Wenn wir ihn auf seinen etymologischen Grundgehalt zurückführen, bedeutet der Begriff des »Ästhetischen« sinnliche Wahrnehmung des Denkens. Wir verlassen die reine Abstraktion.
Dasselbe gilt für das Wort »dogmatisch«. Wir verwenden es, um eine Wahrheit zu bezeichnen, die durch ihre Inszenierung beglaubigt wird: eine Wahrheit des Spiegels oder des Emblems, eine legale Wahrheit, die als solche geschätzt und in Ehren gehalten wird, das Gegenteil einer wissenschaftlichen Beweisführung.
Davon gehen wir also aus, wir beginnen an jenem Punkt, den der Maler Magritte als »Mysterium« bezeichnete – bei der Monstration, diesem Absolutismus der Macht des Zeigens, die fest mit dem Ästhetischen verbunden ist, bei der Kunst zu wissen, wie bestimmte Werkzeuge verwendet werden müssen, um den Menschen – den Menschen allein – zu berühren, bis hin zum empfindlichen Punkt des Unsagbaren, und damit nicht nur den Körper und das Bewusstsein zu erreichen, sondern das Unbewusste, den inneren Schauplatz des sprachbegabten Wesens.
Das, worum es unter dem hier vorgestellten, denkbar allgemeinen Motto geht – das Gesetz und seine visuellen Folgen –, fällt nur anekdotisch in den Bereich soziologischer oder politischer Erklärungen, denn die ästhetische Botschaft, ihre dogmatische Fähigkeit, den wunden Punkt zu treffen, lässt sich nicht durch die gewöhnlichen Beobachtungsmethoden erklären. Aus der Sicht der unsichtbaren Architektur, die auf sozialer Ebene dafür sorgt, dass sich die intime und die extime Dimension des Menschen treffen, ist das Konzept der Erklärung selbst – so wie das Abendland es frenetisch umsetzt – ohne Gültigkeit. Dort, wo es um die sinnliche Wahrnehmung des Denkens geht, sind wir selbst Teil des Untersuchungsobjektes. Indem wir in seine versteckten Winkel vordringen, folgen wir den Spuren der Künstler, die Spiegel und Embleme schaffen und mit ihren besonderen Werkzeugen den uralten und universellen Weg der Menschheit bahnen, wo immer diese Menschheit geografisch verwurzelt sein mag: Es geht darum, die Legitimität der Existenz in Szene zu setzen, zu zeigen, was für den Menschen auf seiner subjektiven Reise zwischen Geburt und Tod Gesetz ist, die Verbindung zwischen dem fantastischen inneren Universum – Träumen und Phantasmen – und jenem der Stofflichkeit der Dinge herzustellen, die jedes einzelne Individuum bewohnen muss. Der dogmatische Wert des Ästhetischen bedeutet so ganz einfach, dass die Kunst in all ihren Formen die Gesetzeshoheit über das Leben besitzt. Noch nie wurde eine Gesellschaft regiert, noch nie hat sie gelebt und sich reproduziert ohne Gesänge und Musik, ohne Gedichte, ohne Choreografien und Riten, ohne die ästhetischen Schreibungen der menschlichen Einsamkeit, und sie wird es auch künftig nicht tun. Doch was hat in der Gattung Gesetzeskraft, wenn ein gesellschaftliches System, sei es nun despotisch oder liberal, antik oder modern, an diesen Formen nicht vorbeikommt? Was als Gesetz wirkt, ist ein Gefühl des Schwindels [vertige], die Konfrontation mit dem Abgrund. Eine solche Behauptung bleibt unverständlich, wenn wir nicht die Schwingung, das Zittern der Dinge in uns erkennen – eine Pendelbewegung zwischen Selbst und Welt –, wenn wir nicht von innen her die Distanz erleben, die das Schreiben ermöglicht. Der Mensch schreibt, er allein, und zwar nicht nur mit Schriftzeichen, Lettern, sondern durch flüchtige Graphismen, etwa in der primären Form des Tanzes. Ist also jedes System menschlicher Organisation durch die Schrift getragen? Natürlich, eine Gesellschaft ist eine Organisation aus Schrift. Entsprechend ist das soziale Material, der Rohstoff, also der Mensch selbst – Sie und ich – eine lebendige Schrift. In diesem Moment beginnt der Intellektualismus, der Sinn der objektiven Rationalität, die den Bewohnern des Abendlandes so teuer ist, zu schwanken. Das ästhetische Handeln verwandelt sich in eine Poiesis: existieren lassen [faire être] oder, wie über das Werk Ferdinand Chevals gesagt wird, das Nichts bezwingen, also die Leere zähmen, aus diesem leeren Ort eine Bühne erstehen lassen. Diesen