Inkorporierte Kulturkonflikte

Interaktion der Kulturen im Körper des Terroristen am Beispiel von Christoph Peters’ Ein Zimmer im Haus des Krieges (2006)

Arata Takeda

Multiplex profecto, patres, in nobis discordia; gravia et intestina domi habemus et plus quam civilia bella.1

Giovanni Pico della Mirandola

Abstract

Since Marcel Mauss’s essay Les Techniques du corps (1935) at the latest the scientific way of looking at human body orientates itself more and more to culture-specific features of incorporated techniques. In the light of the transcultural state of today’s cultures (Wolfgang Welsch), it implies that a constant exchange as well as an endless conflict between techniques with different cultural codings is taking place every day within the body of the individual. Such process of cultural interaction in the household of the body is to be taken into account especially in connection with the phenomenon of homegrown terrorism: here, the body of the terrorist constitutes the place in which techniques of various cultural attributions are negotiated with and weighed up against one another in order to be mimetically admitted or rationally rejected. In analyzing Christoph Peters’s novel Ein Zimmer im Haus des Krieges (2006) as an example, the article shows the way how literature can contribute to making transparent the increasingly problematic ›cultural economy‹ of the body.

Terrorismus und Nachahmung

Am frühen Nachmittag des 2. März 2011 nähert sich der 21-jährige Deutsch-Kosovare Arid Uka, bewaffnet mit einer Pistole, 14 Schuss Munition und zwei Messern, einem vor »Terminal 2« des Frankfurter Flughafens parkenden US-Militärbus. Eine Gruppe von Soldaten der US-Luftwaffe ist im Begriff aufzubrechen. Uka fragt einen in der Nähe stehenden US-Soldaten nach einer Zigarette und erkundigt sich nach dem Reiseziel der Gruppe. Auf die Antwort hin, sie sei auf dem Weg nach Afghanistan, zieht Uka die Waffe und eröffnet das Feuer. Er schießt den US-Soldaten zweimal in den Kopf, besteigt daraufhin den Bus, tötet den Fahrer ebenfalls mit zwei Kopfschüssen und verletzt zwei weitere US-Soldaten schwer. Uka will weiter morden und ein wahres Blutbad anrichten, aber auf einmal klemmt die Pistole. Es bleibt ihm nichts anderes übrig, als die Waffe fallen zu lassen und in das Flughafengebäude zu fliehen, wo er kurze Zeit später von Beamten der Bundespolizei überwältigt und festgenommen wird.

Wie ist es zu dieser Bluttat gekommen? Die Ermittler machen sich rasch ans Werk. Man sichert die vom Täter hinterlassenen Internetspuren, Hinweise auf einen islamistischen Hintergrund verdichten sich, und man spekuliert über mögliche Verbindungen des Täters zu internationalen terroristischen Vereinigungen. Doch nach zwei Tagen intensiver Ermittlung inklusive Vernehmung des Täters steht fest: Hinter dem nur durch Zufall nicht zum vollen Erfolg gelangten Massaker steht allem Anschein nach keine organisierte Gruppe; Uka ist Einzeltäter. Er hat sich allein, ohne jegliche effektive Vernetzung mit irgendeiner Terrororganisation, durch das Surfen in islamistischen Internetforen radikalisiert, und ein Video-Beitrag auf YouTube über Plünderung und Misshandlung von Afghanen durch US-Soldaten hat ihm, nach eigenen Angaben, die Initialzündung für seine Tat gegeben (vgl. dpa 2011).

Die anfänglich unbeirrbare Fixierung der Ermittler auf eine bestehende Verbindung des Täters zu Terrornetzwerken und die ernüchternde Erkenntnis über das gänzliche Fehlen derselben gemahnen an die Aktualität jener These, die der französische Soziologe Gabriel Tarde Ende des 19. Jahrhunderts in seinem Hauptwerk Les Lois de l’imitation (1890) in Bezug auf die »kulturelle[ ] Ansteckung und Ausstrahlung« (Tarde 2009: 71) formulierte. Entgegen dem Vorurteil des gemeinen Historikers, der »nur dann vor der Beeinflussung einer Kultur durch eine andere aus[geht], wenn diese in einer Handelsbeziehung oder militärischen Auseinandersetzung miteinander stehen« (ebd.: 70), behauptet Tarde:

Unabhängig […] von den Erschütterungen der Kriege und dem Handel treffen Kulturen an ihren Grenzen aufeinander, und die Menschen, welche dort ihre Kulturen vertreten, haben die natürliche Neigung, sich nachzuahmen. Ausgehend von diesen Grenzen wirken sie über unbegrenzte Entfernungen hinweg beständig aufeinander, ohne sich jemals in die Richtung begeben zu müssen, in der ihr Vorbild Verbreitung findet. Das ist vergleichbar mit den Wassermolekülen des Meeres, die ihre Wellen weit vorausschicken, ohne sich in deren Richtung zu bewegen. (Ebd.: 71)

Damit entwarf Tarde, entgegen einer Art kultureller Strahlentheorie, eine Art kultureller Wellentheorie (vgl. ebd.: 70f.), die Homologien ebenso wie Analogien zwischen Kulturen die gebührende Aufmerksamkeit zukommen lässt (vgl. ebd.: 62f.). Der letzteren Art der Übereinstimmung liegt nicht das Prinzip des Zufalls, sondern das Prinzip der Nachahmung zugrunde: »Die Ähnlichkeit ist […] die Tochter der Nachahmung« (ebd.: 75).

Warum ist diese These aktuell? Zum einen, weil sie auf einen Faktor aufmerksam macht, der in der Terrorismusbekämpfung mehr denn je Beachtung verdient, und zum anderen, weil sie unter den veränderten liminalen wie auch medialen Bedingungen der Gegenwart noch stärker zum Tragen kommt. Letzteres bedeutet im Einzelnen: Die »grenzüberschreitende[n] Konturen« (Welsch 1994: 84; 1995: 39; vgl. auch 2010) der heutigen Kulturen, deren Verfasstheit Wolfgang Welsch unter dem Begriff »Transkulturalität« zusammenfasst, heben die liminale Bestimmung der kulturellen Schmelzpunkte auf – die Orte, von denen die Wirkung der Nachahmung ausgeht, erweitern sich von Grenzzonen auf unbestimmte Räume –, und das Internet setzt der Lokalisierbarkeit der kulturellen Nachahmung ein Ende. Nicht nur an Grenzen, nicht nur mittels realer Kanäle: Es wird global und in virtueller Vernetzung nachgeahmt.

