Berichte

Zwischen Ritual und Tabu

Interaktionsschemata interkultureller Kommunikation in Sprache und Literatur

Bericht über ein GiG-Kolloquium im November 2010 in Kairo

Ernest W.B. Hess-Lüttich

Rituale dienten – so wurde in der Einladung zu dieser Kairoer Tagung definiert1 – der Regulierung von sozialem Handeln, insofern sie Erwartungen über Ordnungsmuster und Verhaltensschemata festigten sowie Sanktionsmechanismen für regelwidriges und regelkonformes Verhalten bereitstellten. Es seien regelgeleitete Handlungsroutinen, aber die Regeln dafür könnten nicht durchweg universale Geltung beanspruchen: sie variierten nicht nur zwischen verschiedenen Gesellschaften und Kulturen; auch innerhalb einer Gesellschaft gebe es hochgradig gruppen- und situationsspezifische Unterschiede je nach Alter, Bildungsgrad, Lebensraum, sozialem Geschlecht, sexueller Orientierung, kultureller Sozialisation. Sozialisation und moderne Erziehung verankerten Rituale im Routinewissen des Handelnden, das dann zwar noch als Orientierungswissen über die kontextuell angemessene Verwendung sprachlicher Rituale bzw. die Beachtung oder Vermeidung tabuisierten Verhaltens vorhanden, als ätiologisches Wissen (d.h. als Wissen über Ursprung und Inhalt der Rituale und Tabus) hingegen verloren gegangen sei.

Insofern der Konstruktivismus des Individuums in Wechselwirkung mit seinem jeweiligen gesellschaftlichen Herkommen stehe (Wilhelm von Humboldt), rücke das Interesse an diesen (potentiell dissenten, gar konfliktären) gesellschaftlichen Bedingungen interkulturellen Gemeinschaftshandelns in den Vordergrund. Die daraus möglicherweise folgenden Unterschiede in der kulturellen Prägung von Individuen und ihrer Auslegungen sprachlichen Handelns träten nun besonders dort deutlich zu Tage, wo es zu Regelwidrigkeiten oder Normverletzungen komme, die die Verständigung aufgrund der (ggf. latenten, coverten, d.h. versteckten) Differenzen der in Frage stehenden Normen und Ordnungsschemata ›problematisch‹ werden lasse. Gerade Rituale als zugleich traditionsbildende und ordnungsschaffende routinisierte Handlungen und Tabus als zugleich selektiv wirkende und mit Sanktionen belegte (ggf. unterdrückte) Handlungen, seien symptomatisch für spezifische kulturelle Identitäten und führten im Falle von unterschiedlicher kultureller Prägung zu einem besonders starken Fremdheitserleben.

Insoweit Rituale und Tabus sprachlich sedimentiert seien (und oft auch Gegenstand ästhetischer Modellierung), fänden sie (außer in der Anthropologie, Ethologie, Ethnografie der Kommunikation) auch in den Textwissenschaften zunehmend Beachtung. Während Rituale als Interaktionsrituale (Erving Goffman) heute etablierter Gegenstand der (empirischen, interkulturellen) Linguistik seien, bleibe die Untersuchung gerade von verbal manifestierten Tabus (Kommunikationstabus, Sprachtabus und Tabudiskurse) weiterhin Desiderat der Sprach- und Kulturwissenschaften im Allgemeinen sowie wie der interkulturellen Germanistik im Besonderen.

Deshalb hatte die Gesellschaft für interkulturelle Germanistik (GiG) dazu eingeladen, die damit vielfältig aufgeworfenen Fragen im schönen Ambiente des Kairoer Büros des DAAD zu diskutieren. Denn Lerner einer fremden Sprache (hier des Deutschen) sollten nicht nur für die Tabus der fremden Kultur – aber auch der eigenen! – sensibilisiert werden, sie sollten auch ein Arsenal an Reparaturmechanismen und Kompensationsstrategien an die Hand bekommen, um im Falle einer Tabuverletzung dem Abbruch und Scheitern der Kommunikation entgegensteuern zu können. Dies aber führt zu der Frage, welche sprachlichen Mittel eine Vermeidung von Tabus oder die kommunikative Bewältigung von Tabubrüchen ermöglichen. Dazu kann auch die verständige Lektüre ihrer literarischen Problematisierung oder die Betrachtung ihrer medialen Inszenierung fruchtbar beitragen.

