Feridun Zaimoğlu, inventor of Kanak Sprak and cult author of several narratifs focussing on the identity of turkish minority in reunified Germany, can also be regarded as part of the tradition of literary manierism, which dates back to Gongora, Marino and Donne. The following article tends to underline both the common traits in formals aspects and in ways of world-understanding between the former and the current issues of a literary style rare viewed upon up to now. Therefore the crucial point is how violation of norms in behavior and speech bound to the abject position of migrant underdogs in society corresponds to transgression in style and content of Zaimoğlus neomanieristic literature.
Neutöner gibt es in der Literatur nur selten. Dieses Prädikat trifft sicher auf Feridun Zaimoğlu mit seinen frühen Texten von Kanak Sprak bis zum Erzählband Zwölf Gramm Glück zu, ebenso wie es für Autoren des historischen Manierismus, darunter etwa Georg Philipp Harsdörffer (1607–1658) oder die Nürnberger Pegnitzschäfer mit ihrer onomatopoetischen Klangmalerei (seit Mitte des 17. Jahrhunderts), gilt. Warum man auch bei ihnen von Neutönern gesprochen hat, wird deutlich, wenn man sich vergegenwärtigt, dass in ihren lyrischen Texten, wie übrigens auch bei Luis de Góngora (1561–1627), Giambattista Marino (1569–1625), John Donne (1572–1631) und den Autoren der Frühromantik, die Sprache, die zuvor noch als bloßes Medium einer Mitteilung fest an einen zu transportierenden Inhalt gebunden war, nun autonom wird. Ihre Elemente Buchstabe, Wort, Satz, Periode und lyrische Sinnfigur (Concetto) werden aus dem instrumentellen Zusammenhang gelöst und sind nun frei kombinierbar. Dies wiederum beförderte die Entstehung eines literarischen Hermetismus, der mit Tendenzen der Verschlüsselung und Verrätselung einherging.2 Dieses Experimentieren mit Klangkonkordanzen, das man auch als Erforschen von Sympathien und Antipathien begreifen kann, die zwischen den sprachlichen Laut- und Sinnqualitäten bestehen, hat sicher nicht wenig zur Entwicklung der literarischen Formensprache allgemein, wie auch der Literatursprache des Deutschen im Besonderen beigetragen (vgl. dazu auch Althaus 1996).
Ich möchte im Folgenden die auf den ersten Blick sicher kaum ins Auge fallenden, daher mehr oder weniger verborgenen Parallelitäten zwischen der fast in Vergessenheit geratenen künstlerisch-literarischen Ausdrucksweise des historischen Manierismus und den dichterischen Erzeugnissen Zaimoğlus aufzeigen. Diese Parallelitäten wurzeln letztlich in dem, was Hocke einmal als »Spiegel […] einer neu gewonnenen Subjektivität« (Hocke 1978: 7) bezeichnet hat, einer Subjektivität also, die sich in beiden Fällen wesentlich von einem zuvor gültigen Paradigma der Darstellung absetzte bzw. absetzt. Diese Übereinstimmung des Ausgangspunktes soll in der anschließenden Diskussion zu der begründeten Annahme führen, dass Zaimoğlu, der bisher literaturwissenschaftlich immer als einer der wichtigsten Vertreter der interkulturellen Literatur in Deutschland klassifiziert wurde, auch als später Vertreter der anti-klassischen, stark subjektivistischen Strömung des literarischen Manierismus verstanden werden kann.
Schlägt man die ersten Publikationen von Zaimoğlu auf, sei es Kanak Sprak (1995), Abschaum (1997) oder Koppstoff (1998), so fällt sofort auf, warum er mit Fug und Recht als »Neutöner« gelten kann. Es sind die sozial ausgegrenzten, im Milieu von Prostitution und Drogenkriminalität verwurzelten, ethnisch diskriminierten »Kanaken«, denen Zaimoğlu eine Stimme gibt. Arbeitslose, Stricher, Chancenlose meist türkischer Herkunft, die sich mit schlecht bezahlten Tätigkeiten über Wasser halten und sich dabei in einem Argot verständigen, der für Uneingeweihte wie ein verschrobener Dialekt aus dem Keller der Gesellschaft klingen mag. Wäre es nicht bereits gelungen, diesen Slang der gesellschaftlich Deklassierten in Literatur zu transformieren, kaum etwas schiene als Projekt weniger geeignet und gewagter als das.
Dabei ist es sicher nicht der Tabubruch allein, der den Texten ihren Reiz verleiht. Der Tabubruch ist eher die Voraussetzung, die Ermöglichungsbedingung einer Literatur wie dieser. Erinnert man sich, dass der Bruch mit vorgegebenen formalen und moralischen Dikten seit den Tagen der Poètes maudits, über Dadaismus und Surrealismus bis hin zu Genet und den Beatniks eigentlich zum Repertoire aller spätmodernen und postmodernen Literatur gehört, muss man das Innovationspotential Zaimoğlus wie auch anderer ihm verwandter Poeten der inter- oder transkulturellen Literatur, etwa Zé do Rock, José F.A. Oliver oder Emine Sevgi Özdamar, doch woanders suchen. Es liegt sicher in dem sprachschöpferischen Vermögen, der Fähigkeit zur überraschenden Kombination von Bedeutungselementen, die so weder den Normen deutscher Rechtschreibung noch den Konventionen bürgerlicher Kommunikation entsprechen.
Gerade aus dieser Verweigerung, die in einer Zone jenseits von Verbot und Sanktion, von gesellschaftlicher Anpassung und damit verbundener Heuchelei der Mehrheitsgesellschaft3 bizarre Blüten treibt, erwächst die besondere Kraft zur Kreation neuer poetischer Idiome, unter denen Zaimoğlus Kanak Sprak eine besonders unverwechselbare Gestalt angenommen hat.4 Zu seinem Wortschatz gehören Erfindungen wie »Liberalultramild« (Zaimoğlu 1998: 11), »Mauldreck« (ebd.: 13) und »Dominanzbrumme«,5 die jedem Kabarettisten deutscher Sprache zur Ehre gereichen würden. Wenn Zaimoğlu den Rapper Abdurrahman sagen lässt:
Und überhaupt: ’n kanake als freund rangiert ganz unten auf der multikultiliste, besser is ’n jamaikanigger mit ner zottelperücke, noch besser ’n schmalzlatino, und die ganz heiße oberfesche krone is denn ’n yankee-nigger, auf den das einheimische mösenmonopol abfährt (Zaimoğlu 2007: 22),
wird schnell klar, dass mit rassistischem Vokabular angereicherte Werturteile ethnischer und sexueller Zugehörigkeit aus der Mehrheitsgesellschaft entlehnt und in ihr Gegenteil verkehrt werden. Unverkennbar ist, dass es sich dabei um Elemente von Hate Speech handelt, wie sie Judith Butler in ihrem gleichnamigen Werk untersucht hat. Dabei werden erniedrigende, verletzende Äußerungen in eine bejahende Bedeutung umfunktioniert und gegen die ursprüngliche Zielsetzung an ihren Absender zurück adressiert. Damit kann auch eine Umkehrung der Effekte erreicht werden, die vom Absender intendiert waren.6 Es kommt zu einer Reaktion, die man als Strategie eines umgekehrten Rassismus bezeichnen könnte, indem nämlich Angehörige einer Minderheit ihre Motivation zur Selbstdefinition aus dem abwertenden Urteil der Mehrheitsgesellschaft erst beziehen. Das, was in der Mehrheitsgesellschaft besonders negativ bewertet wird, kann vom »Kanaken« als Selbstbild erst dann bejaht werden, wenn es zugleich den Gipfel der Selbsterniedrigung darstellt. Erst wenn man es schafft, in gesellschaftlich abjekter Position das Gesicht zu wahren, hat man den Werten der Mehrheitsgesellschaft einen Spiegel vorgehalten.
