Als Kind in Istanbul war das erste europäische Wort, das ich gehört habe:
»Deux-Pièces«. Meine Eltern gingen jeden Montag in ein Kino das »Teyyare Sinemasi« hieß. Das bedeutete auf Deutsch: Flugzeugkino. Dieses Kino zeigte nur europäische Filme. Meine Mutter erzählte mir von dem Besitzer des Flugzeugkinos, der sich selbst wie ein Filmstar verkleidete und die Besucher am Eingang seines Kinos empfing. Er wusste, dass die Zuschauer in manchen europäischen Filmen, die er zeigte, weinen würden. Für solche traurigen Filme ließ er aus feinen Stoffen Taschentücher herstellen, die er persönlich vor dem Kino verteilte. Meine Mutter gab mir eines von diesen Tüchern, mit dem sie im Kino ihre Tränen getrocknet hatte. Ich legte dieses Taschentuch mit den Tränen meiner Mutter in meinen Schulatlas, genau zwischen die Seiten, wo Europa abgebildet war.
Meine Mutter und mein Vater zogen sich jeden Montag sehr schick an, um zum Flugzeugkino zu gehen. »Was wirst du anziehen?«, fragten sie jedesmal. Einmal sagte meine Mutter: »Ich werde mein ›Deux-Pièces‹ anziehen«. Ich fragte: »Mutter, was heißt ›Deux-Pièces‹?« »Deux-Pièces ist Deux-Pièces«, antwortete meine Mutter.
Meine Großmutter war eine abergläubische Frau. Sie hatte Angst, dass die Schatten auf der Leinwand die Gesichter meiner Eltern wegnehmen würden. Am nächsten Morgen fragte ich meine Eltern, was sie im Kino gesehen hatten und wie der Film hieß. Mein Vater antwortete, »ich hab vergessen, wie der Film heißt, aber schau, der Schauspieler Jean Gabin raucht so«, und er machte Jean Gabin nach, wie er rauchte. Die Zigarette steckte in seinem Mundwinkel, bis die Asche herunterfiel. So rauchte mein Vater ein paar Wochen lang wie Jean Gabin, bis er an einem anderen Montag im Flugzeugkino einen Film mit Rossano Brazzi sah und am Dienstag zu Brazzi überwechselte. So waren unsere ersten europäischen Gäste in unserem Istanbuler Holzhaus Jean Gabin und Rossano Brazzi. Als Kind hatte ich Schwierigkeiten, die Namen unserer europäischen Gäste richtig auszusprechen, und fand für Jean ein türkisches Wort, »Can«, was auf Türkisch »die Seele« heißt, also »Seele Gabin«, und für Brazzi, das türkische Wort, »Biraz iyi«, das bedeutet auf deutsch, »ein bisschen besser«. Bevor ich ins Kino ging und »Seele Gabin« und »Rossano Einbisschenbesser« selbst auf der Leinwand sah, hatte ich sie schon im Gesicht und Körper meines Vaters kennengelernt. Auch meine Mutter brachte in ihrem Gesicht und ihrem Körper zwei europäische Gäste nach Hause: Silvana Mangano und Anna Magnani. Für ihre Namen gab es auf Türkisch auch ähnliche Wörter: »Silbana«, d.h. wisch mich ab, Mangano, und »Ana«, d.h. Mutter, Magnani. Die ersten Gesichter, die zwischen den Ländern ausgetauscht wurden, waren die Filmgesichter.
Irgendwann tauchte in unserem Istanbuler Haus ein Hut namens »Borsalino« auf. Mein Vater setzte ihn jeden Morgen vor dem Spiegel auf und warf einen letzten Blick auf seinen Hut, bevor er die Tür aufschloss, um rauszugehen. Er legte so viel Wert darauf, diesen Hut richtig aufzusetzen, und blieb so lange vor dem Spiegel stehen, dass ich dachte, sein Kopf mit dem Borsalino bliebe im Spiegel zurück, auch wenn mein Vater aus dem Haus gegangen war. Atatürk hatte den Hut in der Türkei als »Europäisierung« eingeführt. Auf den Fotos sah man Atatürk entweder mit einem Hut auf dem Kopf oder in der Hand. Er begrüßte die Menschen immer mit dem Hut. Er reiste in der Türkei herum, um die Menschen von der Europäisierung zu überzeugen. In einer Kleinstadt am Schwarzen Meer trugen alle Männer auf einmal europäische Damenhüte, um Atatürk zu empfangen. Ein schlauer Kaufmann hatte keine Männerhüte mehr, sondern nur altmodische Damenhüte, und die Männer kannten den Unterschied noch nicht.
