figure of the noble heathen existed in literatures across Europe« (S. 59), stellt aber fest, dass in der maßgeblichen deutschen Tradition – und nur hier – sich im Spätmittelalter eine spezifische Auseinandersetzung mit dem ›Mittleren Osten‹ zu entwickeln beginne. Die Autorin verzichtet in ihrer Studie auf einen Vergleich dieser sich abzeichnenden deutschen Darstellung mit einem gesamteuropäischen Kontext. Wenn sie diesen Vergleich jedoch angestellt hätte, wäre ihr evident geworden, wie anfechtbar ihre These ist.
Das zweite Kapitel (S. 63–103) widmet sich den Beziehungen zu einem orientalischen Land, das das deutsche respektive europäische ›Orient‹-Bild in der Frühen Neuzeit am nachhaltigsten geprägt hat: dem Osmanischen Reich. In diesem Kapitel, das die Zeit von 1350 bis 1683 (also bis zum zweiten vergeblichen Angriff auf Wien) absteckt, bietet die Verfasserin zunächst einen Tour d’Horizon über die bedeutsamsten Etappen osmanischer Ausdehnung in Südosteuropa, bevor sie sich der kursorischen Behandlung von literarischen Werken (fiktionalen und nicht-fiktionalen) widmet, die sich mit dem Türken bzw. Osmanen auseinandersetzen. Sie zeigt auf, dass die Wahrnehmung der Türken in theologischen Schriften eschatologisch orientiert war. Feindselige Ungläubige als apokalyptisches Endzeitvolk, »flagellum dei« (›Geißel Gottes‹) als Mahnung zur Umkehr: Das sind die wichtigsten Merkmale dieser Auseinandersetzung mit den scheinbar unbesiegbaren Osmanen in der Frühen Neuzeit, so etwa bei Martin Luther. Dass Luthers eschatologische Sicht nicht nur ihm eigen war, zeigt die Autorin anhand von anderen nicht-fiktionalen Schriften (Predigten, Flugschriften, und ›Zeitungen‹), die durch die Erfindung des Buchdrucks einen bisher nicht gekannten Umfang erreichten. Hier stellt Berman im Gegensatz zu Said fest, dass Schriften – vor allem religiöse – aus dieser Epoche eine gewisse (religiöse) Überlegenheit zeigen, und dies nicht in einem Moment faktischer politischer und militärischer Überlegenheit, wie Said betont, sondern gerade in Zeiten der Krise und der Niederlagen. Sie kann aufzeigen, dass ein ethnografisches Erkenntnisinteresse am ›fremden Orient‹ lange vor dem von Said für die Zeit ab der Invasion Ägyptens durch Napoleon als ›Orientalismus‹ beschriebenen Phänomen da war und demnach nicht etwa aus einer Position westlicher Überlegenheit, sondern im Gegenteil aus einer Position der Unterlegenheit heraus entstand.
Wie sich die Wahrnehmung der Osmanen insgesamt in Europa nach der zweiten Belagerung Wiens 1683 verschob, behandelt das dritte Kapitel (S. 104–143), das die Zeit bis 1792 abdeckt. Für das Ende des 17. Jahrhunderts stellt Nina Berman eine tiefgreifende Änderung des ›Orientkonzepts‹ fest, für die sie mehrere Faktoren als ausschlaggebend erklärt, allen voran die Bannung der ›Türkengefahr‹ und die entstehende Aufklärungsbewegung, die sich durch den Versuch auszeichnet, das ›Fremde‹ und ›Andere‹ nicht nur wahrzunehmen, sondern sich mit ihm auseinanderzusetzen und es zu verstehen. Das umfassende Interesse, das Vertreter der Aufklärung dem ›Mittleren Osten‹ und dem Islam entgegenbrachten, hatte – so die Autorin – aber auch Kehrseiten: In der legitimatorischen Rhetorik, die Europa – vor allem Frankreich und Großbritannien – für ihre kolonialen Unternehmungen ins Feld führte, schwang der Diskurs der Aufklärung ebenfalls mit: Die Europäer erhoben den Anspruch die Zivilisation und das Licht der Aufklärung und die Freiheit in den ›Mittleren Osten‹ zu tragen.