Dass es sich dabei keineswegs um eine leere Pose handelt, sondern vielmehr um die Markierung eines erreichten höheren Freiheitsgrades, wird auf der Ebene der Äußerung auch in folgendem Statement des Kfz-Gesellen Hakan deutlich:
Ich bin keiner, der die ich-verstell-mich-daß’s-deutsche-aas-mich-auch-recht-gern-hat-pennernummer bringt, ich fang die miesen stöße nicht ab, oder duck mich schwer unterm blonden fluch. Was soll überhaupt dies pomadenschiß von deutsch-ist-nummer-eins-was-gibt, die schön’s proletenmaul aus’m gelenk kippen und über alles-in-der-welt jaulen, wo jeder klarsieht, daß auch der niedrigste und sperrigste aus’m asiatenreich mehr manieren und memoiren hat. (Zaimoğlu 2007: 85)
Natürlich soll darum auch unbestritten bleiben, dass all dies viel mit der Verteidigung bedrohter Identität zu tun hat, der sich Minderheiten in einer anders orientierten Mehrheitsgesellschaft annehmen müssen, wollen sie die eigene Andersartigkeit nicht restlos der Assimilation opfern. Dies ist auch darum eine der wichtigsten Legitimationen für die Autoren der interkulturellen Literatur,7 zu denen Zaimoğlu zählt, ihr Handwerk so wie sie es tun, weiterhin auszuüben, weil Literatur eben dies besonders gut kann: Denen eine Stimme zu geben, die sonst nie gehört wurden, denen ein Gesicht zu geben, eine kulturell intelligible Identität, die bisher vom Literaturbetrieb und der damit verbundenen Aufmerksamkeit und Anerkennung aufgrund ihrer Herkunft ausgeschlossen waren. All dies soll vielmehr als Voraussetzung bestehen bleiben, die es bei einer Veränderung des Blickwinkels als sinnvoll erscheinen lässt, Zaimoğlus Texte zusätzlich in eine neomanieristische Traditionslinie einzurücken.
Ein Indiz dafür lässt sich in dem spielerischen Umgang mit politisch und weltanschaulich stark abweichenden Anschauungen Angehöriger ethnischer Minderheiten erkennen, wie sie in den beiden Zitaten und des Weiteren an vielen anderen Stellen der von Zaimoğlu literarisch bearbeiteten Interviews in Kanak Sprak oder Koppstoff zum Ausdruck kommen. Was zuvor bestenfalls als Randposition zur Kenntnis genommen wurde, ist mittlerweile – die Auflagenzahlen, die Präsenz in Feuilleton und audiovisuellen Medien belegen dies eindrucksvoll – in der Mitte der Gesellschaft angekommen. Vermutlich hat die Sprache, in der die abweichenden Selbstbilder vorgetragen wurden, damit auch etwas von ihrer beunruhigenden Präsenz eingebüßt, denn dies ist – in der heute mehr denn je von dynamischen Prozessen der Kommunikation und des Warenaustauschs geprägten Gesellschaft mit ihren Abnutzungseffekten – das Schicksal jeder Innovation. Gilt dies generell so im Besonderen umso mehr für jede Innovation auf dem Sektor der Kultur.
Das Idiom gesellschaftlicher Randexistenzen, angereichert mit rassistischen, sexistischen und religiös-fundamentalistischen Attitüden sowie mit Szenevokabular aus dem Drogen- und Strichermilieu, wird in dem Moment als literarisch anerkannt, wo es in das Beziehungsgefüge der Institution Literatur (vgl. Bürger 1971) bzw. über den Markt vermittelt als konsumierbare Ware in das literarischen Feld Bordieus eintritt (vgl. Bordieu 2001). Die real eher abstoßend wirkende Intensität und ungeschönte Direktheit der »Kanakster«-Sprache gewinnt literarisiert ungeahnte ästhetische Qualitäten. Man denkt dabei unwillkürlich an den melodischen Sprechgesang der Rapper und Slammer, aber was die konsequente Übernahme überraschender Wendungen betrifft auch an die Lyrismen der manieristischen Concettos,8 die ebenso mit unvorhersehbaren, bisher nicht gebräuchlichen Sprachbildern ihre Zeitgenossen schockieren wollten. Im einen wie im anderen Fall sind es ungewöhnliche Metaphern und syntaktische Konstruktionen, die darauf hindeuten, dass unvereinbare Extreme im Text zusammengebracht werden sollen.
Ist es bei Zaimoğlu, darin vielleicht nur Lautreamont (Isidore Lucien Ducasse [1846–1870]) oder Louis-Ferdinand Céline (1894–1961) aus der frankophonen Literatur vergleichbar, die Revolte gegen weltanschaulich-religiöse und sprachlich-ästhetische Bevormundung, die sich mit Schilderungen aus einem, an Verhältnissen der Mehrheitsgesellschaft gemessen, literaturuntauglichen Milieu in die deutsche Gegenwartsliteratur einschreibt, so wehren sich die concettistischen Dichter, darunter etwa ein Torquato Tasso (1544–1595), mit Hilfe von Para-Rhetorik und Paralogismus gegen den Klassizismus der Spät-Renaissance sowie später auch gegen die Formvorschriften von Barock und Klassik.
In beiden Fällen gibt es auch Auskunft darüber, wie man die Wirkungen erzeugt, die erzielt werden sollen. Der manieristische Dichter will mit seinen Texten Staunen (»stupore«) erregen, indem er verschiedene Grade des Wunderbaren (»meraviglia«) »von dem einfachen überraschenden Kontrast bis zur schockauslösenden Konstruktion des Monströsen« (Hocke 1959: 155) zum eigentlichen Gegenstand seiner Dichtung macht. Es entsteht auf diese Weise eine »bezeichnende Denk- und Gefühlsspannung« (ebd.: 123f.), die als Charakteristikum der manieristischen Literatur aller Zeiten gelten kann. Die allgemeinste Methode, mit der man solche Wirkungen erzielen kann, wird in der Literatur als Reversibilitätsprinzip bezeichnet (vgl. ebd.: 59). Was es damit auf sich hat, beschreibt Hocke folgendermaßen:
Man operiert zwar mit logisch-syllogistischen Mitteln, aber um Anti-Logisches zu erzeugen. Man »sucht« »Argomenti urbanatamente fallaci«, in angenehmer Weise »trügerische« Argumente, überraschende »topoi fallaci«, d.h. »paralogismi«. Insofern heißt gut dichten gut »lügen«, mit syllogistisch-dialektischer Methode. […] Alles kann in ein Gegenteil ver-kehrt, vertauscht werden. Aus der Kombinationskunst [des Ramon Lull] als einem Instrument zur Erkenntnis rationaler Zusammenhänge wird ein Instrument zur Bildung irrationaler Verhältnisse gemacht. Man »sucht« das Abstruse methodisch. Man erzeugt auf diese Weise systematisch Dunkelheit, Aenigmatik, Meraviglia, Stupore, Novità. (Ebd.)
Demnach sind manieristische Dichter »Problematiker« (ebd.: 98), die mithilfe deformierter Regeln aus der klassischen Rhetorik »bestimmte Manifestationen der Vorstellungskraft, […] antinaturalistische Erscheinungen im Bewußtsein«, die in der Antike als Phantasiai oder auch als Simulacra bezeichnet wurden (vgl. ebd.: 138f.), in Form lyrischer Concettos zum Ausdruck bringen. Damit ist auch angedeutet, dass die Manieristen eine stark ausgeprägte Tendenz zu dichterischer Subjektivität, zu Metaphorismus und Illusionismus mit der Ablehnung jeder Art von mimetischer Darstellung verbanden. Wie man sich den Prozess der poetischen Gestaltung konkret vorstellen kann, weiß wiederum Hocke:
Man sammelt Ideen und Bildergruppen, »Ähnlichkeiten« und »Verschiedenheiten«, Grundelemente also für die uns bekannte Große Kombinationskunst. Aus diesem Material baut man mit den Instrumenten der »Topoi fallaci«, der täuschenden rhetorischen Figuren, die uns bekannten Stupore-Metaphern. Diese aber dienen dann der sprachlichen Fassung von paralogischen »Argutezze«, von einfallsreichen, scharfsinnigen Trugschlüssen, durch die Begriffe (Ideen), die einander auszuschließen scheinen, vereint werden. Aus diesen Korrespondenzen von Ideen und Bildern erhält man »göttliche Concetti« […]. (Ebd.: 153)
Mit dieser eher technischen Anleitung geht eine Verbindung zu magischen bzw. hermetischen Vorstellungen einher. Neben der kabbalistischen Methode der symbolischen Verschlüsselung von Zahlen und Buchstaben bei Pico della Mirandola (1463–1494) ist es vor allem die Idea-Lehre des Neuplatonikers Marcilio Ficino (1433–1499; vgl. ebd.: 124–127), auf den die Manieristen unter den Dichtern wie Tasso (vgl. ebd.: 157f.) oder Giambattista Marino (1569–1625) Bezug nehmen. Dies vor allem deshalb, weil Ficino sich mit dieser Lehre davon überzeugt zeigte, dass die orientalischen Hieroglyphen, deren Signifikationsprinzip später in Form der emblematischen Kombination von Bild und Schrift nachgeahmt wurde, Abbilder der göttlichen Ideen der Dinge darstellten (vgl. ebd.: 175).