Schauplatz, aus dem alle anderen Schauplätze hervorgehen, entdecken wir, wenn wir den Umweg über einen Satz von James Joyce nehmen: »He lived at a little distance from his body«. Die Verwerfung, in die sich unsere Bilder stürzen, die imaginale Spalte, welche die ästhetische Schreibung erst ermöglicht, liegt genau hier: in diesem »bisschen Distanz« zwischen Körper und Selbst, die den Blick auf die Unendlichkeit der Repräsentation öffnet. Wir anderen Bewohner des Abendlandes, die zum Rationalismus der christlich-industriellen Kultur verleitet werden, haben Mühe, den Menschen als Trilogie aus Körper, Bild und Wort und damit als Montage zu denken: Das aufrechte Tier, der beseelte Körper der Tradition, ist der Schauplatz der Trennung, er ist die primäre Bühne. Es gibt also nicht die Welt der Dinge und uns, sondern wir haben es mit einer generalisierten Theatralisierung des Menschen und der Welt zu tun, aus der wir folgern, dass die Gesellschaften existieren. In dieser Perspektive ist die Ästhetik, weil sie aus der Logik der Bühne hervorgeht, die Grundlage menschlicher Kommunikation.
Die ästhetischen Produktionen erinnern uns unablässig daran, dass wir in einer konstruierten Welt leben. Es gibt für den Menschen eine Präsenzstruktur – eine Struktur im architektonischen Sinne: Ein Gebäude muss aufrecht stehen können und den Anschein erwecken, dass es dies tut. Diese Struktur ist eine gattungsspezifische Art, der Welt anzugehören, indem wir sie auf Distanz halten, aber zugleich mit ihr verschlungen sind, und zwar aufgrund der Erfordernisse und trickreichen Manöver des Sprechens. Die menschliche Montage ist in gewisser Weise magisch, unvorstellbar, denn für das sprechende Tier ist die Welt wie das Monument einer anderen Welt, das Monument seiner inneren Welt, der Effekt eines gedanklichen Universums, in dem es sich sieht. Und so können wir sagen, dass ohne die Theatralisierung, welche die Welt als Erscheinung aufrecht hält – ohne die Inszenierung durch die Sprache – die Welt für den Menschen nicht existiert und dass folglich das Ästhetische den Schutzwall darstellt, den wichtigsten Träger jedes Denksystems, weil es die Konstruktion der Gegenüberstellung mit der Welt ermöglicht. Woher wissen wir, dass es sich so verhält? Durch die Erfahrung dessen, was für den Menschen »sehen« heißt: die Welt als lebendiges Bild sehen, also als Repräsentation, als Vorführung auf dieser Bühne, von der ich getrennt bin und die mir dennoch gehört. Die Welt bewohnen bedeutet ein Bild zu bewohnen, in dem ich mich wiedererkenne. Die klassische europäische Kultur betrachtete die Welt, die sie als Natur bezeichnete, wie ein Buch, das Ergebnis einer Schrift, die es zu entziffern gilt. Die heutigen Wissenschaften, die sich mit physisch-chemischen Kodes und Botschaften befassen, stützen sich auf dieselbe Metapher. Lassen Sie uns diese Spur zurückverfolgen. Wenn der Schriftsetzer von einst (vor der Erfindung des Computers) seine Arbeit verrichtete, so nahm er die Holz- oder Bleilettern, eine nach der anderen, er fabrizierte die Wörter und Zeilen, bis ein Text entstand, der fest von einem Rahmen umschlossen war. Dieser gerahmte Text wurde bezeichnenderweise »planche«, also Druckplatte, genannt und sollte in so und so vielen Exemplaren auf Papier vervielfältigt werden, das die gedruckten Zeichen durch einen Spiegeleffekt aufnahm. Wir wollen diesen Vorgang genauer betrachten: Das erwünschte Resultat verlangte, dass der »Typograf«, der Komponist der Schriftzeichen, die Worte gegen die Leserichtung (von links nach rechts, wie es die lateinische Lektüre verlangte) angeordnet hatte, damit das bedruckte Blatt den Text als normal, gemäß der Norm, zu lesendes Schriftstück präsentierte. So wie beim Blick in den Spiegel meine Linke zur Rechten wird und umgekehrt, wirkt der Typograf wie ein Spiegel und die Druckerpresse funktioniert als Instrument einer »Reflexion«. Die gedruckte Seite zu lesen, bedeutet, eine Bildmontage zu lesen, so als ob der Text den Platz eines Bildes besetzte, genauer: den Ort des anderen, der ich in einem Spiegel bin.