Im Zentrum des vierten Kapitels (S. 144–188) stehen die Jahre 1792 bis 1945, die durch die Festigung der europäischen Hegemonie über außereuropäische Gesellschaften und die Stärkung der Kolonialimperien gekennzeichnet sind. Die Autorin zeigt, wie gegen Ende des 18. Jahrhunderts sich das Paradigma der überlegenen europäischen Zivilisation zu verfestigen begann und wie dieses neuerwachte Bewusstsein auf akademischer Ebene von der Entstehung der großen Erzählung vom Aufstieg Europas unterstützt wurde, das bald als das global gültige Modell galt. Die zentrale These dieses Kapitels lautet, dass die Kritik an der Religion des Islam die Politik und das Verhalten dem ›Mittleren Osten‹ gegenüber bestimmte und dass der Fortschritt zu einem ideologischen Deckmantel wurde, mit dem die europäischen Mächte ihre politischen, militärischen und ökonomischen Unternehmungen legitimierten. Spätestens hier muss man der Verfasserin unzulässige Vereinfachung vorwerfen, wenn sie auf knapp 44 Seiten, eine Zeit behandelt, in der viele Umwälzungen stattgefunden haben, die es verdient hätten, gesondert behandelt zu werden.
Im fünften Kapitel (S. 189–238) geht es um die Zeit von 1945 bis 1989. Die Autorin weist darauf hin, dass die Migration eine grundlegende Veränderung innerhalb von vielen europäischen Gesellschaften bewirkte. Besonders auf die Geschichte der Arbeitsmigranten aus der Türkei, die größte Auswirkungen auf die westdeutsche Gesellschaft hatte, geht die Autorin detaillierter ein. Mit der wachsenden Zahl von Migranten entstand – so die Autorin – in der deutschen Gesellschaft das Bedürfnis, die Kultur dieser Menschen besser kennenzulernen. Alsbald traten auf den Plan Spezialisten wie namentlich Peter Scholl Latour und Gerhard Konzelmann, die mit ihren eindimensionalen Erklärungen komplexer Ereignisse die deutsche Meinung über den ›Mittleren Osten‹, den Islam, die Araber, die Türken und die Perser in Westdeutschland bestimmten, – und dies meist im Rekurs auf tradierte Feindbilder vom ›Orient‹ und vom Islam.
Abschließend lässt sich festhalten, dass die Studie von Berman durch ihren Detailreichtum überzeugt und dem am deutschen ›Orient‹-Diskurs Interessierten die Chance gibt, dessen Vielfalt wahrzunehmen. Die Studie, die Einführungscharakter hat, zeichnet sich dadurch aus, dass sie am Ende eines jeden Kapitels einen Ausblick darbietet, in dem sie Anstöße für weitergehende Untersuchungen gibt. Im Unterschied zu den bisherigen Arbeiten zum Thema wagt sich die Autorin über die Grenzen der europäischen Literaturen hinaus, indem sie auch arabische Primärquellen zum Vergleich heranzieht. Problematisch ist der Verzicht auf Einzelanalysen, der notwendigerweise mit der Konzentration auf die geschichtlichen Hintergründe einherging. Dennoch ist das Werk von Nina Berman hochinteressant und lesenswert. Die empfehlenswerte Arbeit wird hoffentlich weitere Studien zu dem komplexen Thema anregen, die sich mehr noch der narrativen Einzelanalyse widmen.
1 Nina Berman: Orientalismus, Kolonialismus und Moderne: Zum Bild des Orients in der deutschsprachigen Kultur um 1900. Stuttgart 1997.
2 Vgl. exemplarisch Andrea Fuchs-Sumiyoshi: Orientalismus in der deutschen Literatur: Untersuchungen zu Werken des 19. und 20. Jahrhunderts, von Goethes »West-östlichem Divan« bis Thomas Manns »Josephs«-Tetralogie. Hildesheim 1984.