Auf der Ebene der para-rhetorischen Figuren sind es vorwiegend die folgenden, die, glaubt man Hocke, in der gesamten europäischen Literatur des Manierismus vielerorts Verwendung finden:
[…] außer Katachresen [uneigentliche Verwendung eines Wortes, z.B. »der Bart eines Schlüssels«] die uns schon bekannten Oxymora (Verbindung des Gegensätzlichen); das Aproskodeton (unvorhergesehenes Wort anstatt des zu erwartenden – Pointe!); die Synekdoche (Wahl des engeren Begriffs anstatt des umfassenden oder umgekehrt), die Hyperbel (Übertreibung) und die Ellipse (Verkleinerung). Sie alle dienen dem para-rhetorischen »delectare« mit den Mitteln der Verblüffung. (Ebd.: 142)
In ähnlichem Sinn irregulär oder abweichend sind nun die Metaphern, die Sprachbilder und Situationsbeschreibungen in Kanak Sprak und Koppstoff, aber auch in den späteren Erzählungen von Zwölf Gramm Glück. Besonders auffällig ist die exzessive Verwendung hoch artifizieller Analogien, die vor allem in den beiden zuerst genannten Werken unübersehbar ist. All dies deutet darauf hin, dass es sich hier um einen echten irregulären Ausdruckszwang handelt, der auch typisch für die gespannten Sinnfiguren der concettistischen Dichtung ist (vgl. ebd.: 20f., 74 u. 117). Es beginnt gleich im ersten Interview von Kanak Sprak mit Pop is ne fatale Orgie (vgl. Zaimoğlu 2007: 19) und zieht sich dann mit verschiedenen Graden der Intensität über Sex ist Händeschütteln (vgl. ebd.: 67) bis Deutsches Land is ne salzige Puffmutti (vgl. ebd.: 97) durch das gesamte Kompendium hindurch. Ein solcher Analogie-Wahn war auch charakteristisch für die Dichter des Manierismus, vor allem für die französischen Preziösen der Zeit zwischen 1580 und 1630.
Oftmals weisen die für den literarischen Manierismus typischen Analogien Anspielungen zur hermetisch-alchimistischen Literatur der griechisch-orientalischen Antike auf. Damit verbunden ist eine bestimmte Haltung, die das Normale oder leicht Verständliche aus der Dichtung verbannen möchte.9 Aus dieser Satzung wiederum resultiert die Tendenz zur Künstlichkeit, gar Exzentrik der Sprachbilder, die, wenn auch mit vollkommen anderen Kontexten und einem anderen Sprachregister verbunden, in ähnlicher Weise bei Zaimoğlu anzutreffen ist.
Weiterhin ist es das gesellschaftliche Engagement als Schriftsteller, das die Texte Zaimoğlus intellektuell so gehaltvoll macht. Die Texte wollen nicht für sich stehen, wollen gerade nicht L’art pour l’art sein, vielmehr versteht sich ihr Autor als Teil einer gesellschaftlichen Bewegung, deren Angehörige um die gesellschaftliche Anerkennung im Aufnahmeland kämpfen. Teil dieses Kampfes ist es, mit den Mitteln der Literatur, Klischees und Vorurteile gegenüber Migranten beim Namen zu nennen und sie als Mittel der Diskriminierung durchschaubar zu machen. Zudem versteht der Autor seine Texte auch als Bereicherung, ja geradezu als unverzichtbar für das kulturelle Leben im neu gewonnenen Heimatland:
Die sprachliche Manifestation unserer Mobilmachung heißt Kanak Sprak, das ist das babylonische Kauderwelsch einer unbedingt auffälligen, unbedingt angestoßenen Generation, auf die dieses Land wirklich gewartet hat. Darin finden sich Brocken aus dörflichen Dialekten und Anleihen aus dem Hochtürkischen genauso wie das metaphernreiche Slang-Stakkato der Straße und der Großstadtszenen. Ich will an dieser Stelle keinen sprachwissenschaftlichen Diskurs anstrengen, zumal sich Sprachpracht und Sprachkraft über die Ohrenzeugenschaft erschließen lassen. Nur so viel. Kanak Sprak meint Bilderflut, sie bringt Fitness in die Modalitäten, sie stemmt Frische in die Branche. […] Wenn es denn so sei, dass die wahren Trends und Tendenzen von der Straße kommen, so ist nun eine eingewanderte Unterschicht dabei, ein Feuerwerk an Kulturaufregung zu entfachen. (Zaimoğlu 2001: 15)
Damit erscheinen Zaimoğlus Texte auch als Teil eines gesellschaftlichen Aufbruchs, der in den 1960er Jahren mit der Artikulation gesellschaftlicher Minoritäten wie der Frauenbewegung, der Schwulen- und Lesbenbewegung und den ersten literarischen Wortmeldungen der Migranten begonnen hat. Zugleich wird hier deutlich, dass sich analog zur Situation des Migranten, der als Teil einer fremden Kultur innerhalb der Kultur der Mehrheitsgesellschaft zur Vergrößerung der kulturellen Heterogenität des Aufnahmelandes beiträgt, auch die Literatursprache, die dieser Situation angemessen ist, aus disparaten Quellen speist. Es ist darum kein Widerspruch, wenn in Zaimoğlus Werk gesellschaftliches Engagement, das auf Transparenz und Nachvollziehbarkeit angewiesen ist, mit einem hochartifiziellen poetischen Konglomerat im literarischen Text zusammengeht, sondern vielmehr authentischer Ausdruck der schwierigen Situation des Migranten in einer fremden Umwelt.
Man trifft hier zudem auf den seltenen Fall, dass ein Autor die literarische Programmatik für seine poetischen Texte, deren Notwendigkeit gar gesellschaftspolitisch begründbar ist (vgl. ebd.: 8–21), gleich mitliefert, ohne dafür eines intellektuellen Paten aus der Mehrheitsgesellschaft zu bedürfen. Dies ist umso erstaunlicher, als Zaimoğlu, wohl weil er dort seine eigenen Wurzeln sieht, immer wieder die Nähe zu einem intellektuellen- und bildungsfeindlichen Milieu des ethnischen Ghettos betont. Liest man die Einleitungen zu Kanak Sprak und Koppstoff, vermag man als Angehöriger der Mehrheitsgesellschaft zu erahnen, wie groß die zu überbrückende intellektuelle Distanz zwischen dem studierten Autor und den Interviewpartnern bereits ist. Aufschlussreich ist zudem, dass Zaimoğlu die Entstehungsgeschichte der Texte im Vorwort minutiös beschreibt. Es handelt sich überwiegend um Tonbandprotokolle, die nachträglich am Schreibtisch vom Autor literarisch bearbeitet wurden, in diesem Sinne also nicht um real-authentische Sprachdenkmäler aus der Feldforschung. Wie weit die veröffentlichten Texte vom ursprünglichen Tonbandmaterial abweichen, wie viel also der Autor selbst an literarischen Umformungen daran noch vorgenommen hat, ist dem Zugriff der Forschung damit entzogen, denn die Tonbänder sind nach Freigabe der Texte durch die Gesprächspartner auf deren ausdrücklichen Wunsch gelöscht worden (vgl. Zaimoğlu 2007: 17f.).