Auf diese Umstände muss sich die Terrorismusbekämpfung von heute gefasst machen: Terroranschläge können, ohne verstandesmäßige Einwirkung durch terroristisches Gedankengut und ohne physikalische Verbindung zu terroristischen Netzwerken, durch Nachahmung zustande kommen. Natürlich gibt es zahlreiche Anschläge, bei denen die ersten beiden Elemente, bewusste Einwirkung und direkte Verbindung, eine wesentliche Rolle spielen; doch selbst in solchen Fällen darf das dritte Element, die Nachahmung, nicht außer Acht gelassen werden. Auch da gilt es, den Anteil von Nachgeahmtem zu ermessen und dessen Qualität zu ermitteln, um die bestehenden Konzepte für frühzeitige Erkennung potentieller Täter zu überdenken und die erfolgten Anschläge differenzierter und tief greifender auszuwerten.

Als hilfreich erweist sich dabei die Definition der Nachahmung von Émile Durkheim. In seiner Studie Le Suicide (1897) schreibt er im Kapitel über die Nachahmung als psychologischen Faktor Folgendes:

Es liegt Nachahmung vor, wenn einer Handlung unmittelbar die Vorstellung einer ähnlichen, von einem anderen vorher vollzogenen vorausgeht, ohne daß sich zwischen Vorstellung und Ausführung explizit oder implizit irgendein Denkvorgang einschaltet, der diese Handlung ihrem Wesen nach durchdringt. (Durkheim 1983: 132; Hervorh. im Orig.)

Das Fehlen eines handlungsgenerierenden Denkvorganges ist genau das, was die Ermittler bei Tätern von Terroranschlägen von vornherein auszuschließen scheinen. Es muss konkret an den Grund und den Sinn der Tat gedacht worden sein, bevor es zur Tat kommen kann. Also müssen ein grundsolider Kontext und eine sinngebende Struktur da sein. Diese Überzeugung diktiert die ersten Schritte der Ermittlung, und die sich daraus ergebenden Erkenntnisse verwandeln bisweilen, wie im Falle Uka, Überzeugung in Überraschung: Es war ein Terroranschlag, der weder intellektuell durchdacht noch systematisch vorbereitet wurde – eine Nachahmungstat also.

Es gibt heute eine wachsende Anzahl von literarischen Texten, die die erschütternden Ereignisse der 2000er Jahre – Terroranschläge in New York und Washington 2001, in Madrid 2004 und in London 2005 – direkt oder indirekt thematisch reflektieren. Nicht wenige von ihnen – wie etwa John Updikes Terrorist (2006), Christoph Peters’ Ein Zimmer im Haus des Krieges (2006) oder Sherko Fatahs Das dunkle Schiff (2008) – widmen sich den individuellen Lebensläufen von Terroristen, um deren Werdegänge in Einzelfällen mimetisch nachvollziehbar zu machen. Wenn wir den Fall Uka als Warnruf aus der Empirie ernst nehmen, so ist in Ansehung der Experimente in der Literatur zu fragen:

  1. Wie unterscheidet sich der investigative Blick der Literatur – wenn wir davon ausgehen, dass er sich unterscheidet – von dem der Ermittler und der Journalisten auf den Werdegang eines Terroristen?
  2. Inwieweit findet der Faktor der Nachahmung – sei es gewollt oder ungewollt – in der fiktionalen Innenschau eines Terroristen Anwendung?
  3. Was leistet – oder verfehlt – die Literatur bei ihrem Versuch, polizeilich schwer zu ermittelnde Vorgänge, die möglicherweise einigen Anteil von Nachgeahmtem in sich bergen, ihrerseits mimetisch – d.h. durch Nachahmung – darzustellen?

Der vorliegende Beitrag versucht, diese Fragen anhand von Peters’ Roman Ein Zimmer im Haus des Krieges, eines in dem Zusammenhang besonders geeigneten Beispiels, einleuchtend zu beantworten.

Übernommenes Wissen, nachahmendes Denken

»Weshalb faßt ein 30jähriger Mann aus Deutschland den Entschluß, sich einer ägyptischen Terrororganisation anzuschließen?« (Peters 2006: 95) – So fragt sich zu Beginn des zweiten Teils von Peters’ Roman Claus Cismar, der deutsche Botschafter in Ägypten. Er ist vom ägyptischen Innenministerium über die Festnahme eines deutschen Staatsangehörigen bei einem Anti-Terroreinsatz der ägyptischen Streitkräfte unterrichtet worden. Mutmaßliche Terroristen aus dem islamistischen Umfeld hätten versucht, einen Anschlag auf die Tempelanlage von Luxor, einen der Touristenhochburgen Ägyptens, zu verüben. Darunter habe sich der deutsche Konvertit Jochen Sawatzky befunden. Cismars Aufgabe in Vertretung der Interessen Deutschlands besteht darin, Sawatzkys Auslieferung nach Deutschland zu erwirken. Es ist eine Frage des diplomatischen Geschickes; Eifer für Wahrheitsfindung oder gar persönliche Anteilnahme wären hier fehl am Platze. Doch Cismar schlägt eben diesen Weg ein: Er will Sawatzky »verstehen« (ebd.: 181 u. 197).