Germanisten aus zahlreichen Ländern haben daher diese Einladung angenommen und sahen sich zum Auftakt mit einem nützlichen begriffssystematisch motivierten Plenarvortrag von CLAUS ALTMAYER (Leipzig) unter dem Titel Zum Begriff des Tabus in der kulturwissenschaftlichen Theoriebildung angemessen in das Programm eingeführt (bedauerlicherweise fand er nicht die Zeit, seinen Vortrag für den Tagungsband auszuarbeiten). Ausgehend von der Beobachtung, dass der Tabubegriff gerade im Kontext der kulturwissenschaftlichen Transformation der traditionellen ›Landeskunde‹ im Fache Deutsch als Fremdsprache an Bedeutung gewonnen habe, ging er der Frage nach, ob sich der Begriff, der ursprünglich bestimmte Berührungsverbote und Grenzmarkierungen in vormodernen Gesellschaften bezeichnete, für die kulturwissenschaftliche Theoriebildung in Bezug auf hochkomplexe moderne Industrie- und Mediengesellschaften und die dort praktizierten Diskurse überhaupt eigne. Dabei zeigte er am Beispiel der zum Zeitpunkt der Tagung gerade hochaktuellen Debatte über das umstrittene Buch Deutschland schafft sich ab des selbsternannten ›Tabubrechers‹ Thilo Sarrazin, dass »Tabu« in der öffentlichen Auseinandersetzung eine wichtige Funktion als politischer Kampfbegriff und als diskursive Strategie angenommen habe, die dazu dienen solle, angeblich ›tabuisierte‹ Themen und ›Wahrheiten‹ insbesondere konservativer und rechtsextremistisch-fremdenfeindlicher Provenienz im gesellschaftlichen Diskurs zu etablieren. Altmayer regte an, darüber nachzudenken, ob (und wenn ja, wie) der Tabubegriff jenseits solcher politischer Inanspruchnahmen noch als seriöser kulturwissenschaftlicher Begriff formuliert und gebraucht werden könne.

Der zweite Eröffnungsvortrag von ERNEST W. B. HESS-LÜTTICH (Bern/Stellenbosch) zum Thema Tabubruch in der interkulturellen Kommunikation konnte genau daran anknüpfen, indem er vor dem Hintergrund der sozialwissenschaftlichen Diskussion aspektheterogener Grundbegriffe wie ›Ritual‹ und ›Tabu‹ (Luckmann, Soeffner), die für die Tagung titelgebend und erkenntnisleitend waren, zunächst einen für das spezifische Erkenntnisinteresse der interdisziplinären Erforschung interkultureller Kommunikation handhabbaren Tabubegriff zu formulieren suchte, den er sodann anwandte auf eine kritische Mediendiskursanalyse der im Vorfeld der französischen Präsidentschaftswahlen gerade in Frankreich (aber auch in der Schweiz und in Deutschland, dort im Zusammenhang mit der Auseinandersetzung mit den Thesen Sarrazins) erregt geführten sog. Burka-Debatte.

SERGE GLITHO (Lomé), der togolesische Literaturwissenschaftler und (als Nachfolger des Reinmar-Lüst-Preisträgers der Alexander von Humboldt Stiftung David Simo aus Kamerun) neue Präsident des Germanistenverbandes im afrikanischen Subsahel (GAS), widmete sich in seinem Plenarvortrag der Aidsmetaphorik oder ästhetische[n] Modellierung von Aids-Tabus in deutschsprachigen und afrikanischen Aids-Romanen. Sein Vortrag zielte darauf ab zu untersuchen, wie afrikanische und deutschsprachige Schriftsteller in ihren Romanen das ›Tabu-Thema AIDS‹ ästhetisch modellieren. Anhand einer vergleichenden Analyse der Romane Reto, HIV-Positiv der Zürcher Schriftstellerin Maja Gerber-Hess und Die achte Plage des kenianischen Autors Meja Mwangi arbeitete Glitho die wesentlichsten Metaphernfelder des literarischen AIDS-Diskurses heraus (wie Natur- und Naturkatastrophenmetaphorik, Krankheitsmetaphorik, religiöse Metaphorik, Personifizierungen, Kriminalitäts- und Kriegsmetaphorik).

Aus linguistisch-interkultureller Sicht untersuchte PETER COLLIANDER (Kopenhagen) in seinen daran anschließenden Plenarvortrag Das Brechen von Tabus am Beispiel des sog. Karikaturenstreits in Dänemark (und anderswo). Ausgehend von Ernest W.B. Hess-Lüttichs gründlicher Rekonstruktion dieses Konflikts2 fragte er sich, ob und inwieweit Objektivität überhaupt möglich sei und wo ihre Grenzen lägen. Ohne auf den Gegenstand seiner Analyse – die Karikaturen selbst – direkt einzugehen (sei es aus Gründen vorauseilender Selbstzensur oder höflicher Zurückhaltung gegenüber den Gastgebern), plädierte Colliander angesichts der weltweiten (und anhaltenden) Folgen dieses Konflikts dafür, selbst in den problematischsten Fällen interkultureller und zwischengesellschaftlicher Meinungsunterschiede den Dialog nicht aufzugeben, sondern ihn im Gegenteil im Dienste der interkulturellen Verständigung vielmehr zu intensivieren, auf dass ein Austausch über die Grenzen der Kulturen und Gesellschaften möglich bleibe und die Konsequenzen von Grenzüberschreitungen (hier: Tabubrüchen) deutlich würden, bevor sie fatale Folgen hätten.