Hieraus erklären sich eben auch die Unterschiede in Sprachregister, Wortwahl und Syntax zwischen Vorwort und eigentlichem Text, obwohl Zaimoğlu die Autorfunktion letztlich für beide Teile übernimmt. Zugleich kann man diese Rollenspaltung auch als Ausdruck des Umstands verstehen, dass die Widersprüche zwischen der Mehrheitsgesellschaft als eigentlicher Zielgruppe der Texte und den Angehörigen der Minderheit, die im Text spricht, sich im Subjekt des Autors gewissermaßen verschränken, überlagern, konzentrieren.10 Der Autor ist damit zudem wieder eingesetzt in seine ursprüngliche Rolle als Zeuge und Mittler, in diesem Fall gar als Mittler zwischen den Kulturen.
Dass Zaimoğlu keineswegs auf Interviewpartner angewiesen ist, sondern das Idiom der gesellschaftlich geächteten Randexistenzen selber beherrscht, zeigen seine späteren erzählerischen Texte wie Liebesmale scharlachrot, German Amok oder Zwölf Gramm Glück. Allen Texten ist auch das Bizarre, Paradoxe, Überraschende und Raffinierte eigen, das Arnold Hauser als Charakteristikum manieristischer Kunst und Literatur bestimmt hat (vgl. Hauser 1973: 271). Aber die Parallelitäten sind damit keineswegs zu Ende. Wenn das Werk Zaimoğlus untrennbar verbunden ist mit den Chancen aber auch Risiken einer pluralisierten, multikulturellen, liberalen Gesellschaft, in der die Bindung an traditionelle Werte, an denen sich das eigene Handeln orientieren könnte, immer schwächer wird, so war auch der Manierismus mit seinem Ausdrucks- und Formzwang geistig, wie Hauser schreibt, an ein »Weltbild mit unfest und unbeständig gewordenen Seinsformen und einem fließenden, in ständiger Veränderung begriffenen Seinssubstrat« gekoppelt (ebd.: 282).
Diese Definition lässt sich ergänzen durch den Hinweis, dass man den Manierismus auch als Antwort auf vorhergehende klassische Positionen der Darstellungsweise, wie etwa in Spätrenaissance, Frühbarock und Klassik, verstehen kann. Das, was ästhetisch zuvor noch galt, der ungebrochene Bezug auf die Antike, die Zentralperspektive oder die mimetische Nachahmung der Natur, hatte nun seine Verbindlichkeit eingebüßt. Dass nunmehr Variation und Bruch dieser Regeln möglich wurden, hat freilich auch wieder viel mit der Veränderung weltanschaulicher Bezugssysteme zu tun. Der Mensch wurde mehr und mehr als Individuum erkennbar, Werk und Denken Leonardos sind dafür sicher eine Voraussetzung gewesen, und war nicht länger – wie noch während des Mittelalters – mit dem statischen Menschenbild eines Mikrokosmos identifizierbar, an dem die Proportionen des Makrokosmos durch Ähnlichkeitsbeziehungen ablesbar waren.11
Daraus wiederum wird die starke Betonung künstlerischer Subjektivität, die Aufwertung der Fantasie gegenüber dem Naturstudium respektive der vorgefundenen Wirklichkeit verständlich. Die Veränderung der kosmologischen Stellung des Menschen durch die Entdeckungen von Galilei, Kepler und Kopernikus als auch die philosophische Neubestimmung subjektiver Seinsgewissheit bei Descartes, haben sicher das ihre zu der von Hauser diagnostizierten transitorischen Veränderung des orthodoxen geozentrischen Welt- und Menschenbilds bei den Manieristen beigetragen.
Diese Beschreibung ist in mancher Hinsicht mit der gegenwärtigen mentalen »Großwetterlage« vergleichbar. Denkt man an die wissenschaftlich-technologischen Revolutionen der vergangenen Jahrzehnte etwa in den Neurowissenschaften oder der Computertechnologie so hat dies ähnlich gravierende Konsequenzen für das Selbstbild und das gesellschaftliche Zusammenleben des Jetztzeitmenschen gehabt. Gleiches gilt für die wirtschaftlich-politischen Veränderungen im Zeichen der Globalisierung. Religiöse Bindungen und überkommene Familienstrukturen lösen sich auf, neben dem System der Zwangsheterosexualität (vgl. Butler 1991: 15–61) ist es mittlerweile gefahrlos möglich, auch Formen abweichender Sexualität zu leben. Weiterhin ist Identität nicht länger gebunden an die Vorstellung eines unveränderlichen »wahren« Kerns im Inneren des Subjekts, sondern erscheint mit Stuart Hall als Schnittpunkt theoretischer Diskurse und kultureller Praktiken (vgl. Hall 1994: 66–87).12
Inmitten dieses Szenarios nun haben sich Zaimoğlus Texte als besonders anschlussfähig erwiesen. Dass dies wiederum kein Zufall ist, sondern mit der besonderen Performativität seines literarischen Idioms zusammenhängt, möchte ich im Folgenden an der Erzählung Gottes Krieger aus dem Erzählband Zwölf Gramm Glück zeigen. Der Titel ist als Anspielung auf den für die Gegenwart typischen Konflikt zwischen der islamischen Welt und der westlichen Wertegemeinschaft mit den Vereinigten Staaten an der Spitze zu verstehen. Im Text erscheinen zwei (erzählende) Instanzen, die zunächst typografisch unterschiedlich (kursiv und recte) in Form alternierender Textblöcke gestaltet sind, zugleich aber auch für zwei differierende mentale Verfassungen stehen.
Die Erzählung beginnt mit dem »Diskurs« eines Predigers (erscheint im Text kursiv), der so etwas wie die deutsche Version eines islamischen Fundamentalisten darstellt, im Text auch »Herzprediger« (Zaimoğlu 2004: 124) genannt, und zum heiligen Krieg gegen die Ungläubigen aufruft. Seine Polemik nimmt dabei in vielfältiger Weise Bezug auf religiöse Ikonografie, sei sie judeo-christlich (Altes Testament) oder, wie zu Beginn des Textes, mit der Freimaurerei verbunden (vgl. ebd.: 122).13 Diese religiösen Bezugspunkte werden agitpropähnlich mit anti-amerikanischen, anti-liberalistischen, sexistischen und antisemitischen Parolen sowie mit demokratiefeindlichen Versatzstücken aus der deutschen Geschichte des 20. Jahrhunderts (»Rätebündler« [ebd.]) zu einer Hassrede amalgamiert, in der von »lügnerischen Fleischmaschine[n]« (ebd.: 123) und »Judaslämmern« (ebd.: 128) auf der einen und den »Herrengläubigen« (ebd.: 129) auf der anderen Seite die Rede ist. Wie zuvor in Kanak Sprak und Koppstoff wird auch hier Hate Speech inszeniert.
Dieser Position, die in provokanter Weise mit binären Oppositionen wie »Der Herrengläubige« versus »Der Unzüchtige«, »Sünde« versus »Rechtgläubigkeit« usw. polarisiert,14 steht die Stimme eines namenlosen Ich-Erzählers gegenüber, der unlängst von seinem »Meister« (ebd.; 125), dem Herzprediger, verlassen wurde und nun in einer abgelegenen Stadt, einem Badeort im Land seiner Herkunft, bei einer Pensionswirtin untergekommen ist. Als »erster Schüler« (ebd.: 154) des Herzpredigers leidet er besonders darunter, dass dieser sich von seiner Gemeinde losgesagt hat, nachdem er, wie sich später bei einem konspirativen Treffen mit einem »Blutsbruder« (ebd.: 153), so die Bezeichnung für die männlichen Herrengläubigen, herausstellt, eine Jüngerin geschwängert und sich dann in der Art eines pflichtschuldigen Liebhabers davongemacht hat.