Der Roman gliedert sich in zwei Teile. Der erste Teil handelt von dem vereitelten Anschlag; der gesamte Ablauf von Vorbereitung bis Verhaftung wird konsequent aus der Perspektive Sawatzkys in Ich-Form und im Präsens erzählt. Im zweiten Teil, der mehr als dreimal so lang wie der erste ist und Cismars Bemühen um Sawatzkys Auslieferung zum Gegenstand hat, wechselt die Perspektive. In Er-Form, aber weiterhin im Präsens, wird vorwiegend aus der Perspektive Cismars sein Dienstalltag beschrieben, sein Eheleben beleuchtet und seine Gespräche mit Sawatzky wiedergegeben. Hinzu kommen die an das Auswärtige Amt adressierten Geheimakten der deutschen Botschaft, die jeweils zum Zeitpunkt der Erstellung eingerückt werden und über den Fall und die diplomatischen Bemühungen um dessen Lösung berichten. Alle Akten – bis auf die letzte – stammen von Cismar. Die letzte Akte, mit der der Roman schließt, ist vom Geschäftsträger Dr. Konrad Friebe unterzeichnet und informiert über Sawatzkys Hinrichtung. Cismar musste zur Behandlung eines gefährlichen Magengeschwürs kurzfristig nach Deutschland geflogen werden, und die Verhandlungen des Falles hatte inzwischen sein Stellvertreter übernommen.

Der Zeitrahmen der Handlung liegt zwischen Mitte November und Ende Dezember 1993; die letzte Akte folgt zweieinhalb Monate später. Doch der 2006 erschienene Roman ist ein Produkt seines Jahrzehnts. Auch wenn Peters Eindrücke und Erlebnisse seiner Ägyptenreise von 1993 (vgl. Peters 2010) – also demselben Jahr wie dem der Romanhandlung – hie und da in angepasster Form verarbeitet, ergibt sich die Problematik des Geschehens in ihrer Brisanz erst aus der Konstellation der traumatischen Jahre im Gefolge von 9/11. Nach dem vereitelten Anschlag des zum Islam konvertierten Briten Richard Reid, des sogenannten Shoe Bomber (vgl. Laqueur 2003: 134), auf den American-Airlines-Flug 63 von Paris nach Miami am 22. Dezember 2001 – also nur 102 Tage nach 9/11 – war auch die potentielle Gefahr, die von radikalen westlichen Konvertiten ausging, nicht mehr zu unterschätzen.

Ein in dieser Hinsicht einschneidendes Ereignis in Deutschland stellt die Verhaftung von drei Mitgliedern der sogenannten Sauerland-Gruppe am 4. September 2007 dar. Sie hatten militärische Ausbildungslager der Islamischen Jihad Union in Pakistan besucht und planten Sprengstoffanschläge u.a. auf den Frankfurter Flughafen und die Ramstein Air Base der US-Luftwaffe. Zwei von ihnen, Fritz Gelowicz und Daniel Schneider, waren konvertierte Deutsche ohne Migrationshintergrund – im Unterschied zu dem Shoe Bomber, der immerhin Sohn einer Engländerin und eines Halbjamaikaners war, und im Gegensatz zu den Attentätern von London, die – bis auf einen – alle gebürtige Briten pakistanischer Herkunft waren.

Doch als im Zuge des medialen Wirbels um die Sauerland-Gruppe Termini wie Homegrown Terrorism und Homegrown Terrorists, die seit den Anschlägen von London international an Substanz gewannen, auch im öffentlichen Bewusstsein in Deutschland Fuß fassen (vgl. Biermann 2009), ist Peters’ Roman bereits seit mehr als einem Jahr auf dem deutschen Buchmarkt. Und man wundert sich: Der Roman über einen deutschen Konvertiten, der sich »Abdallah«, d.h. Diener Gottes, nennt (vgl. Peters 2006: 14) – genauso wie Gelowicz von der Sauerland-Gruppe sich »Abdullah« nannte –, und zusammen mit seinen Kameraden über die Möglichkeiten diskutiert, Anschläge u.a. auf den Frankfurter Flughafen und die Rhein-Main Air Base der US-Luftwaffe durchzuführen (vgl. ebd.: 182f., 196 u. 236) – eine ominöse Parallele mit der Sauerland-Gruppe –, eilte der Realität nachgerade prophetisch voraus. Bei aller raumzeitlichen Deckungsungleichheit reflektiert die Handlung des Romans in Ägypten 1993 mit erstaunlicher Präzision das, was sich im Deutschland der unmittelbaren Gegenwart im Untergrund abspielt.2

Die Fragen, die sich dabei stellen, wie auch die Antworten, die man darauf gibt, können bezeichnender nicht sein. Cismar fragt nach Motiven und Ursachen für Sawatzkys »Entschluß, sich einer ägyptischen Terrororganisation anzuschließen« (ebd.: 95); d.h. er sieht darin von vornherein einen klaren Denkvorgang als gegeben an. Der Faktor der Nachahmung im Sinne Durkheims scheidet hiermit aus. Und noch bevor er Sawatzky in Person begegnet, hat er bereits, aufgrund seines standardisierten Weltwissens, ziemlich konkrete – sprich: stereotype – Vorstellungen eines ›hausgemachten Terroristen‹:

Cismar geht davon aus, daß Sawatzky eine charakterschwache Persönlichkeit ist, leicht verführbar, daß er bei seiner Festnahme geschossen, wahrscheinlich Soldaten und Polizisten getötet hat, daß er die Absicht hatte, Zivilisten umzubringen. Vorher die üblichen Geschichten wie bei allen ideologisch motivierten Tätern: unglückliche Kindheit, verkorkste Jugend, Kleinkriminalität. Die Bereitschaft, jedem Bauernfänger zu folgen, solange er einem das Gefühl gibt, Bedeutung zu haben. Danach Ausbildung in einem versteckten Camp. Schießübungen, Nahkampftraining, Sprengstoffschulung. Ein charismatischer Führer schwört ihn ein. Als Neuling leistet er zunächst Hilfsdienste, sondiert Anschlagsziele, fungiert als Kurier. Wenn er sich dabei bewährt, wird er für seinen ersten Kampfeinsatz ausgewählt. Möglich, daß es auch sein letzter ist, das weiß er. Die Wandlung vom Außenseiter zum Fanatiker ähnelt sich, ganz gleich, ob einer gegen den Kapitalismus, den Kommunismus, für den Sieg des protestantischen, katholischen, islamischen oder jüdischen Gottes Bomben legt. (Ebd.: 100f.)