Die reglose Konfrontation der Lettern und des Papiers in der Druckkunst lehrt uns am Ende des technischen Vorgangs, aus dem der dem Leser präsentierte Text hervorgeht, das grundlegende Als-ob, von dem ausgehend wir die Welt konstruieren, um sie zu sehen. Alle Formen von Kunst stellen den obligaten Übergang dar, der es ermöglicht, sich der (wie die Surrealisten es nannten) »monströsen Wirklichkeit« zu nähern: Es führt kein Weg an der zirkulären Bewegung vorbei, die die Reflexion beschreibt und die den Menschen leben lässt, denn der Mensch ist fest mit dem inneren Schauplatz verbunden, mit der subjektiven Bühne, die nicht Materialität ist, sondern dieselbe versiegelt und in Schach hält. Die Theatralisierung des Menschen und der Welt durch die großen Mittel des Ästhetischen folgt einer strengen Logik, jener dogmatischen Logik, die über den gewöhnlichen Weg der Wissenschaften unzugänglich bleibt, weil sie mit der Berücksichtigung einer anderen Wahrheit zu tun hat – der alarmierenden Wahrheit der Spiegel. Was aber ist alarmierend (das Wort stammt von Borges) im Spiel der Worte, der Bilder und der Körper, so wie es uns die Kunst spiegelgleich bietet? Diese Frage stellt sich uns als rationale Bewohner des Abendlandes und Positivisten, sobald die Materialität des physischen Objekts überschritten und auf den inneren Schauplatz gelenkt wird, dorthin, wo der Mensch dem anderen seines Selbst von Angesicht zu Angesicht begegnet, wo er nach und nach alles trifft, was anders ist, bis hin zum fernen Universum. Das sprechende Tier will, dass sich die Welt mit seinem Bild fülle, es sieht sich selbst als Spiegel von allem. Und auf diesem schwankenden Grund der unsagbaren Liebe der Bilder beginnt sich unsere moderne Vernunft zu beunruhigen, denn die Realität löst sich gewissermaßen auf, bevor sie gelebt wird. Sie wird a priori – das heißt ästhetisch auf der Ebene der sozialen Textur – angepasst, so dass jedes einzelne Subjekt, jeder von uns, sich in dem, was wir als Kultur bezeichnen, wiederfindet, sich also in diesem unsichtbaren Spiegel, der allen dargeboten wird, erkennt. Die spiegelhafte Anordnung der Welt beherrscht das Leben der Kulturen und diese Funktion ist vor allem eine Sache der Ästhetik, ohne die in unseren Tagen weder die Wissenschaft noch die Technologie oder irgendein wundersames Objekt der industriellen Rationalität denkbar wären, weil wir sie nicht subjektiv bewohnen könnten.