In der letzten Predigt des Meisters ist denn auch von einem Verräter die Rede, der sich unter seinen Anhängern befindet. Unschwer kann man darin eine Anspielung auf die christliche Heilsgeschichte erkennen, wo Jesus am Vorabend seiner Gefangennahme auch prophetisch davon spricht, dass einer der Jünger ihn verraten werde. Der Meister spricht den Verräter direkt an:
Er, der Verräter, weiß, daß ich nur auf eine Blöße von ihm warte, er steht mehr oder minder vor seiner Enttarnung. Er muß höllisch achtgeben, er darf sich keine Fehler erlauben […]. Ich habe auch einen Hauptverdächtigen. Ich sehe ihn in meiner Nähe wie einen Teufelsmarder schnüren, ich sehe ihn wie alle Herrengläubigen seinen Gottesdienst verrichten. Doch sein Herz, möge er sich nach außen noch so emsig auf den Boden werfen, sein Herz ist die Suhlgrube der Schweine und Säue. […] Der Judaslamm-Lakai kann sein restliches Leben in Schrecken verbringen, bald ist er überführt, bald darf seine Schweineseele vom Schweinekörper getrennt werden. Bald ist der Verräter meine Beute! (Ebd.: 147–149)
In dem konspirativen Gespräch am Ende des Textes fällt nun der Verdacht, ausgesprochen von dem zweiten Schüler des Herzpredigers, der sich unerkannt noch in der Stadt aufhält, auf den Ich-Erzähler: »Du hast uns verraten. Der Meister hat dich durchschaut. Der Prediger ist weggezogen.« (Ebd.: 155) Doch der Beschuldigte weigert sich, den Verrat zuzugeben. Zwar glaube er nach wie vor an Gott, sogar an den Gottesstaat, doch sei er kein Herrengläubiger mehr und gehöre darum nicht mehr zu den Anhängern des Herzpredigers. Anstelle der geistigen Gemeinschaft mit dem Meister hat er sich mit der Pensionswirtin, einer Witwe, die ihn nach allen Regeln der Kunst verführt, körperlich vereinigt.
Doch wäre es zu kurz gegriffen, in dieser Fabel nur die Geschichte eines Abfalls vom rechten, dann aber als falsch entlarvten Glauben und die glückliche Rückkehr in das weltliche Leben zu sehen. Ähnlich wie bei Genet oder beim Marquis de Sade – nach Hocke beides manieristische Schriftsteller par excellence – wird auch hier die Regelverletzung oder gar das Verbrechen zur letzten Möglichkeit, eine Erfahrung zu machen.15 Beide enthüllen dem in einem Zwangskorsett religiös-moralischer Vorstellungen von Gut und Böse Gefangenen einen tieferen Sinn der Wirklichkeit. Während das vermeintlich Gute in Gestalt des Herzpredigers, der gegen den westlichen Hedonismus und das ausbeuterische Kreditwesen ebenso polemisiert wie gegen die Macht der Medien und den amerikanischen Imperialismus, verhältnismäßig sinnlos bleibt, weil es blinden Gehorsam und damit Verzicht auf jede Selbstbestimmung verlangt, bringt für den Ich-Erzähler erst der Abfall vom Glauben daran Ansätze zu einem sinnerfüllten Leben an der Seite der Pensionswirtin mit sich. Beide Positionen werden erst in ihrer Bezugnahme auf das jeweilige Gegenteil verständlich und haben damit an sich – aufgrund ihrer puren Relationalität – keine Substanz. Sobald erkannt wird, dass die politischen Forderungen des islamischen Fundamentalismus gegen elementare menschliche Bedürfnisse und Rechte verstoßen und selbst von seinen kompromisslosesten Vertretern, siehe Herzprediger, letztlich nicht befolgt werden, bricht das damit verbundene Glaubenssystem in sich zusammen und entlässt hilflose, weil im weltlichen Leben und der damit unweigerlich verbundenen selbstständigen Bedürfnisbefriedigung ungeübte Laien.
Wie zuvor gehören wieder Paralogismus und Pararhetorik zu den literarischen Stilmitteln der Erzählung. Besonders deutlich treten hyperbolische Konstruktionen in der Rede des Predigers hervor. Unverkennbar ist, dass dessen Vortrag einer Demagogie der Verführung folgt, nur die niedrigsten menschlichen Instinkte anspricht, dabei religiöse Motive nur im Sinne einer Travestie zitiert und ebenso nur scheinbar mit Vernunftgründen argumentiert (vgl. dazu Zaimoğlu 2004: 22f., 128–131, 138–140 u. 146–149). Dies geschieht einerseits, um die mit religiösen Handlungen verbundene Gefühlsintensität zum Ausdruck zu bringen, vielleicht sogar etwas wie einen heiligen Schauer hervorzurufen. Andererseits weist aber die travestieartige Verwendung von pornografischen, sexistischen und offen zu Gewalt auffordernden Parolen auf den real-inauthentischen Charakter dieser Textabschnitte hin,16 ja macht deren fiktionalen Status erst richtig bewusst, sodass der Leser den Eindruck gewinnt, dass diese Passagen vermutlich der Erinnerung des Ich-Erzählers entsprungen sind, die Inhalt und Form des früher einmal Gehörten in so extremer Weise verzerrt hat.
Diese Lesart drängt sich umso mehr auf, als der Herzprediger nur in Form einer Stimme und nicht als Figur mit bestimmten, in verschiedenen Kontexten wiedererkennbaren Eigenschaften in Erscheinung tritt. Diese Reduktion in der Darstellung deutet jedenfalls darauf hin, dass es sich bei der Stimme des Predigers um eine nachträgliche Rekonstruktion im Bewusstsein des Ich-Erzählers handelt, also letztlich nicht um eine eigenständige erzählende Instanz. Die damit verbundene zeitliche Hierarchisierung eines Früher und Später ist folglich auch nicht aus der temporalen Strukturierung des Erzähltextes zu entnehmen, denn die beiden alternierenden Textblöcke sind ausnahmslos in präsentischer Sprechweise gehalten. Dies gelingt vielmehr nur durch die inhaltliche Bezugnahme und Perspektivierung aus dem Text des Ich-Erzählers heraus und durch die mit der Frage, ob die Passagen des Predigers allein aus sich heraus verständlich wären, verbundene negativ ausfallende Gegenprobe.
Diese Lesart legt noch einen weiteren Schluss nahe. Wenn die Passagen des Predigers nicht im Sinne eines gleichwertigen Wirklichkeits- oder Bewusstseinsstandpunkts gedeutet werden, der durch einen medialen Schnitt, vergleichbar etwa einem Schnitt im Film, der zwei ontisch gleichwertige oder differente Einstellungen einander gegenüberzustellen vermag, dann lässt sich die Intention des Gesamttextes auch als Dekonstruktion der binären Wirklichkeitsauffassung des Herzpredigers verstehen, die sich im Bewusstsein des Ich-Erzählers vollzieht. Indem die binären Oppositionen in der Weltsicht des Predigers als Voraussetzungen eines Zwangssystems, nämlich als ideologische Konstrukte, durchschaubar werden, das Rassismus, Diskriminierung, Sexismus und Gewalt für seine Aufrechterhaltung braucht, kann sich der Ich-Erzähler durch mentale Differenzoperationen von ihnen distanzieren und letztlich befreien. Für diese Deutung spricht neben der genannten reduzierten Darstellung des Predigers als Figur zudem, dass die mentale Bindung des Erzählers an seinen Meister qua Identifikation auf der Ebene des erzählten Geschehens nicht ausschließlich asymmetrisch unidirektional, sondern durchaus bidirektional verläuft, indem sich nämlich Handlungen des Ich-Erzählers, die mit dem Abfall vom Prediger verbunden sind, nachträglich bei diesem selbst wiederfinden. Wie der Ich-Erzähler wird auch der Prediger sexuell aktiv, zeugt sogar ein Kind und wird, indem er sich seiner Pflicht als Vater entzieht, zum Verräter an seiner eigenen Lehre orthodoxer Rechtgläubigkeit. Das Motiv des Verrats, vom Prediger an den Ich-Erzähler adressiert, trifft damit ebenso gut auf ihn selbst zu.