Cismar beantwortet auf bildhafte Weise seine brennende Frage selbst: Die Ursachen für Sawatzkys Radikalisierung lägen in dessen Persönlichkeit, Kindheit und Jugend, früher Straffälligkeit und Indoktrination. Dieses pauschale Vorausurteil impliziert vor allem eines: Cismar ist ein Nachahmer. Sein forschendes Auge richtet sich nicht auf das Individuum Sawatzky, das er zu diesem Zeitpunkt noch nicht kennt, sondern bleibt an dem vorgefertigten Bild eines ›hausgemachten Terroristen‹ haften, das in aller Plastizität schon da ist. Dieses Bild beruht weniger auf durchdachtem als vielmehr auf übernommenem Wissen – einem Wissen, das weniger auf Nachvollzogenes als vielmehr auf Nachgeahmtes zurückgeht. Darauf stützen sich sodann die weiteren Überlegungen, die Cismar mit Blick auf sein taktisches Vorgehen gegen Sawatzky anstellt. Auch die folgende Passage steht noch vor Cismars Begegnung mit Sawatzky:

Er [Cismar] redet sich ein, daß Sawatzkys Gedankenkonstrukte binnen Minuten zusammenstürzen. Überzeugungen, die durch Indoktrination entstanden sind, zerbrechen unter Druck. Andererseits: Als Islamist hat er nichts zu verlieren außer seinem Glauben, daß er im Auftrag Gottes handelt. Wenn man ihm den nimmt, vernichtet es ihn. Was, wenn er ihn sich nicht nehmen läßt? »Gott ist größer« schallt es unzählige Male am Tag von den Minaretten. Kein Satz ohne: »Gepriesen sei Gott«, »Dank sei Gott«, »Mit Gottes Hilfe«, »So Gott will«. (Ebd.: 103)

Diese an keiner Stelle zwingende Verkettung von Gedanken zeugt einmal mehr von einem nur begrenzt autonomen Denkvorgang: Nicht Nachvollzogenes, sondern Nachgeahmtes gibt Cismars Denkrichtung vor; kein tief gehendes, sondern ein nachahmendes Verstehen bestimmt seinen Gedankengang.

Der Riss im Körper

Im Fortgang des Romans wird zunächst deutlich, dass Cismar ein chronischer Nachahmer seines Vaters ist. Merksprüche seines Vaters wie »Das Leben ist kein Wunschkonzert« oder »Kopf hoch, wenn der Hals auch dreckig ist« hallen in passenden Situationen in seinem Kopf wider (vgl. ebd.: 116, 124 u. 282), und seine Vorhaltungen gegenüber Sawatzky werden von einer aus der Erinnerung wiederkehrenden Stimme seines Vaters überlagert (vgl. ebd.: 194). Bei näherem Hinsehen reicht Cismars inneres Gehör für solche Stimmen, die sein Denken und Handeln mit normativer Wirkung begleiten, weit über den Rahmen der ambivalenten und angstbesetzten Vater-Sohn-Beziehung (vgl. ebd.: 110–112 u. 295) hinaus. Bei seinem ersten Gesprächstermin mit Sawatzky im Al-Hurriya-Gefängnis z.B. stellt Cismar sich ihm vor: »Guten Morgen, Herr Sawatzky. Cismar mein Name. Ich bin Ihr Botschafter«, und muss sich von Sawatzky die despektierliche Rückfrage gefallen lassen: »Meiner?« (Ebd.: 129) Zwei Tage später trifft er sich zum ›Stelldichein‹ mit Françoise Detrieux, der französischen Kulturattachée in Kairo, zu der er seit längerer Zeit eine mehr als nur kollegiale Beziehung pflegt. Françoise, die mittlerweile in den Fall eingeweiht ist, fragt ihn: »Was macht dein Terrorist?« Cismar entgegnet ihr mit einer Gegenfrage, indem er Sawatzky nachahmt: »Meiner?« (Ebd.: 166)

Cismar sieht Françoise als seine »Seelenverwandte« an; »sie [sind] sich […] zu ähnlich, auf einer tieferen Ebene, die man von außen kaum wahrnimmt« (ebd.: 270). Dem Wortwechsel kommt dadurch der Charakter eines erweiterten Selbstgespräches zu. Françoises prompte Antwort: »Wessen sonst?« (ebd.: 166), die ihrerseits als rhetorische Frage jedwede Gegenfrage überflüssig macht, bringt insofern zugleich das zur Sprache, was zwei Tage früher gegenüber Sawatzky unausgesprochen geblieben ist.

Cismar ist Sawatzkys Botschafter, und Sawatzky ist Cismars Terrorist. Ein Prozess mimetischer Aneignung von Sawatzkys Worten und Taten bahnt sich in Cismar an, seitdem er mit dem Fall Sawatzky befasst ist. Ines, Cismars Ehefrau,

begreift nicht, weshalb Sawatzky ihn nicht losläßt, weit über Dienstzeit und Amtspflicht hinaus. Warum er sich seine Phrasen anhört, statt zu schreien? Warum er mit dem Großscheikh reden muß, warum er seit neuestem trotz allen Widerwillens im Koran liest? Er hat ihr nichts von seinem Versuch erzählt, den Wortlaut des »Vaterunser« zu rekonstruieren. Nicht, weil er hätte beten wollen. Es war eher der Versuch, die Erinnerung an ein religiöses Gefühl zu finden. Daneben steigt wieder hoch, was damals, mit siebzehn, folgte, vor den Eltern verheimlicht: »Macht kaputt, was euch kaputtmacht.« Seit Tagen schwirrt der Satz durch seinen Kopf wie ein alter Schlager. (Ebd.: 153f.)

In Cismars Innerem amalgamieren sich die eigene Vergangenheit und Sawatzkys Gegenwart, die Parolen der 1968er-Bewegung finden ihren strukturellen Widerhall in Sawatzkys jihadistischen Phrasen (vgl. ebd.: 132), und die Nachahmung setzt sich als Nachahmung der Nachahmung fort.