Im fünften Plenarvortrag unternahm ABDELAZIZ BOUCHARA (Casablanca) den Versuch, am Beispiel des Umgangs mit Tabus ›Höflichkeit‹ als ein interkulturelles Verständigungsphänomen zu exponieren und zu zeigen, wie es bei Begegnungen zwischen Deutschen und Arabern problematisch werden könne. Er kritisierte am traditionellen Fremdsprachenunterricht, dass Tabus dort noch immer praktisch keine Rolle spielten und plädierte nachdrücklich dafür, Fremdsprachenlernende auf allen Stufen des Lernens für interkulturelle Unterschiede zu sensibilisieren, etwa durch Aufmerksamkeitsübungen im Sinne der Forschungen zur sog. Language awareness, die geeignet seien, Tabus so zu veranschaulichen, dass die Lernenden angemessen vorbereitet seien für den Umgang mit ihnen in der Zielsprache.

Im letzten Plenarvortrag fragte der renommierte Philosoph GEORG MEGGLE (Leipzig) Was ist Terrorismus?. Im Arsenal der semantischen bzw. begrifflichen Kriegsführung, argumentierte er, rangiere der ›Terrorismus-Diskurs‹ unter den tödlichsten Waffen. Einige (wie Tomis Kaplan) sprächen schon vom »Terrorismus des ›Terrorismus‹«. Deshalb sei es an der Zeit, diesen ›Terrorismus zweiter Stufe‹ durch die Frage zu beenden, die seinem Vortrag den Titel gab. In Abweichung von der gängigen Praxis schlage er vor, ›Terrorismus‹ (oder den Basis-Term ›T-Akt‹) strikt neutral zu definieren. Ein rationales Nachdenken über ›Terrorismus‹ müsse sich von allen in diesen Begriff bereits eingebauten Doppel-Standards befreien. Erst die (für einige vielleicht provozierende) strikt logico-semantische Argumentation für die Anwendung derart neutraler ›T-Definitionen‹ vermöge das Reden über Terrorismus seiner konnotierten ideologischen Implikationen zu entkleiden.

Es ist hier nicht der Raum, über die Fülle der Sektionsvorträge im Detail zu berichten, aber es seien wenigstens im Überblick die Referenten und ihre Beiträge genannt, die sich auf zwei Sektionen aufteilten, nämlich eine (I) mit den Referaten zu Literatur und Medien (unter der Leitung von Dieter Heimböckel, Manar Omar, Reda Kotb, Siegfried Steinmann und Aleya Khattab) und eine zweite (II) zu Sprache und DaF (unter der Leitung von Ernest W.B. Hess-Lüttich, Dmitrij Dobrovol’skij, Sayed Hammam, Eva Neuland, Klaus Altmayer und Randa Elnashar).

Da der Berichterstatter nicht in zwei Sektionen gleichzeitig anwesend sein konnte, sei ihm erlaubt, sich auf der Grundlage der Zusammenfassungen der Referenten im Wesentlichen auf die Titel der Vorträge zu konzentrieren und im Übrigen auf den Band zum Thema zu verweisen, der aus dem Kolloquium hervorgegangen ist und wie alle GiG-Publikationen seit 2007 in der Reihe Cross Cultural Communication erscheint.3 Es versteht sich, dass dieser Bericht den Verlauf des Kolloquiums dokumentieren soll; der erwähnte Band wird und muss daraus nur eine (thematisch etwas anders gegliederte) Auswahl präsentieren.

SEKTION I (Literatur und Medien) wurde eröffnet mit einem Referat von HEBATALLAH FATHY (Kairo) über Die Literarisierung von Tabubrüchen in Gamal Al-Ghitanis Az-Zeini Barakat (1974) und Herta Müllers Herztier (1994), an das sich das von SIMPLICE AGOSSAVI (Abomey) über Kulturelle Selbstvergewisserung und Selbstentwicklung im Medium von Ritus und Tabu am Beispiel des Werks Siddhartha von Hermann Hesse anschloss. RARIK A. BARY (Kairo) hatte seinen Beitrag mit dem Titel Ohne Hemmung, ohne Scheu, ohne Reue: Bruch mit allen Tabus überschrieben, während Claudia Liebrand (Köln) über Tabubruch in Rainer Maria Fassbinders Melodrama Angst essen Seele auf (1974), ABDO ABBOUD (Damaskus) über Tabuisierung und literarische Rezeption und MENSAH WEKENON TOKPONTO (Abomey) über Tabus und tabuisierte Handlungen in deutschen und afrikanischen Märchen sprachen.