Als meine Eltern »Seele Gabin« und »Rossano Einbisschenbesser« und »Wischmichab Mangano« und »Mutter Magnani« als Gastgesichter in ihre Gesichter eingeladen hatten und sich mit ihnen sehr gut verstanden, bekam ich auch meine ersten europäischen Freunde. Als Kind wurde ich krank. Tuberkulose. In unserer Gasse wohnte eine verrückte Frau. Sie lud mich manchmal auf ihren Balkon ein, dessen Boden mit vom Baum gefallenen Maulbeeren bedeckt war. Sie fragte mich, ob ich, bevor ich sterbe, das Paradies verdienen wolle. Sie sagte, »wenn man einen Granatapfel in zwei Teile schneidet, und jedes einzelne Stückchen Granatapfel, das in seiner Schale steht, ohne es auf den Boden fallen zu lassen, essen kann, wird man ins Paradies gehen«. Die verrückte Frau und ich aßen einen Granatapfel. Eine Hälfte des Granatapfels lag in ihrer Hand, die andere Hälfte in meiner Hand. Die verrückte Frau aß, ohne ein Stückchen herunter fallen zu lassen. Ich hatte auch fast den halben Granatapfel gegessen, ohne etwas fallen zu lassen, und als das letzte Stück dran war, beeilte ich mich vor Freude, und es fiel auf den Boden. Ich konnte nicht ins Paradies gehen. Ich wollte aber dorthin, weil ich glaubte, dass meine Großmutter, die ich sehr liebte und die mir jede Nacht Märchen erzählte, auch ins Paradies gehen würde. Sie hatte acht Kinder verloren. Sie glaubte, dass jeder Mensch im Leben zwei Engel hat. Auf einer Schulter steht der Engel, der deine guten Taten in ein Heft schreibt. Der Engel auf der anderen Schulter schreibt deine Sünden auf. Wenn man stirbt, werden die Engel aus den Heften die Sünden und die guten Taten lesen. Auf einer Waage werden sie deine Sünden und die guten Taten wiegen. Dann wird man zu einer Brücke gebracht, eine Brücke dünn wie ein Haar, scharf wie ein Messer. Man muss darauf barfuß laufen, wenn man diese Brücke bis zum Ende laufen kann, wird man ins Paradies gehen, sonst in die Hölle, und die Hölle ist genau unter dieser Brücke.
Meine Großmutter dachte, sie hätte viele Sünden, weil sie, als ihre Kinder starben, aus Kummer viele Zigaretten geraucht hatte. Aber sie glaubte auch, dass ihre acht Kinder, die ganz klein waren, als sie starben und sowieso noch keine Sünden gehabt hatten, als Engel zu dieser Brücke fliegen würden, bevor die Großmutter wegen der Sünden der gerauchten Zigaretten in die Hölle fiel, und sie mit ins Paradies nehmen würden. »Wie kann ich mit dir ins Paradies kommen?«, fragte ich sie. Sie sagte, ich sollte die Toten nicht vergessen und für ihre Seelen beten. Manchmal ging sie mit mir auf den Friedhöfen spazieren. Sie blieb vor jedem Grabstein stehen und betete für die fremden Toten. Meine Großmutter war Analphabetin. Ich las ihr die Namen der Toten vor und lernte die Namen auswendig, und in der Nacht betete ich, zählte diese Namen auf und schenkte diese Gebete ihren Seelen. Ich hatte bald lange Listen von Toten. Erst hatte ich nur türkische Tote, dann kamen europäische. Ich las meiner Großmutter und ihren analphabetischen Freundinnen laut Romane vor. Meine erste europäische Gasttote war Madame Bovary, um die die alten Frauen weinten, und deren Namen ich in der Nacht in meine Liste der Toten aufnahm. Dann kam noch ein europäischer Toter: Robinson Crusoe. Während ich Robinson Crusoe laut las, fragte meine Großmutter immer: »Wie haben seine Eltern das ausgehalten? Was hat seine Frau gemacht? Was haben seine Kinder gegessen, als ihr Vater nicht da war?« Großmutter dachte immer an die Familie von Robinson Crusoe. Weil sie besorgt war, las ich ihr als Antwort Lügen vor, was seine Kinder aßen, Reis mit Lamm und Mais und Kastanien, und betete in der Nacht für Robinson Crusoe. Meine dritte europäische Gasttote war Isadora Duncan. Eine Nachbarin, die Theaterschauspielerin war, fragte eines Tages meine Mutter, ob sie ihr einen Schal für den Hals leihen könnte, weil sie mit ihrem offenen Auto das Meer entlang fahren wollte. Meine Mutter gab ihr einen langen Schal. Die Schauspielerin lehnte den Schal ab und erzählte, dass in Frankreich eine sehr berühmte Tänzerin so erstickt ist. Sie hieß Isadora Duncan. Sie war in ihrem offenen Auto gefahren und hatte einen sehr langen Schal um den Hals gehabt. Dieser Schal flatterte beim Fahren in der Luft, wickelte sich um das Hinterrad und erstickte die Tänzerin Isadora Duncan. Mein vierter europäischer Gasttoter war Molière. Ich wurde von der Tuberkulose geheilt und spielte am Staatstheater in einem Stück von Molière. Ich hörte von erwachsenen Schauspielern, dass Molière auf der Bühne gestorben ist, und so bekam auch er in der Nacht Gebete. Ich betete, bis ich mich eines Tages verliebt hatte, jede Nacht für die türkischen Toten und Madame Bovary, Robinson Crusoe, Isadora Duncan und Molière. Als ich mich verliebte, vernachlässigte ich die Toten etwas.