Sawatzky macht sich die arabische Formel »Insha Allah« (»So Gott will«) zu eigen, die innerhalb wie außerhalb seines Milieus in aller Munde ist (vgl. ebd.: 103), und hängt sie während des Gespräches mit Cismar ostentativ an Sätze mit jihadistischen Wunschbildern an (vgl. ebd.: 132, 136 u. 251). Cismar versteht sich als »Skeptiker mit religiösen Wurzeln« (ebd.: 104); die Auseinandersetzung mit der Religion hat er längst abgeschlossen. Doch die Nachahmung ist mächtiger als das Denken, und nach Durkheims Definition verdient sie ihren Namen erst dann, wenn sie bei deaktivierter Denkfähigkeit oder jenseits von deren Reichweite vonstatten geht. Als Cismar und Françoise sich Anfang Dezember auf einem Restaurantschiff am Nilufer erneut ein Rendezvous geben, will Cismar von dem Kellner, der ausländische Gäste mit Arabischkenntnissen gerne in ein längeres Gespräch verwickelt, nicht gestört werden. Cismar tut beim Bestellen so, als könne er kein Arabisch, und bittet Françoise, es ihm gleichzutun. Der Text teilt uns darauf mit:

Der Kellner sieht, daß sie gewählt haben, steht bereit. Daß ihnen Kairo nicht fremd ist, hat er längst bemerkt. Er spart sich seinen Enthusiasmus für die Pauschalreisenden, die eines Tages wiederkommen werden, Insha Allah. (Ebd.: 218)

Das Bemerkenswerte an dieser Beschreibung wird deutlich, wenn wir uns vergegenwärtigen, dass der erste Teil des Romans in Ich-Form aus Sawatzkys, der zweite Teil in Er-Form aus Cismars Perspektive geschrieben ist. Was wir über den Kellner und dessen Gedanken lesen, ist Cismars wiedergegebener Bewusstseinsinhalt, der allerdings auch sein Unbewusstes mit einschließt. Es ist beileibe nicht so, dass Cismar hier von dem Rat zum Gebet, den ihm Sawatzky am Schluss des zweiten Gespräches gibt (vgl. ebd.: 200), gedanklich beeinflusst wäre. Im Gegenteil: Die Nachahmung ersetzt sein Denken.

Die von Sawatzky wiederholt ausgesprochene Formel erzeugt eine unwillkürliche Resonanz in Cismars mentaler Landschaft. Cismars Inneres wird so, im weiteren Handlungsverlauf, immer evidenter zum Schauplatz von intergenerationalen und interkulturellen Konflikten um die Vorherrschaft der Symbolsysteme: »[…] in seinem Kopf verwirbeln Sätze, Szenen, Begriffe. […] Wortfetzen rufen Erinnerungsreste auf, die sich mit Gedanken mischen […]. Fremde und eigene Bildsequenzen im Zeitraffer« (ebd.: 239f.).

In einem Satz, den er aus Sawatzkys Mund hört – »Leute wie Sie, ohne Mitte, verlieren irgendwann alles« (ebd.: 252) –, erkennt er eine Warnung von Françoise wieder, und Sawatzkys Reaktion auf seine Nachfrage, was eine ›religiöse Erfahrung‹ sei – »Ich bin blind. Beschreiben Sie mir Rot« (ebd.: 252) –, taucht später, völlig unvermittelt, zwischen einem Spruch seines Vaters, seinem Bonmot über »[d]ie normative Kraft des Faktischen« (ebd.: 220, 224f. u. 282) und den Geboten des Dekaloges in komprimierter Form auf (vgl. ebd.: 282). Das ist aber nicht alles: Mit diesem geistigen Wirrwarr geht seit kurzem eine körperliche Übelkeit einher (vgl. ebd.: 178, 214, 217, 228, 239–243 u. 255), die in der Folge zu einer Blutung und schließlich zum Kollaps von Cismars Magen führen wird (vgl. ebd.: 281 u. 290–292).

Genau diese Entwicklung entspricht der zentralen These des vorliegenden Beitrages: Der Schauplatz der Konflikte ist letzten Endes der Körper; Stimmen und Bilder, Gedanken und Handlungen treffen im Körper aufeinander, drängen aneinander und wetteifern um den Primat in den Prozessen der psychomotorischen Nachahmung. So finden sich in der ›dichten Beschreibung‹ der konfligierenden Gedanken nicht nur die plastische Wiedergabe der körperlichen Implikation – »Der Befehl des Körpers, abgelöst vom Geist, sich zu übergeben, den rechten Arm zum Gruß zu heben. Ihm widerstehen« (ebd.: 240) –, sondern auch die pointierte Darstellung der Synchronisation von Gedankenführung und Körperbewegung: »Cismars Gedanken sind die Bewegungen seiner Därme, die Kontraktion des Schließmuskels, Schüttelfrost« (ebd.: 243).

Doch wie kommt es zu diesen Konflikten, die Geist und Körper zugleich erfassen, oder besser, Geist in Körper aufgehen lassen? Was steht in deren Mittelpunkt? Dazu gibt Peters in einem kleinen Reisebericht mit der Überschrift Kairoer Aufklärung, den er am 4. März 2010 in der Zeit veröffentlichte, einen wichtigen Hinweis. Während seiner Ägyptenreise im Frühjahr 1993 widerfährt Peters ein Schlüsselerlebnis. Nach zwanglosen Gesprächen mit Verwandten und Freunden seines ägyptischen Schwagers über Politik, Religion und Terrorismus gelangt er zu der Einsicht, dass jeder Mensch gleichsam Gefangener in einem »Wahrnehmungskäfig« sei, von dem aus die Zustände und Ereignisse der Welt sich jeweils anders beurteilen ließen. Peters bringt diesen Moment der fundamentalen Verunsicherung in folgendem Satz auf den Punkt: »Unter mir öffnete sich ein Riss aus Ungewissheiten« (Peters 2010). Versuche, dem Riss mithilfe einer Art gedachten kulturellen Synkretismus (vgl. Lüsebrink 2008: 99–101) beizukommen, wollen Peters nicht gelingen. Der Bericht schließt mit der resignierten Feststellung: »Der Riss hat sich nicht wieder geschlossen« (Peters 2010).