Am zweiten Tag wurden in dieser ersten Sektion die folgenden Vorträge gehalten: MANAR OMAR (Kairo): Tabuisierte Rituale und ritualisierte Tabus. Die deutsch-türkische Literatur und Filmszene; DIETER HEIMBÖCKEL (Luxemburg): Gegen die Norm. Fatih Akins Film der doppelten Kulturen; ERNEST W. B. HESS-LÜTTICH (Bern): Migration und Tabu, Identität und Subkultur. Bilder der Männlichkeit im deutsch-türkischen Film am Beispiel von Kutlug AtamansLola und Bilidikid (1998); MICHAEL HOFMANN (Paderborn): Sexualität zwischen Ritual und Tabu. Literarische Modellierung interkultureller Differenzen in den Romanen Emine Sevgi Özdamars; VANESSA TUNCER (Paderborn): »Ihre erste Erektion war für Robert sehr schmerzhaft«. Tabus als Bedeutungsknoten von Kultur und Geschlechtsidentität in Zafer Şenocaks Roman Der Erotomane (1999); ASSEM EL AMMARY (Kairo): Glücksformel zwischen Ritual und Tabu im arabisch- und deutschsprachigen Kulturraum; MEHER BHOOT (Mumbai): Hinter der multikulturellen Welt in Damaskus in Rafik Schamis Die dunkle Seite der Liebe (2004); JULIA GENZ (Essen-Duisburg): Kitsch – eine Kategorie von Ritus und Tabu?

Die Sektion wurde am dritten Tag fortgesetzt mit den Beiträgen von IBRAHIM ABD ELLA (Minia): Wie kann ein Dialog zwischen »westlichen« und »islamischen« Kulturen gelingen?; SARA DUANA MEYER (Osnabrück): haram – an der Schwelle schreiben. Betrachtungen zum Topos Harem in der westlichen Imagination und der islamischen Tradition; SIEGFRIED STEINMANN (Leipzig): Symbolische Kompetenz, Form als Bedeutung und (Re-)Konstruktion von Ritualen in narrativen Kontexten; BIRGIT SCHUHBECK (München): Tabu als Ästhetik der Modernität. Über den Zusammenhang von Drama, Theater und Gesellschaft; SAYED FATHALLA (Kairo): Deutsche Dichter gegen Tabus. Beitrag der engagierten Dichtung zum Verständnis der modernen deutschen Mentalität; KATE ROY (Lausanne/Berlin): »Das Herz läßt […] die Verfasserin mehr sprechen, als es den Leser zu fesseln vermag«: Emily Ruetes Memoiren einer arabischen Prinzessin als Tabubruch; BERND BLASCHKE (Berlin): Interkulturelle Hochzeitskomik. Tränen/Lachen über Rituale und Tabus in interkulturellen Hochzeitsfilmkomödien; DETLEF GWOSC (Mittweida): Eine feste Burg ist unser Fernsehprogramm. Zur Ritualisierung der Fernsehnutzung in Deutschland – Voraussetzungen und Wirkungen.

SEKTION II (Sprache und DaF ) begann mit der Frage Wie drückt man Tabus (nicht) aus? von RANDA ELNASHAR (Kairo). Anschließend widmete sich MOSSAAD EL BITAWY (Minia) dem Tabuistisch-evaluative[n] Wortbestand zwischen kultureller Referenz und pragmatischer Wirklichkeit im Rahmen der deutschen und arabischen Kultur und MOHAMMED LAASRI (Fes) untersuchte Schweigen und Tabuisierung in der Familie und in der Gruppe in der marokkanischen Gesellschaft. GESINE LENORE SCHIEWER (Bern/München) fragte Was sind kulturelle Grenzen und wie kann man sie überwinden?, wobei sie Interkulturelle Kommunikation als kontakt- und konfliktlinguistische Herausforderung verstand. EVA NEULAND und ECKEHARD CZUCKA (Wuppertal) berichteten über Ergebnisse des von ihnen gemeinsam mit ägyptischen Kollegen entwickelten Masterstudiengangs Interkulturelle Kommunikation am Germanistik-Department der Universität Kairo.

Der zweite Tag umfasste in der Sprachsektion die folgenden Beiträge: MICHAEL FISCH und TAREK MAHMOUDI (Tunis): Gestiken, Mimiken und Geräusche – Interkulturelle Kommunikationsformen in einem tunesisch-deutschen Vergleich; BÉCHIÉ PAUL N‘GUESSAN (Abidjan): Die Anerkennung der afrikanischen Ritualdichtung in der deutschen Avantgarde als erste Schritte in der interkulturellen Kommunikation zwischen Deutschland und Afrika; RIHAM TAHOUN (Kairo): Tabus im DaF-Unterricht – Ein Tabu?; ISABELL MERING (Amman): Im Spannungsfeld zwischen Vorurteil und Wissenslücken: Zur Rezeption der Shoah im landeskundlichen DaF-Unterricht in Jordanien; LACINA YÉO (Abidjan): Interethnische Witze als Gegenstand interkulturellen Lernens am Beispiel afrikanischer und europäischer Witze; MAHMOUD HAGGAG (Kairo): Zur Verbindung zwischen Arabisch und Islam und ihre Auswirkung auf interkulturelle Kommunikation; AKILA AHOULI (Lomé): Tabuformen und ritualisierte Strategien ihrer Umgehung in Oralgesellschaften im Übergang zur Schriftkultur, dargestellt an Beispielen afrikanischer und deutschsprachiger Erzähltexte.