Es sind nicht nur die Filmgesichter, die die Menschen zwischen den Ländern zuerst austauschen, sondern auch die Toten.
In meiner Kindheit zogen meine Eltern mehrmals von der asiatischen auf die europäische Seite von Istanbul und umgekehrt, weil sie in Istanbul verliebt waren und in allen Gegenden leben wollten. Wenn wir auf der asiatischen Seite wohnten, schaute mein Vater Richtung europäische Seite und sagte: »Europa ist da.« Dann schwieg er. Ich schaute auf sein Gesicht, um dort Europa zu sehen. Manchmal zählte er die Lichter der Häuser auf der europäischen Seite, die auf den Hügeln Richtung Asien blinkten. Die Autos fuhren auf der europäischen Seite und sahen aus wie hintereinander laufende Sterne, die ununterbrochen Richtung Asien zwinkerten. Meine Mutter sagte an manchen Abenden zu meinem Vater: »Wenn man die Sterne am Himmel zählen kann, kann man auch die Lichter vom europäischen Istanbul zählen.« Wenn mein Vater meiner Mutter ankündigte, dass er am nächsten Morgen auf der europäischen Seite von Istanbul etwas zu erledigen hatte, wählte meine Mutter in der Nacht mit ihm sein Hemd und seine Hose sorgfältig aus, und die hingen schon gemeinsam auf einem Kleiderbügel auf dem Balkon. In der Nacht blinkte die weiße Farbe des Hemdes in meinen Augen, und es kam mir vor, als ob Hose und Hemd sich so auf die Reise nach Europa freuten, dass sie in der Nacht nicht schlafen konnten.
Unsere Nachbarin Madame Athena, eine Istanbuler Griechin, zog damals in meiner Kindheit ihre älter gewordenen Wangen bis hinter ihre Ohren und klebte sie mit einem Klebeband fest. Ich sollte ihr dabei helfen. Mit dem Klebeband hinter den Ohren ging Madame Athena mit mir zum Hafen. Ich war acht Jahre alt. Sie sah mit ihren nach hinten gezogenen Wangen jung aus, deswegen lief ich schnell. Sie wollte auch so schnell laufen wie ich und fiel dabei manchmal auf die Straße. Sie sagte mir öfter, sie sei weder Asiatin noch Europäerin, sie sei Byzantinerin und spazierte mit mir in die Kirche Hagia Sophia. Ich liebte die Hagia Sophia. Ihr Boden war uneben, und an den Mauern sah man Christusfresken ohne Kreuz, und dieser Christus war ein sehr schöner Mann. Ich versuchte seine Fingerhaltungen nachzumachen. Der Daumen lag an dem kleinen Finger und dem Ringfinger, die beiden anderen waren gestreckt. Madame Athena erzählte mir, dass es früher zwei Verrückte in Istanbul gab. Der eine stand am europäischen Ufer und sagte, »ab hier ist Istanbul mein«, und der andere stand auf der asiatischen Seite am Ufer und schrie zur europäischen Seite, »ab hier ist Istanbul mein«. Einmal kehrten Madame Athena und ich mit dem Schiff von Europa zum asiatischen Teil zurück. Madame Athena zeigte mir einen kleinen Turm am Meer. »Der byzantinische Kaiser, dem man wahrgesagt hatte, dass seine Tochter von einer Schlange gebissen und getötet würde, ließ draußen im Meer, vor dem asiatischen Ufer, diesen Leanderturm (Mädchenturm) bauen und versteckte hier seine Tochter. Als sich das Mädchen einmal nach Feigen sehnte, und man ihr von der europäischen Seite der Stadt mit dem Boot einen Korb Feigen brachte, wurde sie von der Schlange, die sich im Korb versteckt hatte, gebissen und starb.«
Ich wuchs in Istanbul zwischen dem asiatischen und europäischen Teil der Stadt auf, und über unseren beiden Himmeln sah ich den Regenbogen, den Mond, Schnee, die Sonne, die Sterne, Donner und Blitz. In einer Nacht, in der sich Donner und Blitz über Europas und Asiens Himmel zeigten, saß ich auf einem Schiff, das mich von der europäischen zur asiatischen Seite fuhr. Die Teeverkäufer trugen Tee herum, in ihren Taschen klapperte Kleingeld. Als wir auf der europäischen Seite auf das Schiff gingen, hörten Donner und Blitz auf, und der Mond zeigte sich über dem Hafen. Wohin man auf dem Schiff fasste, man fasste den Mond mit an. Jeder hatte in dieser Nacht ein bisschen Mond in seinen Händen. Als das Schiff abfuhr, saß neben mir ein Pärchen. Der Junge sagte: »Du hast also jemand anderem auch deine Wohnungsschlüssel gegeben. Ich gehe. Auf Wiedersehen.