Dieser Riss zieht sich in erster Linie durch die Politik und Gesellschaft Ägyptens, zwischen Gottgefälligsein und Freiheitsstreben, zwischen den »Allahu akbar«-Gebetsrufen von den Minaretten und dem Beatles-Song Yesterday auf der Hammondorgel in einer Jazzbar (vgl. ebd.). Peters verwendet im fiktionalen Text konsequenterweise denselben Ausdruck wie in der autobiografischen Skizze, um den problematischen Hintergrund plakativ zu beschreiben: Es ist von dem »Riß durch die ägyptische Gesellschaft« (Peters 2006: 99) die Rede. Cismars Unbehagen zwischen den Kulturen rührt nun daher, dass er sich diesen Riss symbolisch wie materiell zu eigen macht, ihn internalisiert und inkorporiert. Der Riss, der die Gesellschaft Ägyptens, Anspruch und Handlung der Islamisten und mithin auch Sawatzkys spaltet, spaltet auch Cismar in seinem Denken und Handeln (vgl. ebd.: 154). Die Probleme einer ganzen Gesellschaft, die Konflikte zwischen verschiedenen kulturellen Selbstentwürfen sowie zwischen divergierenden Antrieben zur Nachahmung werden in seinen Körper eingeladen und in seinem Körper ausgetragen. Es sind die psychosomatischen Auswüchse dieser inkorporierten Konflikte, die Cismar zum Schluss gesundheitlich zugrunde richten und beruflich schwerwiegend beschädigen.

Der Kampf im Körper

Wir wenden uns nun dem interessanteren Fall eines konfliktgeschüttelten Körpers zu, anhand dessen die eingangs gestellten Fragen beantwortet werden sollen: dem Fall Sawatzky. Als Islamist mit westlichen Wurzeln, der seine Mission im bewaffneten Kampf in Ägypten sieht (vgl. ebd.: 150), muss Sawatzky die Ansprüche seiner neuen Identität und seines neuen Umfeldes stets gegen die Rudimente seiner alten Lebensform durchsetzen. Seine körperlichen Gewohnheiten und Veranlagungen stellen ihn vor tägliche Herausforderungen: »[S]ein Magen hat sich auch nach neun Monaten nicht auf das ägyptische Frühstück umgestellt« (ebd.: 16), und auf die blendende Sonne Ägyptens reagiert »[s]eine blaue Iris […] empfindlicher als die dunkelbraunen« seiner Kameraden (vgl. ebd.: 17).

Dagegen bereiten ihm die durch Nachahmung erlernbaren Körpertechniken – im Sinne Marcel Mauss’ – keine besonderen Schwierigkeiten. Den Bewegungsablauf des Ritualgebetes hat er penibel einstudiert und sich angeeignet. Am Tag des geplanten Terroranschlages, noch vor dem Sonnenaufgang, tritt er aus der Höhle heraus in die sternenbeleuchtete Nacht: »Ich kniete nieder, legte die Hände auf den Sand, blies den Staub von den Flächen und reinigte mich. Dann breitete ich den Teppich aus und wandte mich nach Mekka« (ebd.: 11f.).

Nach und nach gesellen sich seine Kameraden zu ihm, die Morgenröte zieht hinter den Bergen auf, und während des Gebetsprechens nimmt er die Haltung ein, um die Peters im vorhin zitierten Bericht einen gläubigen Muslim beneidet (vgl. Peters 2010): Sawatzky drückt seine Stirn auf den Boden (vgl. Peters 2006: 13).

Doch gleichzeitig flimmern über seinen mentalen Bildschirm »Bilder einer Vergangenheit, die kaum noch [s]eine ist: Mutter, fett und allein, Nüsse kauend beim Fernsehen; frühmorgens im grauen Hosenanzug, rechts die Kaffeetasse, links das Käsebrot« (ebd.: 12; vgl. auch: 14). Diese Körperbewegungen und Körperhaltungen haben einst ebenfalls die seinigen bestimmt. Zu Zeiten des Sowjetisch-Afghanischen Krieges (1979–1989) saß Sawatzky »kiffend und Bier trinkend vor dem Fernseher« und hörte »zum ersten Mal das Wort ›Mudschahedin‹«, das er »verwundert nachsprach« (ebd.: 22).

Das Fernsehen ist mit dem Liegen auf dem Bett assoziiert, das Liegen dem aufrechten Gang durch die Wildnis auf dem Marsch nach Luxor entgegengesetzt. Sawatzky erinnert sich später, während des zweiten Gespräches mit Cismar, erneut an seine entfremdete Vergangenheit:

Ich lag auf dem Bett und glotzte Videoclips, Talk-Shows, Filme, bescheuertes Zeug. Misch ’arif. Keine Ahnung, was da die ganze Zeit lief. Hauptsache bunt. Nur an die Mudschahedin erinnere ich mich. Wenn etwas über die Mudschahedin kam, habe ich mich zusammengerissen. (Ebd.: 186)

Das Liegen auf dem Bett ist des Weiteren mit Unreinheit und Unruhe assoziiert. Mit dem Lesen im Koran wird eine neue Technik erlernt, die dem alten Habitus wirkungsvoll entgegensteuert:

Ich lag halb angezogen auf dem Bett, hatte mich nicht gewaschen – nicht einmal die Hände –, bevor ich das Buch nahm, obwohl ich wußte, daß die Reinigung vorgeschrieben ist, wenn man es nur berührt. Ich habe auf meiner Unvoreingenommenheit beharrt, und doch ist passiert, wovon die Gläubigen rund um den Erdball berichten. […] Zum ersten Mal, seit mein Gedächtnis etwas vermerkt, herrschte Ruhe. Und sie kehrte wieder, immer wenn ich las. (Ebd.: 32f.)

Auch diese Technik will durch Körperbeherrschung gelernt sein: »Jeder von uns hat das erfahren: zu Anfang den Schrecken. Man will das Buch zuschlagen, wegwerfen« (ebd.: 32). Dem gleichen Reflex muss später auch Cismar widerstehen (vgl. ebd.: 171). Lernen heißt zunächst akzeptieren: Man muss es zulassen, dass die Technik sich als Bewegung in den Körper einschreibt. Denn »das Buch ist stärker. Es hält einen fest, bricht den Widerstand. Dann zwingt es dem, der Ohren hat zu hören, Verstand, um zu begreifen, seine eigene Bewegung auf, bis er sich unterwirft und ruhig wird« (ebd.: 32).