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Die Wahrheit des Spiegels steht nicht zur Diskussion. Deshalb macht die unumstößliche Autorität der Präsenz, welche der Spiegel einrichtet, deutlich, dass der Bezug zu den Bildern intrinsisch normativ ist. Und man kann sagen, dass die ästhetische Wahrheit durch die unerschütterliche Logik der Plätze in der dogmatischen Konfrontation auf theatralische Art, in einer szenischen Affirmation, »auftritt«. In dieser Perspektive verweist der traditionelle Begriff des »Schönen« auf eine ursprüngliche Unbeweglichkeit, auf die Aufforderung des formgebenden Spiegels und auf das, was dem Blick des Geistes in apodiktischer Form zu sehen gegeben wird – in einer Art und Weise also, die de iure und nicht nur de facto evident ist. Um die Evidenz jeder ästhetischen Produktion zu begreifen, müssen wir die Kunst als Kunst des Erscheinenlassens durch den Künstler betrachten, ein Erschaffen von Erscheinungen wie im Traum, wo das Unbewusste der Künstler ist, das formgebende Prinzip für den Träumenden, der im Schauen mit seinen Bildern identifiziert wird. So wie die Kunst sie konstruiert, ist die Bewegung selbst eine Architektur aus Sequenzen, die strukturiert sind, als ob die Zeit zu einem weichen, reversiblen und beherrschbaren Stoff werden könnte. Von diesem Umgang mit der Evidenz kann man sich im Kino durch das Standbild überzeugen oder im Tanz durch die Momentaufnahmen, durch welche die Fotografie die fliegenden Körper in der Luft erstarren lässt: Wie der Traum ist auch die Kunst souveräne Herrschaft über die Zeit. Bis zu diesem Punkt erscheint der Mensch als Wesen, das die Zeit in einem simultanen Doppelleben erfährt: Die Zeit vergeht im Bewusstsein der Gegenwart, des Vorher und Nachher, aber sie erstarrt auch in einem Jenseits der Zeit, in der Verbindung zum Unbewussten, wie im Traum. In abstrakter Form verstehen wir das, aber unsere fragmentierte Art, das Leben der Bilder zu denken, die Angst, die ästhetische Bedingtheit jenseits der ausgetretenen Pfade zu betrachten, lässt es nicht zu, den anthropologischen Ursprung der Kunst zu begreifen: den universellen Charakter der ästhetischen Normativität als Bedingung der Annäherung an die Welt, verbunden mit der mythologischen (oder, falls Sie vor diesem Wort zurückschrecken, poetischen) Macht in der Kultur. Durch diese Erinnerung an den spezifisch menschlichen Status des Sehens nehmen wir die grundlegenden Gegebenheiten zur Kenntnis, die mit der Welt als Bilduniversum zusammenhängen. Zugleich beginnt eine neue Untersuchung des Bezugs zwischen dem Ästhetischen und dem, was in der Zurschaustellung der Gesellschaften Gesetzeskraft besitzt.
1. Sehen bedeutet für das menschliche Subjekt, sich in eine Inszenierung einzuschreiben, es mit der sozialen Theatralisierung der Welt zu tun zu haben, mit der Fabrik der Bilder, um die Welt zu bewohnen. Die Moderne nach abendländischem Muster gelangt zu sich selbst und setzt sich durch, indem sie Inszenierungen organisiert, die logisch mit jenen Montagen vergleichbar sind, dank derer die sogenannte primitive Menschheit in die gegenseitige Zugehörigkeit mit der Welt eintrat. Das wilde Denken als ästhetisches Unterfangen hallt vom selben zivilisatorischen Imperativ wider, nutzt dieselben dogmatischen Wege wie das Denken jenes Zeitalters, in dem das Konglomerat aus Technik-Wissenschaft-Wirtschaft herrscht: Es geht darum, sich ein Universum an Repräsentationen anzueignen, die Welt als Spiegeleffekt zu konstruieren und diese Schrift zu lesen. Die verblüffte Ethnologie hat Konstruktionsverfahren entdeckt, die Europa nicht kennen will oder die dort verschwunden sind, totemische Tricks, rituelle Choreografien, Wahrsagerei, den unermesslichen Reigen, der die Welt als monumentalen Text hält und die physische Materialität kodifiziert, in die sich auch der Mensch als lebendige und sich unablässig fortschreibende Botschaft einreiht. Wir, die Bewohner der Ultramoderne, sind derselben Notwendigkeit unterworfen: Wir müssen auf die Bühne treten, um die industriellen Schriften zu entziffern, die die Verschlingung von Mensch und Welt gewährleisten.