Mit acht Vorträgen bot auch der dritte Tag der Sprachsektion ein volles Programm: ULRIKE A. KAUNZNER (Ferrara) berichtete über Tabudiskurse in der Sprechwirkungsforschung am Beispiel des Normbruch[s] durch phonetische Interferenzen; DMITRIJ DBROVOLSKIJ und ARTEM SHARANDIN (Moskau) lieferten zahlreiche Beispiele für Sigmund Freuds Sexualwortschatz aus ihrem großen deutsch-russischen Parallelkorpus zu dessen Traumdeutung; SAYED HAMMAM untersuchte Variabilität und Auswirkung der Tabus und Rituale in Ägypten. Nach der Mittagspause nahm sich HASSAN RAMADAN (Kairo) noch einmal des Tagungsthemas an am Beispiel religiöser und alltäglicher Rituale im Zusammenhang von Gottesdienst, Begrüßung, Hochzeit, Begräbnis, Aufnahmefeier usw.; JEAN-CLAUDE BATIONO (Koudougou) berichtete über den Umgang mit Ritual und Tabus im DaF-Unterricht in Burkina Faso; REDA KOTB (Kairo) zeichnete Das Bild der muslimischen Frau in deutschen Schulbüchern nach; CLAUS EHRHARDT (Urbino) reflektierte den diskursiven Umgang mit (tabuisierten) Depressionen im deutschen Fußball und MARWA BELAL (Kairo) bot zum Abschluss Eine textanalytische Untersuchung von deutschen und ägyptischen Weblog-Texten.

Eine gemeinsame Podiumsdiskussion führte die beiden Sektionen wieder zusammen und schloss das intensive wissenschaftliche Programm der drei Tage regen fachlichen und interkulturellen Austauschs ab. Aus dem von den Teilnehmern dankbar genutzten kulturellen Rahmenprogramm verdienen besondere Erwähnung der Empfang des DAAD im Garten seiner Außenstelle, die höchst lebendige und anschauliche Lesung des Autors Gerhard Haase-Hindenburg aus seinem Buch Verborgenes Kairo – Menschen Mythen, Orte sowie eine unvergessliche Felukkenfahrt auf dem Nil.

Zur kulturellen Bestimmung des Raumes in Text und Film

Bericht über ein GiG-Kolloquium im August 2011 in Bangkok

Ernest W.B. Hess-Lüttich

Nachdem im vorletzten Heft dieser Zeitschrift das Konzept zum Kolloquium der GiG Zur kulturellen Bestimmung des Raumes vom 11. bis 14. August 2011 an der renommierten Chulalongkorn University in Bangkok im Detail vorgestellt worden war,4 kann ich mich an dieser Stelle mit einem kurzen trockenen Bericht über den Ablauf des Kolloquiums begnügen, zumal es an anderen Orten bereits inhaltlich genauer gewürdigt wurde.5 Das Kolloquium gliederte sich in drei Teile, in denen das Thema vornehmlich bearbeitet wurde, und zwar im Hinblick auf (I) Kulturräume (»Literarische Modellierungen des Raumes«), (II) Sprachräume (»Sprachliche Mittel zum Ausdruck räumlicher Relationen«) und (III) Bildräume (»Die Visualisierung des Raumes in Kunst, Film und Neuen Medien«).

Den Eröffnungsvortrag hielt (nach den Grußworten des Universitätspräsidenten, des Dekans der Faculty of Arts, des deutschen Botschafters, des Direktors des Chula Global Networks CGN) der Berichterstatter, ERNEST W.B. HESS-LÜTTICH (Bern/Stellenbosch), der als Präsident der GiG unter dem Titel Spatial turn. Zum Raumkonzept in Kulturgeographie und Literaturtheorie zugleich eine begriffssystematische und literaturtheoretisch-kritische Einführung in die Fragestellungen des Kolloquiums zu bieten suchte, die daher für diejenigen, die nicht teilnehmen konnten, hier etwas ausführlicher rekapituliert sei. Denn die heute ubiquitär gebrauchte Metapher vom Text als ›Raum‹ wirft texttheoretische Fragen auf, die in narratologischem Zusammenhang seit einiger Zeit diskutiert werden und mittlerweile auf weitere textwissenschaftliche Ansätze Auswirkungen zeitigen. So ist nach diversen Linguistic turns, Iconic turns, Cultural turns, Pictorial turns etc. konsequenterweise längst der Spatial turn ausgerufen, der seine Wirkung auch in der Literaturwissenschaft nicht verfehlt hat, in der sich Begriffe wie ›literarische Kartierung‹, ›Mapping‹, ›literarische Topografie‹, ›Heterotopien der Literatur‹ etc. zunehmender Beliebtheit erfreuen. Ihre literaturtheoretische Erörterung scheint dabei freilich bislang weitaus attraktiver als ihre Bewährung in der Anwendung auf konkrete Texte. Während noch unbekümmert begriffliche Konzepte aus andern Disziplinen adoptiert werden, die z.T. in ganz andern terminologischen Netzwerken operieren, bilden sich schon allerlei Neben- und Unterströmungen heraus, die z.B. besonders auf die technischen und kulturellen Repräsentationsweisen von Räumlichkeit abheben (Topographical turn) und nicht zu verwechseln sind mit jenen Bemühungen, die sich auf die Beschreibung literarischer Räume und räumlicher Strukturen in ästhetischen Produkten richten (Topological turn).