Liest man die folgende Aussage des Ich-Erzählers: »Der achtzehnte Tag nach der Spaltung. Ich bin ein Wundergeheilter, der die volle Härte des Glaubens zu spüren bekam«, als Hinweis auf eine zuvor bestandene Einheit, eine Art vollständiger Identifikation mit dem Prediger, dann wird auch verständlich, inwiefern dieser mit Bezug auf die Entstehung des Subjekts bei Lacan (Spiegelstadium) als Projektion des Erzählers, als imaginäres Spiegelbild, verstanden werden kann, das nun nach der Trennung nur noch in Form von Erinnerungssplittern oder -scherben vorhanden ist. Sein vergangenes Selbst, das durch die Bindung an den Prediger geprägt war, wird durch Resignifizierung und Dekontextualisierung im Sinne einer diskursiven Identität nach Foucault und Butler dekonstruiert (vgl. dazu Blumentrath u.a. 2007: 46).17 Es bestätigt sich hier einmal mehr, wie Stuart Hall mit Said und Lacan im Zusammenhang seines Aufsatzes Rassismus als ideologischer Diskurs erläutert, dass es nämlich »keine Konstruktion des Selbst, keine Identität gibt ohne eine Konstruktion des Anderen.« (Stuart Hall in Räthzel 2000: 14) Gewendet auf Zaimoğlus Erzählung kann der Ich-Erzähler sein neues Selbst nach dem Abfall vom Glauben an den Herzprediger nur konsolidieren, indem er die neu hinzugekommenen Erfahrungen bisher verdrängter Sexualität und in der Gesellschaft auftretender Ambivalenz in sein Selbstbild integriert.18 Das aber ist leichter gesagt als getan, auch wenn er in der Pensionswirtin eine verständnisvolle Gesprächspartnerin gefunden hat.
Aus den genannten Gründen kann man den Ich-Erzähler durchaus als »Problematiker« im Sinne der Manieristen verstehen. Zwar findet er nach wie vor Halt im Glauben (vgl. Zaimoğlu 2004: 156), wird jedoch auch von Gefühlen der Sinnlosigkeit und der ausweglosen Immanenz des Daseins verfolgt, die eine Erfahrung religiöser Transzendenz eigentlich ausschließt.19 Damit hat er auch bereits den Pfad betreten, der zwischen verschiedenen Ordnungen des Denkens und den damit verbundenen Geltungsansprüchen in eine Zukunft der totalen Auflösung aller Werte und Gesetze führt. Er macht damit die Erfahrung aller wirklich manieristischen Künstler bis hin zu den Existenzialisten des vergangenen Jahrhunderts. Zugleich spricht aus den rührend hilflosen Versuchen des Erzählers, mit dem eigenen Leben ohne einen religiösen Führer zurechtzukommen, auch die Erfahrung Camus’ und Sartres, dass nämlich das Leben nur den Sinn hat, den man ihm selber gibt, und dass es darüber hinaus keinen Zweck hat, auf die Intervention eines transzendenten Gottes zu warten. Hat man dies einmal verstanden, versteht man auch, warum die Literatur Zaimoğlus eine eminent politische Literatur ist und sich ihre Funktion, indem sie über mentale Befindlichkeiten marginalisierter Bevölkerungsschichten aufklärt, im Sinne der Litterature engagée Sartres eigentlich von selbst versteht.
Es fällt nicht schwer, die Erfahrungen des Ich-Erzählers auch als Bekenntnisse des Autors Zaimoğlu zu lesen, der als Angehöriger der zweiten Generation türkischer Migranten in der BRD, gewissermaßen »zwischen« den Kulturen des Herkunfts- und des Aufnahmelandes angesiedelt, sowohl Herkunft als auch Mentalität mit jenem teilt. So gesehen ließe sich die Konstruktion des Anderen im Bewusstsein des Ich-Erzählers auch als Teil der Identitätskonstruktion des Autors Zaimoğlu verstehen. Von hier aus öffnet sich das weite Feld der Identitäts-Konstruktion qua literarischem Text mit ihren bisher weitgehend unerforschten Beziehungen zwischen der Identität des Autors und der von ihm erfundenen Figuren und Erzählerpositionen, auf die an dieser Stelle nicht weiter eingegangen werden kann.20
Schließlich lassen sich noch weiter Gemeinsamkeiten zwischen den neomanieristischen Texten Zaimoğlus und Positionen des klassischen Manierismus aufzeigen. Zunächst ist da der Esprit bizarre, von dem Pascal nach Hocke mit Bezug auf gewisse extremistische Kasuisten des Manierismus spricht (vgl. Hocke 1959: 251). Dieser Esprit bizarre resultierte letztlich aus der Reduktion der katholischen Moral mit ihren absoluten Moralwerten auf individuelle Sonderfälle zu dem Zweck, das Bußproblem zu vereinfachen. Es kam, mit anderen Worten, bei der Bemessung der Sündenvergebung nun immer auf den Fall und die Umstände an, was zu einer probabilistischen Aufweichung der absoluten hin zu einer opportunistischen Moral und zum Laxismus führte (vgl. ebd.: 247f.). Um einen solchen Einzelfall, nämlich um den eines Individuums, das sich aus der Konformität eines anonymen Daseins als Sektenjünger befreit hat, handelt es sich auch bei dem Ich-Erzähler aus Gottes Krieger. Auch dieser bewegt sich nahe an der Contritio (Reue durch Zerknirschung; ebd.: 248) und wird nur durch die Einsprüche der Pensionswirtin gegen den Rigorismus des Herzpredigers auf den Weg eines freiheitlicheren Umgangs mit der eigenen Sexualität gebracht.
Abschließend kann man resümierend sagen, dass der Autor Zaimoğlu sich bei der literarischen Arbeit generell ebenso wenig wie seine Protagonisten einer überkommenen ästhetischen Sinn- und Formenlehre anpassen mag, wie sie etwa die Literatur der Arbeitswelt oder der neue Realismus vorzeichneten. Auch dies ganz im Sinne des manieristischen Credos. Dafür dass, wie Hocke sagt, der Manierismus in unserer Sprache als versunkenes Traditionsgut, als vergessener aber unterschwellig stets weiterwirkender Formzwang enthalten sei (ebd.: 142), sind, wie ich im Vorstehenden gezeigt habe, die Werke Zaimoğlus mindestens ein wichtiges Beispiel.
1 | Hocke (1959: 272) sieht Baudelaire als einen »der größten Dichter am Anfang des Neo-Manierismus unserer Zeit«. Weiterhin bezieht er sich neben Charles Baudelaire wie Hauser (1973: 268–273, 282–298, 299–352 u. 358–394) auf Stéphane Mallarmé, Franz Kafka, Marcel Proust und James Joyce als Beispiele für einen Manierismus in der ausgehenden Moderne. Der Manierismus ist als Phänomen zeitlich nur schwer einzuordnen. – Hocke macht dazu die folgenden Ausführungen: »Eine Analyse gerade des literarischen Manierismus führt uns also zunächst zu einer Formenkunde des ›Irregulären‹. Sie beginnt mit einer ursprünglich noch mythisch-religiösen ›Poesia Alfabetica‹ Europas und Asiens, mit ingeniösen rhetorischen Spiel- und Verblüffungsformen, mit sophistischen Trugschlüssen. Auch sie stehen, bereits in hellenistischer Epoche, vielfach im Dienst einer ›asianischen‹ Kunst der ›Phantasiai‹, sie entfernen sich also damals schon von der noch mythischen Kunst der objektiven Mimesis. Aus dieser bereits in der Antike und im Mittelalter entstehenden ›manieristisch-asianischen‹ Dichtung, zunächst mehr ›formaler‹ Natur, entwickelt sich dann die para-rhetorische, emblematische und concettistische Dichtung der Spätrenaissance. Diese gewinnt durch die Wiedergeburt nicht nur der altgriechischen und altrömischen Kultur, sondern durch die bewußte Rezeption auch der magischen und esoterischen Kulturen Asiens, eine auch gnostische, über bloßes Spielen und Gefallenwollen transzendierende metaphysische, geistig-hermetische Bedeutung. Es entsteht ein ›heterodoxes‹ Weltbild. Formale Errungenschaften des Concettismus bleiben im Barock erhalten, doch ›reintegriert‹ die Welt des Barock verfallende Ordnungssysteme, zunächst nur restaurativen und gegenreformatorischen Tendenzen einer neuen politischen und religiösen Orthodoxie folgend. Erst in der ›intellektuellen Romantik‹ und in der heutigen ›Moderne‹ Europas leben diese Formsysteme und auch manche ›inhaltlichen‹ Grundmotive in jeweils epochal oder individuell veränderter Weise wieder auf.« (Ebd.: 304; Hervorh. sind hier – wie auch in allen nachfolgenden Zitaten – gemäß dem Orig. beibehalten) – Die Beantwortung der Frage, warum man Feridun Zaimoğlu auch als Neomanierist verstehen und damit in die von Hocke und Hauser beschriebene Tradition einordnen kann, soll Gegenstand dieses Aufsatzes sein. Dafür, was Hocke am Ende dieses Auszugs über das Wiederaufleben manieristischer Formsysteme und inhaltlicher Grundmotive in der heutigen Moderne sagt, wäre Zaimoğlus Werk, nach meinem Dafürhalten, ein geeignetes Beispiel. Inwiefern diese These gerechtfertigt ist, wird im Verlauf des Aufsatzes allerdings erst noch zu zeigen sein.