2. Sehen bedeutet für das menschliche Subjekt, zu identifizieren und sich zu identifizieren, und zwar in einer Theatralisierung der Welt, die durch die Kunst des Zivilisierens möglich wird. Die ästhetische Ausgestaltung beginnt hier, bei der Handhabung, Manipulation und Bearbeitung des Spiegelspiels. Seine Bestandteile sind bekannt – der Mensch, sein Bild und der Abstand, der beide trennt. Ihre Wurzeln liegen in jenem wahnhaften innersten Kern, von dem der Traum zeugt und der uns auch auf die großen magischen Manöver der Menschheit verweist, die dafür sorgen, dass die der Identität innewohnende Alterität erträglich und bewohnbar wird. Die Chinesen, aber auch die Kabbalisten im Abendland, haben die Schriftzeichen und Lettern als lebendige Wesen behandelt, der Islam ging davon aus, dass der Originaltext des Koran (die »Mutter des Buches«) im Himmel verwahrt wird, die ultramoderne Industriekultur fabriziert ihrerseits und mit ihren rationalen Mitteln die poetische Konfrontation mit der Welt: den natürlichen Raum durch Architektur neu erschaffen, um daraus etwas völlig Anderes zu machen, eine von Formen bevölkerte Bühne, indem Dingen ein Körper verliehen wird, die unbekannt sind, aber uns ähneln. Und so praktizieren auch wir, ohne es uns anmerken zu lassen, die rituelle Entfremdung in den theatralen Gedenkstunden. Kann man weiter gehen, als Shakespeare – ein Dramaturg, der in unserer Zivilisationskunst noch immer wirksam ist – es durch unerhörte Personifizierungen von Dingen und Tieren tat, die in Schauspielern einen Körper erhielten (»Spinnweb«, »Wand«, »Löwe« im Sommernachtstraum)? Doch was bringt es (um die Worte dieses Dichters aufzunehmen), »dem Nichts aus Luft auf Erden einen Wohnsitz, einen Namen« zu geben? Letztlich stellt sich also die Frage: Wozu dient die Kunst? Das Wort »Verfremdung«, das Brecht in Mode gebracht hat, zeigt sehr genau, in welches Unterfangen die Ästhetik eingespannt ist: Es geht darum, ein inneres Universum zu zähmen, ein Chaos, das vom Prinzip des Nicht-Widerspruchs, welches zum Eintritt des sprechenden Wesens in die Realität notwendig ist, nichts weiß. Der Dienst der Kunst besteht darin, dieses Chaos ans Licht zu bringen, um aus der Welt die Bühne der Objekte zu machen, die mit dem subjektiven Schauplatz verbunden ist, und es dem Menschen zu ermöglichen, die Dinge zu identifizieren, indem er sich selbst mit den Worten identifiziert. Die ästhetische Funktion ist eine Vermittlung mit dem Ziel, die Herrschaft der Zeichen und die Weitergabe der Zeichenkonstruktionen zu begründen, die das Wesen der Kommunikation ausmachen.
Das ästhetische Objekt ist ein Präsenzmodus, der die Erklärungswut konterkariert, indem er den unerreichbaren Horizont aufrechterhält. Berechnung und exaktes Wissen machen die Kunst möglich, doch ihre Logik gehört einer anderen Ordnung an. Der Maler Josef Albers hat sie sehr treffend definiert: »In science one plus one is always two, in art it can also be three or more«. Was hier Gesetzeskraft besitzt, setzt das in Gang, was den Menschen einzigartig macht: den Bezug, den er zu den Bildern konstruieren muss, um zu existieren und auf diese Weise die Welt zu bewohnen. Die Autorität der Kunst liegt in der Frage ihrer Macht, genauer: in der Natur einer solchen Macht, die zugleich rätselhaft ist und ins Extreme geht, sei es, um den Menschen zu unterwerfen, sei es um ihm zur Selbstüberwindung zu verhelfen. Welcher kulturelle Zustand jedoch auch betrachtet wird: Die ästhetische Macht ruht in allen historischen Fällen auf derselben logischen Grundlage: dem Erfordernis einer Vermittlungsfunktion zwischen dem (bewussten und unbewussten) inneren Schauplatz des Menschen und der Weltbühne; denn dies ist das Gesetz der menschlichen Existenz: Das Leben der rationalen Vernunft kann ohne ihre phantasmatischen Kulissen, ohne diese Dimension des subjektiven Fantastischen, dem Nährboden aller Künste, nicht sein. Die Konsequenz des universellen Imperativs, durch den wir auf die Fiktion zurückgreifen müssen, liegt darin, dass die ästhetische Vermittlungsfunktion sich überall und zu jeder Zeit derselben Montage bedient. Sie