Auf solchen Wegen wird der Körper seinem Gebrauch im neuen Umfeld angepasst (vgl. Mauss 1978: 219). Und dennoch bleiben die alten Impulse und Reflexe in Sawatzkys Körper erhalten. Sie können sich insbesondere in Augenblicken der Schwäche zurückmelden und müssen mit Anstrengung unterdrückt oder aber mit Einschränkung zugelassen werden. Sawatzky hat sich »abgewöhnt, auf große Gefühle zu warten. Glaube ist keine Sache des Gefühls« (vgl. Peters 2006: 18). Doch er muss hin und wieder gegen die bleibende Gier (vgl. ebd.: 29) und den Impuls, laut und irre zu lachen (vgl. ebd.: 53), ankämpfen, und hat Mühe, die mediengenährte Glücksvorstellung, die er als »Spätfolge der Deformation des Westmenschen« (ebd.: 38) bezeichnet, und die von klein auf angelernte »Naturromantik« (ebd.: 55) abzuwehren. Körperliche Erschöpfung und Schmerzempfindung lassen in ihm längst hinter sich gelassen geglaubte Phrasen und Gedanken auferstehen, wie etwa: »Der Satz: ›Ich stehe nie wieder auf‹« (ebd.: 31), oder: »Der Gedanke, einfach zur Seite zu kippen und liegenzubleiben« (ebd.: 37f.).

Solche gelegentlichen Flashbacks rufen in Sawatzkys körperliches Gedächtnis jene Körperhaltung zurück, die er, zu einer entrückten Zeit und in einem entlegenen Raum, unter unwillkürlicher Nachahmung seiner Mutter einzunehmen pflegte. Die alten Körpertechniken geraten so in Konflikt mit den neuen, beide kämpfen um die Vorherrschaft bei der technischen Kontrolle über den Körper, und der Körper selbst wird zum Schlachtfeld von verschiedenen kulturellen Bestreben, Impulsen und Reflexen. Die Folgen davon sind der periodische Verlust der muskulären Koordination und die phasenhafte Störung des Rhythmus der Körperbewegung. Auf dem gefährlichen Marsch nach Luxor, in höchster Anspannung und Alarmbereitschaft, werden bei Sawatzky diese Folgen der inkorporierten Konflikte manifest: »Ich bin aus dem Tritt, mein Atem hat seinen Rhythmus verloren. Mir zittern die Hände, meine Knie geben nach, nicht vor Erschöpfung« (ebd.: 22; Hervorh. d. Verf.).

Er konzentriert sich auf seine Schritte (vgl. ebd.: 23) und kommt trotzdem nur »stolpernd« (ebd.: 26) vorwärts. Gegen das unbeherrschbare Kräftespiel von kulturellen Techniken in seinem Körper hält er eine Gegentechnik parat, die jedoch wenig erkennbare Wirkung zeitigt:

Statt meine Gedanken zu sammeln, auf den Einsatz zu konzentrieren, einen Vers im Rhythmus der Schritte zu beten, bis er alle Fasern des Körpers durchdringt, wird mein Geist vom Durcheinander der Ungläubigen beherrscht. (Ebd.: 27)

Was Sawatzky als fremde Einflussnahme durch die Ungläubigen von draußen wahrnimmt, besteht in Wirklichkeit in der fortwährenden Konditionierung durch die nach wie vor wirksamen Körpertechniken aus seiner eigenen Vergangenheit. Dem drohenden Kontrollverlust sucht er mit einem Koranvers Herr zu werden, aber: »Die Beine verweigern sich dem Rhythmus der Worte« (ebd.: 27).

Körpertechniken kämpfen gegen Körpertechniken, und Nachahmungen treten anstelle von Nachahmungen, indem die einen gegenüber den anderen die Oberhand gewinnen. Vieles, was Sawatzky nach seiner Festnahme vor Cismar von sich geben wird – von der religiösen Schwärmerei und dem Gotteskrieger-Pathos eines Konvertiten bis hin zu der 1968er-Rhetorik eines Nachgeborenen –, entspringt sprachlichen und körperlichen Nachahmungen, die weniger Denkvorgänge auslösen als vielmehr Denkvorgänge ersetzen. Cismar erkennt richtig, welchen Wert solche mimetischen Bekundungen besitzen: »Verkürzungen und Halbwahrheiten, die an jedem Teetisch [in Ägypten] verkündet werden« (ebd.: 136).3 Aber er zieht daraus, vielleicht seinerseits unter Nachahmung seiner BKA-Kollegen, den banalen Schluss: »Gehirnwäsche« (ebd.: 136). Angesichts der im Text gegebenen Hinweise – aber auch mit Blick auf die zukünftige Terrorismusbekämpfung – richtiger ist, dass hier in erster Linie Nachahmung vorliegt. Gehirnwäsche gestaltet das Denken um, aber Nachahmung kommt ohne das Denken aus. Diesem Faktor, der ohne Überzeugung und ohne Vernetzung Terroristen generiert, sollte in Zukunft verstärkte Beachtung geschenkt werden.