2 | Ich beziehe mich bei der Erörterung stilistisch-formaler und inhaltlicher Merkmale von Autoren des historischen Manierismus auf die Standardwerke von Hauser 1973 u. Hocke 1959, so auch in dieser Einleitung (vgl. dazu ebd.: 30f.). – Hocke fasst die wichtigsten Züge manieristischer Literatur folgendermaßen zusammen: »Manieristische Literatur bekundet folgende Grundtendenzen: affektvolle Übersteigerung oder kälteste Reduzierung des Ausdrucks, Verbergung und Überdeutlichkeit, Verrätselung und Evokation, Chiffrierung und ärgerniserregende ›Offenbarung‹. All dies ergibt sich jedoch nicht aus einer nur polemischen Antithese zur Klassik bzw. zum viel älteren antiken Attizismus. Die künstlichen, gesuchten, verblümten, übersteigerten oder untertriebenen Ausdrucksformen hängen mit einem problematischen Verhältnis zum eigenen Ich, zur Gesellschaft und zu philosophischen und religiösen Überlieferungen der konventionell denkenden ›Bien-Pensants‹ zusammen.« (Ebd.: 301) – Was die effektvolle Übersteigerung bzw. Überdeutlichkeit des Ausdrucks betrifft, ebenso wie das problematische Verhältnis zum eigenen Ich, zur Gesellschaft und den religiösen Überlieferungen, so treffen diese Charakterisierungen recht genau vor allem auf Zaimoğlus Frühwerk zu.
3 | Mehrheitskultur oder wie hier Mehrheitsgesellschaft ist als Fachbegriff aus der interkulturellen Literaturwissenschaft, ebenso wie Hybridität oder Mimikry, nicht mehr wegzudenken. Mehrheitsgesellschaft bezeichnet dabei – im Unterschied zur gesellschaftlichen Minderheit oder Minorität – die in einer gegebenen, national verfassten Gesellschaft von einer zahlenmäßigen Mehrheit vertretenen habituellen, kulturellen und politischen Werte, Orientierungen usw. Vgl. dazu auch Hofmann 2006.
4 | Der Begriff ›Kanak‹ stammt ursprünglich aus dem Hawaiischen und bedeutet dort so viel wie »Mensch«. Während der Kolonialzeit wurde das Wort von den europäischen Kolonialherren als abschätzige Bezeichnung für alle Südseeinsulaner verwendet. Zaimoğlu hat den Begriff von seiner negativen Verwendungsweise befreit und ihn im Sinne eines literarischen Jargons positiv umgewertet. Vgl. Blumentrath u.a. 2007: 72.
5 | Zit. n. Stadtrevue 2002. In diesem Pamphlet zur anstehenden Bundestagswahl wird die Grünenpolitikerin Claudia Roth mit dem wenig schmeichelhaften Attribut in Verbindung gebracht. Das Wort findet sich außerdem in der Erzählung Gottes Krieger im Erzählband Zwölf Gramm Glück (126).
6 | Vgl. Butler 2006. Unter »Politik des Performativen« versteht sie das Projekt »subversiver Territorialisierung und Resignifizierung«, bei der durch Umdirektion und Dekontextualisierung eine Bedeutungsverschiebung von hasserfüllter Rede stattfindet. Durch den kontextuellen Bruch kann Hate Speech in der Replik dessen, der damit zum Schweigen gebracht werden soll, – sozusagen mit umgekehrten Vorzeichen – als »Instrument des Widerstands« gegen den Absender gewendet werden. Vgl. auch Blumentrath u.a. 2007: 43–46; Bezüge auf Butlers Text sind daraus zitiert.
7 | Die mit den Konzepten der Inter- und der Transkulturalität ursprünglich verbundenen, voneinander abweichenden Perspektiven erscheinen im vorliegenden Aufsatz miteinander kombiniert. So ist das hermeneutische Verfahren, das die Analogien zwischen dem historischen literarischen Manierismus der Concettisten auf der einen und den neomanieristischen Tropen bei Zaimoğlu auf der anderen Seite nachweisen will, eher ein Ansatz der interkulturellen Germanistik. Hingegen sind die Abschnitte, in denen performative Aspekte in Zaimoğlus Dichtung berücksichtigt werden, dem Konzept der Transkulturalität zuzuordnen, das im Unterschied zur Interkulturalität auch Gender-Aspekte und Positionen aus dem Poststrukturalismus in die Theorie übernommen hat. Vgl. zu Gemeinsamkeiten und Differenzen beider Konzeptionen auch Blumentrath u.a. 2007: 53–57.
8 | Zur Charakterisierung dessen, was man unter einem Concetto verstehen darf, gebe ich hier einen Abschnitt zum Thema aus Hockes Standardwerk wieder: »Was sind ›Concetti‹? Was ist Concettismus? Für die Shakespeare-Zeit: eine neue ›Art des Sagens‹. Die Quintessenz der neuen Poesie! Man glaubt ein neues Universum der Schönheit entdeckt zu haben. In ihm strahlen diese magischen lyrischen Formeln. Denn um solche handelt es sich zunächst im allgemeinen Sinne. Die Spanier nennen sie conceptos, die Engländer conceits, die Deutschen Sinnfiguren oder auch Schimmerwitz, die Franzosen (des 17. Jahrhunderts) wie die Italiener concetti. Concetti sind oder sollen sein magische Formeln der Schönheit, die durch irrationale Trugschlüsse und durch die Verwendung irregulärer rhetorischer Figuren ›gemacht‹ werden. […] Extreme, konzentrierte Schönheit suchen sie [die manieristischen Dichter], oft umgeben vom Brüllen der Affekte und des physischen Schmerzes, vom sinnlosen Tod von Millionen Schuldiger und Unschuldiger. Sinn und Schönheit wollen sie dann vereinen in einer labyrinthisch irr-sinnigen Weise. […] Concettismus ist auch eine ‚Vereinigungskunst‘ im Sinne von Novalis. Denken und Dichten, Schönheit und Logik sollen miteinander verbunden werden. Sinnfiguren sind, elementar gesehen, Metaphern von Begriffen bzw. Ideen. Was heißt das? Die Metapher wird als eine überraschende concordia discors von Bildern empfunden. Das Concetto bietet eine überraschende concordia discors von Ideen. In beiden Fällen wird also Extremes vereint. Aber, und das ist das Irritierende, ein gutes Concetto stellt sich nicht nur als Konkordanz antithetischer Begriffe dar; es vermengt gleichzeitig … Bilder. Es werden also ebenso heterogene Bilder vereint.« (Hocke 1959: 150–152)
9 | Auch Hocke weist besonders auf die Bedeutung der Analogie in der Manieristischen Dichtung hin: »Manieristische Summation (Analogie-Metapher) findet man bei Langier de Porchères (1566–1653): Blitze sind ›Augen, Götter, Himmel, Sonnen‹. Der ›Spiegel‹ wird zum ›Ratgeber der Anmut‹, die Wangen werden zu ›Thronen der Scham‹. Ein Melancholiker hat eine ›nächtliche Seele‹. Die Liebe ist ein ›Konzert von Dissonanzen‹ und ein ›Labyrinth von Körpern‹. Die französische Preziosität schafft einen liebenswürdigen Irrgarten von metaphorischen Wortspielen. Es erscheinen Schatzkammern des Wunderbaren und Wörterbücher der Preziosität. François (Binet) lobt z.B. alles Seltene, Antike, Schwerverständliche, Hieroglyphische, und er warnt vor dem Normalen.« (Hocke 1959: 88)
10 | Dies wäre auch ein Beispiel für eine Mehrfachzugehörigkeit zu verschiedenen Kontexten, die im Fachjargon des Postkolonialismus auch als »cross cutting identity« bezeichnet wird. Blumentrath u.a. 2007: 21.