verwendet dieselbe ternäre Struktur, welche uns die durch die Instanz des Spiegels theatralisierte Gegenüberstellung offenbart hat. Wir wollen nun zur Anekdote des Schriftsetzers zurückkommen, der seinen Text für die Druckmaschine vorbereitet. Sie bietet uns den Schlüssel zur Macht der Kunst, die wir als Unterfangen des Zeigens betrachten. Ob diese Macht nun im Dienste einer Tyrannei oder für die Freiheit steht, ob sie an diesem oder jenem Ort der Erde wirkt – der infame Beigeschmack oder sein Gegenteil berührt in keiner Weise den logischen Mechanismus, um den es geht. Wenn die Kunst (in all ihren Formen) Macht des Zeigens ist, dann hat die Vielfalt ihrer Techniken und Manifestationen ihre Quelle in einer einzigen Ursache, die sich auf das anthropologische Erfordernis des Erscheinens in den Gesellschaften beziehen lässt, also auf die Notwendigkeit, die natürliche Welt zu verlassen, um auf menschliche Weise erneut in sie einzutreten. Worin liegt der Unterschied zwischen dem Vorgehen des Schriftsetzers und jenem des Architekten, der die Landschaft Bilbaos durch ein übernatürliches Objekt, das Guggenheim-Museum, verwandelt, oder jenem des Designers, der das Centre Pompidou in Paris mit neuen Hinweiszeichen ausstattete und dazu einen Graphismus wählte, der wie ein System aus Glossen zu einem Manuskript funktioniert? Es gibt keinen, wenn wir die Schriftnatur des ästhetischen Vorgehens verstehen, das darin besteht, sich auf die andere Seite der Welt zu stellen, um sie fiktiv neu zu setzen, auf die andere Seite des Spiegels, der für den Menschen sein Bild darstellt. Es geht also darum, die Welt nach jenen Bedingungen darzubieten, die die Menschheit verlangt: indem sie geschrieben wird. Die Darstellung des Menschen und der Welt für den Menschen durch die Techniken der Kunst bringt nicht nur in der Welt Objekte hervor, die es zuvor nicht gab. Die ästhetische Produktion selbst ist nur die Serie sichtbarer (im Falle der Musik hörbarer) Effekte, deren jeweilige Entfaltung nach Stil und Inhalt dem geohistorischen Zufall unterliegt. Das Wesentliche für unsere Untersuchung ist hier die Umschreibung des verschobenen, dezentrierten Platzes der Realität, von dem ausgehend sich die ästhetische Macht des Zeigens vollzieht, und zwar nach einem Effizienzprinzip, das sich seit prähistorischen Zeiten nicht verändert hat. Es liegt etwas Monströses in der Ästhetik, etwas, das der Wirklichkeit, wie wir sie mit unseren tierischen Sinnen fassen können, nicht entspricht. In der künstlerischen Fiktion geht es darum, sich auf radikale Weise von der Natur zu trennen und sie durch eine diskursiv konstruierte Surrealität zu ersetzen. In jedem Fall wiederholt sich dieselbe Szene. Es macht keinen Unterschied, ob man Pferde, Büffel, den menschlichen Körper direkt auf der Felswand darstellt oder die himmlische Wölbung mit Ziegeln und Zement errichtet: Die Höhle von Lascaux und die Kuppel der Hagia Sophia schließen das Universum diskursiv ins Spiel der Repräsentation ein, so wie wir uns heute fotografischer oder kinematografischer Montagen bedienen, um die Materialität der industriellen Ära neu zu schreiben. Die Steigerung dieser Macht – die Tradition verglich sie mit jener der Götter und Demiurgen, welche die Welt durch Wunder gründen – ist die Monstrosität des Fantastischen, die der römische Grammatiker Festus so treffend beschrieb: »Monstra heißen Dinge, die das Maß der Natur überschreiten, wie eine Schlange mit Füßen, ein Vogel mit vier Flügeln, ein Mensch mit zwei Köpfen.« Wenn aber die Kunst diese Grenzen der Vernunft überwindet, wenn sie buchstäblich Wunder vollbringt, dann, weil sie an die Struktur der Gattung rührt, an die unsagbaren Quellen der menschlichen Existenz, die zugleich die unbeherrschbaren Ursprünge der sozialen und politischen Macht in jeder Kultur darstellen. Die Vorstellung von einer Souveränität der Kunst, die in Europa seit der Renaissance gehegt und gepflegt wird, ist heute von überraschender Aktualität. Als unabdingbare Stütze der weltweiten Herrschaft des Marktes verdankt das werbetechnische Design seinen Erfolg der Tatsache, dass es eben diese Logik nutzt.