« Er sprang vom Schiffsdeck ins Meer und tauchte ins Mondlicht. Das Schiff befand sich genau in der Mitte zwischen Europa und Asien. Alle Menschen eilten zur Reeling. Das Schiff neigte sich mit der Menschenmenge, auch die Teegläser rutschten mit ihren Untertassen Richtung Reeling. Der Teeverkäufer schrie: »Teegeld, Teegeld.« Die Schiffsbesatzung warf dem Jungen zwei Rettungsringe hinterher, aber er wollte keinen Rettungsring. Das Schiff drehte und fuhr hinter dem Jungen her, Richtung Europa, schließlich holte ihn ein Rettungsboot aus dem Meer. Der Mond, der jetzt am Himmel genau zwischen Asien und Europa war, verfolgte alles, was passierte, und als der Junge mit nassen Kleidern und nassen Haaren aufs Schiff geholt worden war, fragte ihn jemand: »Wohin wolltest du abhauen, Bruder?« Er antwortete: »Nach Europa.« Nach Europa, nach Europa. Das Schiff drehte sich nach Asien, die Teeverkäufer fanden ihre Kunden und sammelten das Kleingeld ein, der Mond schien auf die leeren Teegläser, doch plötzlich drehte das Schiff wieder zur europäischen Seite, weil es die Rettungsringe im Meer vergessen hatte, die Richtung Europa unterwegs waren. Nach Europa, nach Europa.
Es wurde in Istanbul auf beiden Seiten oft diskutiert. Sind wir Europäer? Wo fängt Europa an? Wieviel Europäer sind wir? Um echte Europäer zu werden, müssen wir noch zweihundert Bäckereien leer essen. Wir schaffen es nicht, zu Europa zu gehören. Wo stehen wir, wo steht Europa?
Europäische Autos machten keine Unfälle. Europäische Hunde hatten alle in den europäischen Hundeschulen studiert, europäische Frauen waren echte Blondinen.
In meiner Jugend war ich in Istanbul in der 1968er-Bewegung und fuhr zwischen der asiatischen und der europäischen Seite von Istanbul auf den Schiffen mit Büchern in meiner Hand, darunter Kafka, Büchner, Hölderlin, Böll, Joyce, Conrad, Borchert, und draußen stieg durch den Südwestwind wie in meiner Kindheit, vom Schiffsfenster aus gesehen, das Ufer auf der europäischen Seite hoch und stürzte herab, mit seinen Häusern, den byzantinischen Mauern, den orthodoxen und armenischen Kirchen, dem Genueser Turm und den osmanischen Palästen und Moscheen. Es regnete und schlug an das Schiffsfenster, und ich las gerade Woyzeck von Büchner und sah im Blitzlicht vor mir einen türkischen Mann, der Woyzeck hätte sein können. Als Kind waren meine ersten europäischen Gäste die Toten: Madame Bovary, Robinson Crusoe, Isadora Duncan, Molière. Als junge Frau in der 1968er-Bewegung in Istanbul hielt ich auf den Schiffen zwischen Asien und Europa wieder die europäischen Toten als Bücher in meinen Händen und in meinem Herzen, und der Mond über Istanbul schien in den Nächten auf diese Bücher und beleuchtete sie. Als ich später nach Berlin emigrierte, um in Berlin am Theater zu arbeiten, kam ich mir nie so vor, als sei ich nach Europa emigriert: Wir spielten am Bochumer Schauspielhaus Woyzeck von Büchner. Ich sah Woyzeck auf dem Theater, nicht mehr auf den deutschen Straßen. Aber Woyzeck existierte auf den türkischen Straßen. Dort sah man Männer, die einen wie Büchners Figur Woyzeck berührten. Ich war in Europa bei meinen toten Freunden. Sie hatten mich hier nicht allein gelassen. Prinz von Homburg, Woyzeck, Hamlet, Heinrich Bölls Und sagte kein einziges Wort, Wolfgang Borcherts Draußen vor der Tür, Brecht, Kafka, die sind an Europas Himmel neben dem Mond und berühren die Menschen, auch wenn sie weit weg sind. Die Toten haben den europäischen Himmel geschaffen.