Wie im hermeneutischen Bezirk der Philologien nicht ganz überraschend, lassen sich für derlei Versuche natürlich immer viele Vorläufer ausmachen (von Lessing über Ernst Cassirer oder Karlfried von Dürckheim bis zu Otto F. Bollnow, um nur einige exemplarisch zu nennen). Gegenüber solchen (außer Lessing) meist eher subjektzentriert-phänomenologischen Ansätzen fasst Jurij M. Lotman den symbolischen Raum der Literatur bereits als Resultat kulturell bestimmter Zeichenverwendungen auf: indem er ein analoges Verhältnis narrativer Texte als ›abstrakter Wirklichkeitsmodelle‹ zum jeweiligen ›Weltbild‹ einer bestimmten Kultur sieht, überträgt er sein semantisches Raummodell in einen pragmatischen, eben ›kulturhistorisch-lebensweltlichen‹ Kontext.

Der Vortrag schloss an diese Diskussion an, verfolgte sie jedoch über die Disziplingrenzen hinaus zu ihren Ursprüngen in raumbezogenen Geowissenschaften und zeichnete die Veränderungen des Raumbegriffs von der traditionellen Geografie bis zur aktuellen Kulturgeografie summarisch nach. Dazu gehöre etwa die Verräumlichung sozialer Sachverhalte (und deren Visualisierung) und die (oft metaphorische) Übertragung dieses Ansatzes auf andere Wissensbereiche (wie bei Pierre Bourdieus »effets de lieu« als Beispiel für eine ›Raumfalle‹). Die literaturwissenschaftliche Beschäftigung mit dem Raum wurde dann mit diesen aus den Geowissenschaften stammenden Raum-Konzepten konfrontiert und die Ursprünge dieses Interesses im 18. Jahrhundert sowie ihr späteres Fortwirken in zunächst phänomenologisch und dann semiotisch geprägten Ansätzen bis zu den Folgen des sog. Spatial turn in der heutigen literaturtheoretischen Debatte herausgearbeitet.

Im Versuch einer Synthese wurden mögliche Berührungspunkte zwischen literarischen (bzw. literatur- und texttheoretischen) und kulturgeografischen Raumkonzepten sondiert und (unter Rückgriff auf Foucaults »histoire d’espace«) die Prämissen für ein zeitgenössisches Verständnis von ›Raum‹ im Zeichen der Spannungsbalance von Globalisierung und Regionalisierung, von ortlosen medialen Netzen und lokaler Identitätsbehauptung profiliert, um schließlich literarische Texte als Medien kulturspezifischer Kodierungen und Symbolisierung von ›Raum‹ zu exponieren.

Der resümierende Vergleich kulturgeografischer und literaturtheoretischer Konzeptualisierungen räumlicher Relationen sicherte auch den Boden für eine kritische Reflexion mancher aktueller Bemühungen, die zuweilen zur »literatouristischen Illustration« taugen mögen, aber keineswegs immer den theoretischen Ansprüchen genügen, die sie selbst formulieren. Umgekehrt scheine das Erkenntnis-Potential einer Kooperation zwischen kulturgeografischen und literarischen Topografien bislang ebenso wenig ausgeschöpft wie das einer semiotischen Integration topologischer Relationen in (literarischen) Texten als modellbildenden Systemen (im Sinne Jurij Lotmans), die als abstrakte (ästhetische) Wirklichkeitsmodelle auf das Weltbild einer jeweiligen Kultur verweisen. Insofern literarische Texte als Medien kulturspezifischer Selbstauslegung gelesen werden könnten und als Zeugnisse veränderter (und veränderlicher) Raumwahrnehmungen, gewinne das Interesse an literarischen Räumen zudem Bedeutung für eine zeitgemäße Konzeptualisierung gerade auch interkultureller Germanistik.6

Der zweite Plenarvortrag von NORBERT MECKLENBURG (Köln) zum Thema Glokalisierung – ein Raumkonzept für interkulturelle Literaturwissenschaft konnte an diese Überlegungen anknüpfen und sie kritisch fortentwickeln. Der Prozess der Globalisierung, argumentierte der Referent, beeinflusse auch Erfahrung, Konstruktion und Repräsentation von Raum und Räumen in Kultur und Medien. Einige Aspekte seiner Dialektik würden heute mit Hilfe der Begriffshybride ›Glokalisierung‹ thematisiert, in der Globales und Lokales zusammengedacht seien. Es sei zu prüfen, ob damit für die Kulturwissenschaften, namentlich für die interkulturelle Germanistik, ein neues Raumkonzept vorliege. Dieses müsse sich, literaturwissenschaftlich konkretisiert, theoretisch im Rahmen der Semiotik und Topologie des literarischen Raums bewähren, hermeneutisch an Phänomenen literarischer Repräsentation u.a. von Heterotopie, Territorialität bzw. Transterritorialität, symbolischer Ortsbezogenheit oder ›Weltoffenheit‹. Beispiele für solche Phänomene liefere ebenso wie die vielfältige ›Migrationsliteratur‹ auch die ›regionalistische Internationale‹ in der modernen Weltliteratur, die ›Glokalität‹ in Gestalt von literarischer Kunst verkörpere.7