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Der Künstler übt eine souveräne Macht aus, denn – so besagte eine Maxime aus der Praxis der Rechtsgelehrten, die Experten in Sachen Fiktion sind – »er macht wie Gott etwas aus nichts«. Wir müssen folglich verstehen, dass die Kreativität den Blick auf einen Abgrund eröffnet: Sie lässt etwas aufsteigen aus einem dynamischen Nichts, sie konstruiert die Begegnung mit dem, was nicht ist, mit der namenlosen Leere. Borges erklärt: »Hinter dem Wort steht das, was keinen Namen hat«. Wir können sagen: Was die Kunst entziffert, ist nicht die Welt, sondern das, was hinter dem Sichtbaren liegt, etwas Formloses, dem sie eine Form geben soll. Damit ist die Kunst ein metaphysischer Bluff, der für die Instituierung des Lebens, das unbegrenzte Spiel der Kommunikation, unabdingbar ist. Sie handhabt für den Menschen den Zufall und das Rätsel seiner Existenz, den Trost seines Daseins. Sie ist die vermittelnde Matrix, die Grundlage der vielfältigen Schirme, auf die der Mensch sein Bild und das Bild seiner Verschlingungen mit der Welt projiziert. Das Gegenstück dieser anderen Seite der Welt, dieses Jenseits des Sichtbaren, ist die theatralische Macht dessen, was sich als Schirm vor die Leere schiebt, das Erscheinen der Welt selbst, die für die menschliche Gattung eingeschrieben, das heißt durch die demiurgische Kunst von Schriftsetzern neu zusammengefügt werden muss. Die Metapher des Buchdrucks (oder des Designs) macht unmissverständlich klar, dass eine Kultur unter dem Einfluss der ästhetischen Macht und ihrer Absolutheit steht – mit grenzenlosen Folgen in der gesellschaftlichen Ordnung. Diese Ordnung erweist sich so als absolut abhängig vom Bilduniversum, in dem sich jene Beziehungen und Beziehungsnetze tummeln, die eine Gesellschaft und damit auch das Politische ausmachen. Eine solche Feststellung hat für uns ultramoderne Bewohner des Abendlandes, die den Menschen und die Welt auf dem Verkaufsstand des medialen Marketings betrachten, den Wert einer neuen Version der Scheinfabrik. Die uralte Frage gewinnt dadurch ein noch schärferes Relief: Inwiefern ist die ästhetische Macht die unbegrenzte Erschaffung der »Maschine, die uns sehen hilft« [machine à voir]?
1. Wir erleben die ästhetische Allmacht, ohne sie zu bemerken: Sie beruht auf dem Glauben an die Bilder. Immer wieder stoßen wir auf die unerhörte Dimension des Spiegeldogmas. Wer ein ästhetisches Werk erschafft, hat Teil an der gesellschaftlichen Manövrierung des Spiegels und damit an der Steuerung der Identität auf der kulturellen Bühne. Die Kunst ist ein Identifikationsangebot, keine theoretische Schlussfolgerung. Ausgehend von einer Bühne, die wie der Spiegel trennt, wendet sie sich an den Narziss in jedem einzelnen von uns, und zwar im Modus des Symbolischen. Das heißt: Wie die zweigeteilte antike Münze, die Symbole, welche es dem Gast und dem Gastgeber ermöglichten, einander zu erkennen, spielt die ästhetische Macht den Einsatz der Identität, indem sie die Zusammenkunft zweier Alteritäten arrangiert. Auf diese Weise wird für jeden von uns dieser ideale Vertrag von Gastlichkeit erfüllt, der aus dem Kunstwerk eine Fiktion seines Seins werden lässt, die andere Hälfte, ein Selbstbild.
Die Liebe des Bildes ist unwiderlegbar und die symbolische Effizienz der Kunst ohnegleichen, denn die Logik der Repräsentation beherrscht das Leben der Gesellschaften, indem sie den einzigen Hebel – zugleich Stärke und Schwäche des Menschen – bietet, der eine Macht denkbar und vor allen Dingen begehrenswert macht: die Einsätze der Identifizierung. Aus diesem Grund findet sich der ästhetische Imperativ zu jeder Zeit, er diente schon immer und auch weiterhin allen Anliegen, auf Gedeih und Verderb. Ohne die Steuerung mit Hilfe des Spiegels hätten es die jüngsten Tyranneien (Stalin, Hitler, Mao) nicht vermocht, die Massen mitzureißen.