Peters’ Roman demonstriert an der Figur von Cismar wie auch an der Figur von Sawatzky, wie die Interaktion der Kulturen nicht nur zwischen mehreren Menschen, sondern auch in einem einzigen Menschen, und zwar in dessen Körper, stattfinden kann. Unter dem Zeichen der Transkulturalität – im Sinne Welschs – spielt sich, in den globalisierten Gesellschaften von heute, im Körper des Einzelnen tagtäglich ein ständiger Austausch, aber auch ein endloser Konflikt zwischen kulturell vielfältig kodierten Techniken ab. Solche Prozesse der kulturellen Interaktion im Haushalt des Körpers verdienen in Zusammenhang mit dem beunruhigenden Phänomen des Homegrown Terrorism besondere Aufmerksamkeit: Der Körper des Terroristen stellt hier den Ort dar, an dem Techniken verschiedenster ideologischer Projektionen und kultureller Zuschreibungen miteinander verhandelt und gegeneinander abgewogen, mimetisch zugelassen oder rational verworfen werden. Peters zeigt, bezogen auf die eingangs gestellten Fragen, dreierlei:

  1. dass das literarische Schreiben in der Lage ist, durch einen imaginativen Blick Mechanismen aufzudecken, die sich dem empirischen Blick immer wieder entziehen;
  2. dass im Falle Sawatzky dem Faktor der Nachahmung – im Sinne Durkheims – eine eminente Bedeutung zukommt; und
  3. dass die Literatur, durch ihren mimetischen Zugriff auf die Wirklichkeit, Bedeutendes darin leistet, die mimetischen Vorgänge in der Wirklichkeit transparent zu machen.

Die in Peters’ Roman dargestellten mimetischen Vorgänge lenken den Blick hin zu einem ›Kampf der Kulturen‹, der im menschlichen Körper vor sich geht. Es ist an der Zeit, dass neben der »›politische[n] Ökonomie‹ des Körpers«, auf die Michel Foucault (1977: 36) aufmerksam gemacht hat, auch die ›kulturelle Ökonomie‹ des Körpers in den Fokus der öffentlichen und wissenschaftlichen Diskussion rückt.4

Anmerkungen

1  | »Vielfache Zwietracht in der Tat, ihr Väter, tragen wir in uns; wir fechten schwere innere Kämpfe in uns aus und mehr als Bürgerkriege« (Pico della Mirandola 2009: 22/23).

2  | Die Zeitung Die Welt erinnert drei Tage nach der Festnahme der Sauerland-Gruppe an den Roman von Peters und bringt ein Interview mit ihm über Konvertiten und den Islamismus (vgl. Peters/Krekeler 2007).

3  | Die Vielstimmigkeit ägyptischer Tischgespräche, auf die Peters in einem Interview mit der Zeitung Die Welt hinweist – »Meine Erfahrung in Kairo war immer: Wenn vier Muslime an einem Tisch sitzen, haben sie vier grundverschiedene Meinungen und fangen sofort an, sich zu streiten« (Peters/Krekeler 2007) – bleibt in der Formulierung unbeachtet.

4  | Der vorliegende Beitrag ist die erweiterte Fassung eines Vortrages, den ich am 28. Mai 2011 auf dem Kongress Sprachen und Kulturen in (Inter)Aktion anlässlich des 50-jährigen Bestehens der Abteilung für Deutsche Sprache und Philologie der Aristoteles-Universität Thessaloniki (25.–28. Mai 2011) an der Aristoteles-Universität Thessaloniki hielt.

Literatur

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Darowska, Lucyna/Lüttenberg, Thomas/Machold, Claudia (Hg.; 2010): Hochschule als transkultureller Raum? Kultur, Bildung und Differenz in der Universität. Bielefeld.

dpa (2011): Bundesanwaltschaft: Arid Uka ist Einzeltäter. In: Die Zeit v. 4. März 2011 (online unter http://www.zeit.de/news-032011/4/iptc-hfk-20110304-48-29064714xml).

Durkheim, Émile (1983): Der Selbstmord. Übers. v. Sebastian u. Hanne Herkommer. Frankfurt a.M.

Foucault, Michel (1977): Überwachen und Strafen. Die Geburt des Gefängnisses. Übers. v. Walter Seitter. Frankfurt a.M.

Laqueur, Walter (2003): Krieg dem Westen. Terrorismus im 21. Jahrhundert. Aus d. Engl. v. Klaus-Dieter Schmidt. München.

Lüsebrink, Hans-Jürgen (2008): Interkulturelle Kommunikation. Interaktion, Fremdwahrnehmung, Kulturtransfer. 2., aktual. u. erw. Aufl. Stuttgart/Weimar.

Mauss, Marcel (1978): Soziologie und Anthropologie. Bd. II: Gabentausch. Soziologie und Psychologie. Todesvorstellung. Körpertechniken. Begriff der Person. Frankfurt a.M./Berlin/Wien.

Peters, Christoph (2006): Ein Zimmer im Haus des Krieges. Roman. München.

Ders. (2010): Kairoer Aufklärung. In: Die Zeit v. 4. März 2010 (online unter http://www.zeit.de/2010/10/Kairo).

Ders./Krekeler, Elmar (2007): Christoph Peters hat einen Roman über Konvertiten geschrieben: Ein Gespräch über die Faszination des Fundamentalismus. »Der Islam ist keine Feiertags-Religion«. In: Die Welt v. 7. September 2007 (online unter http://www.welt.de/welt_print/article1164468/Der_Islam_ist_keine_Feiertags_Religion.html).

Pico della Mirandola, Giovanni (2009): Oratio de hominis dignitate. Rede über die Würde des Menschen. Lateinisch/Deutsch. Auf der Textgrundlage der Editio princeps hg. u. übers. v. Gerd von der Gönna. Stuttgart.

Stiftung Weimarer Klassik/Deutsche Genossenschaftsbank (Hg.; 1994): Sichtweisen. Die Vielheit in der Einheit. Weimar.

Tarde, Gabriel (2009): Die Gesetze der Nachahmung. Aus d. Franz. v. Jadja Wolf. Frankfurt a.M.

Welsch, Wolfgang (1994): Transkulturalität – die veränderte Verfassung heutiger Kulturen. In: Stiftung Weimarer Klassik/Deutsche Genossenschaftsbank (Hg.): Sichtweisen. Die Vielheit in der Einheit. Weimar, S. 83–122.

Ders. (1995): Transkulturalität. Zur veränderten Verfaßtheit heutiger Kulturen. In: Zeitschrift für Kulturaustausch 45, H. 1, S. 39–44.

Ders. (2010): Was ist eigentlich Transkulturalität? In: Lucyna Darowska/Thomas Lüttenberg/Claudia Machold (Hg.): Hochschule als transkultureller Raum? Kultur, Bildung und Differenz in der Universität. Bielefeld, S. 39–66.