Von sprachwissenschaftlicher Seite aus untersuchte DMITRIJ DOBROVOLSKIJ (Moskau) von der Russischen und der Österreichischen Akademie der Wissenschaften im dritten Plenarvortrag unter dem Titel Raum im Traum die Spatiale Symbolik in Sigmund Freuds Die Traumdeutung. Ausgehend von der Prämisse, dass spatiale Dimensionen in der Traumstruktur eine entscheidende Rolle spielten, legte der Referent überzeugend dar, dass auch die Interpretation der Träume auf ihre lokative Komponente immer schon einen großen Wert gelegt habe. Oft würden den Traum-Loci symbolische bzw. metaphorische Bedeutungen zugeschrieben. Sigmund Freud gehe in der Traumdeutung gleich mehrmals explizit darauf ein. So werde z. B. ein ›Haus‹ oft als Symbol »für den ganzen Organismus« gesehen. Auch eine Häuserreihe könne in diesem Sinne interpretiert werden. »Andere Male stellen einzelne Teile des Hauses«, zitierte Dobrovol’skij aus der freudschen Traumdeutung, »wirklich einzelne Körperteile dar, so z.B. im Kopfschmerztraum die Decke eines Zimmers (welche der Träumer mit ekelhaften krötenartigen Spinnen bedeckt sieht) den Kopf«. In der Tat habe sich die freudsche Tradition der Traumdeutung inzwischen international so stark durchgesetzt, dass sich die entsprechenden symbolischen Interpretationen als Elemente der europäischen Kultur und als Fakten der betreffenden Sprachen etabliert hätten. In seinem Vortrag ging der Referent insbesondere und im Detail auf die Begriffe ›Haus‹, ›Zimmer‹, ›Wohnung‹, ›Hof‹, ›Treppe‹, ›Pfad‹, ›Turm‹, ›Kirche‹ und ›Friedhof‹ ein und deutete sie vor dem Hintergrund ihrer Entsprechungen in russischen und englischen Übersetzungen der Traumdeutung mit dem Fokus auf den ihnen zugrunde liegenden spatialen Konzepten.

Die drei thematischen Stränge des Kolloquiums wurden sodann in zwei parallel tagenden Sektionen zusammengefasst, an denen der Berichterstatter nicht jeweils gleichzeitig teilnehmen konnte. Deshalb seien im Folgenden (auf der Grundlage der Zusammenfassungen der Referenten) fairerweise gleichgewichtig im Wesentlichen nur die Themen der Vorträge kurz skizziert und im Übrigen auf den Band zum Thema verwiesen, dessen Erscheinen für Ende 2012 annonciert ist und der jene Kapitel enthalten wird, die nach einer strengen Auswahl (im Peer-review-Verfahren) aus den in Bangkok gehaltenen Referaten hervorgegangen sind.8

SEKTION I (Literatur und Kultur) – in wechselnder Besetzung geleitet von Hans-Christoph Graf v. Nayhauss, Teruaki Takahashi, Sinaida Fomina, Gunther Pakendorf, René Kegelmann und Thomas Schwarz – wurde eröffnet mit einem einführenden Referat von SINAIDA FOMINA (Woronesch) mit dem Titel Zur kulturellen Bestimmung des Raumes in literarischen Texten deutscher, österreichischer, schweizerischer und russischer Autoren, in dem die Referentin an etlichen Beispielen aus Texten u.a. von Iwan Bunin, Walentin Rasputin, Tschingis Ajtmatow, Wasilij Below, Viktor Astaf ’ew einerseits und von Erich Loest, Max Frisch, Barbara Frischmuth, Friedrich Dürrenmatt, Christoph Hein, Brigitte Schwaiger sowie Barbara Noack andererseits auf die Analyse kognitiver Raum- und Naturmetaphern abhob, die für die russische und deutschsprachige Literatur der Moderne kennzeichnend seien.

RENÉ KEGELMANNS (Schwäbisch Gmünd) Beitrag Zur mehrkulturell strukturierten Raumdarstellung bei Melinda Nadj Abonji untersuchte den aktuellen Roman Tauben fliegen auf (2010) der ungarisch-serbischen Zürcher Autorin im Hinblick auf die darin zentrale interkulturell strukturierte Raumdarstellung, wie sie für eine in Mittelost- bzw. Südosteuropa wurzelnde Strömung innerhalb der deutschsprachigen Gegenwartsliteratur charakteristisch sei, die von Autoren und Autorinnen wie Terézia Mora, Marica Bodroziç, Ilma Rakusa, Herta Müller (und eben Melinda Nadj Abonji) geprägt werde.