11 | Zu Welt- und Menschenbild des Mittelalters vgl. Gurjewitsch 1989. Auskunft über die Form der Ähnlichkeitsbeziehungen gibt Foucault 1974: 46–77.
12 | Der Beleg ist als Querverweis Blumentrath u.a. 2007: 23 entnommen.
13 | Zugleich lassen sich diese ikonografischen Zitate auch als transmediale Anspielungen auf zeitgenössische Filmproduktionen wie Das Vermächtnis der Tempelritter (2004), oder Armageddon – Das jüngste Gericht (1998) verstehen, die in vergleichbarer Weise mit religiöser Symbolik spielen. Der Bezug zum Film wird auch durch die montierten Textblöcke, die wie bei einem Filmschnitt unvermittelt aufeinander folgen, nahegelegt. Schließlich wird in Feuilleton und Internet immer wieder darauf hingewiesen, dass Zaimoğlu neben seiner literarischen Arbeit auch als bildender Künstler tätig sei. Somit bewegt er sich, indem er mit verschiedenen künstlerischen Medien arbeitet, bereits auf dem Feld der Transmedialität.
14 | Diese binären Oppositionen sind nach Stuart Hall Bestandteil jedes rassistischen Diskurses, der auf diese Weise Identitätsgemeinschaften erzeugt. Sie dienen neben der Produktion von Identität auch der Erzeugung von Wissen. Dazu schreibt Hall: »Der rassistische Diskurs hat eine eigentümliche Struktur: Er bündelt die den jeweiligen Gruppen zugesprochenen Charakteristika in zwei binär entgegengesetzte Gruppen. Die ausgeschlossene Gruppe verkörpert das Gegenteil der Tugenden, die die Identitätsgemeinschaft auszeichnet. Das heißt also, weil wir rational sind, müssen sie irrational sein, weil wir kultiviert sind, müssen sie primitiv sein, wir haben gelernt, Triebverzicht zu leisten, sie sind Opfer unendlicher Lust und Begierde, wir sind durch den Geist beherrscht, sie können ihren Körper bewegen, wir denken, sie tanzen usw. Jede Eigenschaft ist das umgekehrte Spiegelbild der anderen. Dieses System der Spaltung der Welt in ihre binären Gegensätze ist das fundamentale Charakteristikum des Rassismus, wo immer man ihn findet. Das meine ich, wenn ich von der Konstruktion der Differenz durch die rassischen Diskurse spreche. Dieser Prozeß, die Welt in Begriffen ›rassisch‹ definierter Gegensätze zu konstruieren, hat die Funktion, Identität zu produzieren und Identifikationen abzusichern. Er ist Bestandteil der Gewinnung von Konsens und der Konsolidierung einer sozialen Gruppe in Entgegensetzung zu einer anderen, ihr untergeordneten Gruppe. Allgemein ist dies als die Konstruktion ›des Anderen‹ bekannt. Sie teilt die Welt in jene, die dazugehören, und jene, die nicht dazugehören. Das ist keine simple Beschreibung von natürlichen Tatbeständen, sondern hier geht es um die Produktion von Wissen selbst.« (Hall 2000: 14)
15 | Hocke sieht de Sade als Vertreter einer schwarzen Mystik. Ähnlich wie in Zaimoğlus Erzählung werden religiöse, in diesem Fall christliche Werte bei de Sade in ihr Gegenteil verkehrt: »In den Büchern des Donatien Alphonse François de Sade (1740 bis 1814) erfolgt eine totale Reversion der christlichen Glaubenswelt ins Satanische. Der weiße mystische Erotismus der Teresa von Avila, des Angelus Silesius usw. wird zu einer schwarzen mystischen Obszönität. Sades Bücher sind keineswegs nur pornografisch. Die Welt wird erklärt als Entsprechung der satanischen Finsternis. In dem Roman: ›Juliette ou les prospérités du vice‹ (1798) hat ein satanisches Monstrum die ›bizarre‹ Welt geschaffen. Gott-Satan ist das Ur-Böse. Das Böse ist gut. Das Verbrechen hat einen kosmischen Ursinn. Das Verbrechen ist ›sublim‹, denn es offenbart die tiefste Wirklichkeit der Welt.« (Hocke 1959: 240)
16 | Zum Status der fiktionalen Rede von Autor und Erzähler vgl. Martinez/Scheffel 2004: 17–19.
17 | Dies gilt mit Butler vor allem für die Inszenierung von Geschlechtsidentitäten, die mit Hilfe der Performativität von Sprechakten und der damit verbundenen Möglichkeit von Bedeutungsverschiebungen neu kodiert werden können.
18 | Vgl. dazu die folgende Textstelle, in der die Bräuche bei einer türkischen Hochzeit geschildert werden, die der Ich-Erzähler gemeinsam mit der Pensionswirtin besucht. Die Witwe übergibt dem Brautpaar einen Briefumschlag, in dem sich vermutlich Geld befindet: »Der Bräutigam küßt ihre Hand und führt sie zur Stirn zum Zeichen seiner Unterwerfung, seines Respekts vor dem Ratschluß einer weisen Frau. Diese Szene stößt mich ab, man kann zwischen wahr und falsch nicht unterscheiden. Ich mißtraue großen Worten, der Herzprediger war ein Meister seines Fachs und reihte einen Wurmsatz an den anderen, nur um seinen Schülern einzubleuen, daß ein Herrengläubiger nicht ohne Feinde auskomme.« (Zaimoğlu 2004: 137)
19 | Vgl. dazu die folgenden Textstellen: »Einen Sinn kann ich in meinem Leben nicht erkennen: ich harke den Sand vor der Pension, ich kaufe ein und fülle den Kühlschrank mit Käse und Oliven, mit Obst und Gemüse. Ich bin noch zu jung, um wirklich dem Wahnsinn zu verfallen.« (Ebd.: 151) – »Ich überquere die Straße, ohne auf den Verkehr zu achten, ich setze einfach einen Schritt vor den anderen.« (Ebd.: 156)
20 | Vgl. dazu meine Monografie Das narrative Selbst (2008).
Althaus, Thomas (1996): Epigrammatisches Barock. Berlin u.a.
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Bürger, Peter (1971): Theorie der Avantgarde. Frankfurt a.M.
Butler, Judith(1991): Das Unbehagen der Geschlechter. Gender Studies. Frankfurt a.M.
Dies. (2006): Haß spricht. Zur Politik des Performativen. Frankfurt a.M.
Foucault, Michel (1974): Die Ordnung der Dinge. Frankfurt a.M.
Gurjewitsch, Aaron J. (1989): Das Weltbild des mittelalterlichen Menschen. München.
Hall, Stuart (1994): Rassismus und kulturelle Identität. In: Ders.: Ausgewählte Schriften. Bd. 2. Hg. v. Ulrich Mehlem u.a. Hamburg, S. 66–87.
Hauser, Arnold (1973): Der Ursprung der modernen Kunst und Literatur. Die Entwicklung des Manierismus seit der Krise der Renaissance. Ungekürzte Sonderausg. München.
Hocke, Gustav René (1959): Manierismus in der Literatur. Sprach-Alchemie und esoterische Kombinationskunst. Hamburg.
Ders. (1978): Die Welt als Labyrinth. Manier und Manie in der europäischen Kunst. Hamburg.
Hofmann, Michael (2006): Interkulturelle Literaturwissenschaft. Eine Einführung. Paderborn.
Martinez, Matias/Scheffel, Michael (2004): Einführung in die Erzähltheorie. 5. Aufl. München.
Räthzel, Nora (Hg.; 2000): Theorien über Rassismus. Hamburg.
Stadtrevue (2002). Das Kölnmagazin. Ausg. 9: Wahl 2000 – Der Schriftsteller Feridun Zaimoğlu.
Steiner, André (2008): Das narrative Selbst – Studien zum Erzählwerk Wolfgang Hilbigs. Frankfurt a.M. u.a.
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Ders. (2001): Kopf und Kragen. Kanak-Kultur-Kompendium. Frankfurt a.M.
Ders. (2004): Zwölf Gramm Glück. Köln.
Ders. (2007): Kanak Sprak. 24 Mißtöne vom Rande der Gesellschaft. 7. Aufl. Berlin.