Indem sie auf dasselbe universelle Register zielt, inszeniert die Religion der Werbung das Konglomerat aus Technik-Wissenschaft-Wirtschaft durch die kunstvolle Täuschung der Embleme, der in den Heldenrang erhobenen Sportler, der ritualisierten Marken und Worte.
2. Die künstlerische Norm und die Kunst des Zivilisierens. Es muss daran erinnert werden, dass der Begriff der »Norm«, der aus dem Lateinischen stammt, zunächst das Winkelmaß bezeichnet. Wir wollen es, über das Instrument des Architekten hinaus, in einem allgemeinen Sinn verstehen, der mit einschließt, was in den Bereich der theoretischen und technischen Rationalität in den verschiedenen Feldern des Ästhetischen fällt. Aber müssen wir sagen, dass die Kunst eine Art Ausrichtung der Gesellschaft im passenden Winkel darstellt? Nach den Revolutionen und Konterrevolutionen, die durch offizielle Künste gestützt wurden, werfen wir die geometrische Metapher über Bord, wir verabschieden die Idee, dass die Kulturen zum Zwecke einer stabilen Darstellung des Menschen und der Welt Stile, im wörtlichen Sinne verschiedene Schriftarten fabrizieren. Die rechtwinklige Ausrichtung ist die Einführung jener Regeln, die zwei Schauplätze in einem zusammenhalten. Es geht um die Artikulation der Verbindung zwischen dem Schauplatz der Realität, der auf der Grenze und dem Prinzip des Nicht-Widerspruchs ruht, und dem anderen Schauplatz, dem unbewussten, wo die Träume den Wunsch, dass »alles möglich« sei, erfüllen. Die ästhetische Vernunft kanalisiert die imaginären Quellen des Denkens, sie ist die andere Seite der Vernunft, sie gedenkt der phantasmatischen Wahrheit durch sozialisierte Übertragungen: das Universum in Narrationen einfangen, die reglose Bewegung im stillen Raum des Gemäldes einrichten, die Architektur in die Zeichnung der Gärten und die choreografischen Montagen eingliedern – mit einem Wort: die subjektive Schwingung der Gesellschaften ermöglichen, das heißt, die menschliche Kommunikation begründen.
3. Zufall, Rätsel, Geheimschrift. Müssen wir uns für das »Mysterium« des Künstlers interessieren? Die Anonymität der ästhetischen Produktionen, die in den weitaus meisten Kulturen der Vergangenheit die Regel war, relativiert die Kunstgeschichte und Kunstpsychologie zu einem Teil. Eine Frage ist uns jedoch wichtig: Was weiß der Künstler von dem, was er tut? Magritte, der von einem »Mysterium« sprach, malte das Bild La lunette d’approche (Das Fernrohr): ein halb geöffnetes Fenster, der sich öffnende Flügel trägt die Landschaft mit sich fort. Ein Schöpfer erprobt den Abgrund; sein praktisches Wissen steht im Dienste dieses Unterfangens. Wenn er, wie man sagt, »sich ausdrückt«, dann stimmt das nicht ganz: Es ist nicht wirklich er, der wache Mensch, sondern der andere in ihm, der Träumende, und dieser andere trägt uns mit sich fort, durch die Vermittlung des Gemäldes, der Zeichnung, des Werks. Wir müssen uns also für die Macht des Fährmanns, den Herrn der Zwischenwelt interessieren. Der Künstler lenkt seine Barke zwischen dem Anderswo, einem Ort, an dem »alles möglich ist«, und uns, den Blicken, die mit seinem Blick in eins fallen. Dieses unbewusste Anderswo bleibt ihm unergründlich wie uns, doch er gibt uns eine flüchtige Ahnung davon, eine Interpretation. Der Grund bleibt ein »Gemenge«, »unendliches Kauderwelsch«, so sagt Borges, als er über seinen Kompass im Leben spricht, der ihn und seine Gedichte trägt, »Zufall, Rätsel, Geheimschrift«. Die Kunst, so sehen wir, ist nicht planbar.
Aus dem Französischen von Sabine Hackbarth