ANTJE JOHANNING-RADŽIENĖ (Vytautas/Kaunas) entdeckte die Kartierungsstrategien und ästhetische Raumaneignung im Kolonialdiskurs über Litauen im Ersten Weltkrieg und warf die Frage auf, ob und in welcher Weise sich literarische und bildkünstlerische Perspektiven auf Litauen unterschieden von den ›offiziellen‹ geopolitischen Mapping-Strategien und wie sich politische und ästhetische ›Raummodellierungen‹ divergierender Repräsentationsformen bedienten. THOMAS SCHWARZ (Neu-Delhi) interessierte am Beispiel u.a. von Willy Seidels Samoa-Roman Der Buschhahn (1921) und Erich Scheurmanns Zweierlei Blut (1936) Die literarische Modellierung Samoas als »Perle« der deutschen Südsee und wie der ozeanistische Diskurs den zu kolonisierenden Raum präfiguriere und sich so auf die koloniale Praxis auswirke. PORNSAN WATANANGURA (Bangkok) las Hermann Hesses Die Morgenlandfahrt als Spiegelbild der Suche nach Selbsterkenntnis aus buddhistischer Perspektive und entdeckte in der Diskussion über die Pilgerfahrt in den Orient Bezüge sowohl auf die religiöse Fahrt in den Okzident des Mahayana Mönchs Xuangzang im 7. Jahrhundert während der Tang-Dynastie als auch auf die fiktionale Abendlandfahrt Xuangzangs, eines chinesischen Dichters im 16. Jahrhundert, die Hesses Die Morgenlandfahrt als ein Spiegelbild der buddhistischen Episode von Die Abendlandfahrt erscheinen ließen.

HANS-CHRISTOPH GRAF VON NAYHAUSS-CORMONS (Karlsruhe) skizzierte den Raum als Denkform in Mariam Kühsel-Hussainis afghanischem Debüt-Roman Gott im Reiskorn, während ZEHRA İPŞIROĞLU (Duisburg) unter dem Titel Räume – Genderrollen – Kulturdifferenzen auf der Grundlage von Lebensgeschichten junger Migrantinnen, fiktionalen Texten Studierender ›mit Migrationshintergrund‹ und literarischen Texten türkischer und deutscher Autoren danach fragte, in welchem Maße Räume menschliche Entfaltungsmöglichkeiten bestimmen und welche Rollen dabei Männern und Frauen zugeteilt werden. ANTOANETA MIHAILOVA (Blagoevgrad) berichtete über Leben und Werk des bekennenden jurassischen Provinzlers Gerhard Meier und sein Leben in der Kleinräumigkeit; LACINA YÉO (Abidjan) widmete sich der Frage, inwiefern deutschsprachige Autoren der ›Afrika-Literatur‹ und afrikanische Autoren der ›Deutschland-Literatur‹ eine interkulturelle ›Zwischenraum-Position‹ einnehmen.

Der in Orham Pamuks Roman Schnee (2002) thematisierte Ort, an dem Allah nicht ist diente ARATA TAKEDA (Tübingen) zur Erörterung von Vorstellungen virtueller Räumen, die – sprachlich und literarisch – jenseits des empirischen Lebensraumes entworfen werden und aufgrund ihres grenzüberschreitenden Charakters zugleich fließende Übergänge zu realen Räumen bieten. Sein Beitrag entwarf ein Konzept der Transspatialität, indem er nach Funktionen, Techniken und Auswirkungen solcher Raumpraktiken fragte: wie funktionieren räumliche Projektionen, die ihre Projektionsräume im Lichte einer transarealen Perspektive erst im Kulturellen generieren müssen, welches sind die Raumtechniken im Spannungsfeld von Himmelreich und Cyberspace und was leisten sie zur Verortung des Virtuellen und des Seienden in einem fluktuierenden Ganzen?

Unter dem Titel Zeittafel oder Landkarte schlug TERUAKI TAKAHASHI (Tokyo) im Rahmen seiner Konzeption einer ›kontrastiven Kulturkomparatistik‹ vor, den linear-historisch modellierten Vergleich interkultureller Beziehungen durch eine dreidimensionale Kartografie räumlicher Ordnungen zu ergänzen. GUNTHER PAKENDORF (Kapstadt) untersuchte die Poetik der Exterritorialisierung in Werken von W. G. Sebald, in denen die Ich-Erzähler ständig unterwegs sind (als Reisender in Norditalien und den Alpen in Schwindel. Gefühle [1990], in England auf der Wanderschaft in Die Ringe des Saturn [1995], als fahrender Geselle postmodernen Zuschnitts in Austerlitz [2001]), was eine Narrativik der Dialogizität zur Folge habe, in der räumliche Differenzierung die zentrale Metapher bilde. Interkulturelles Erzählen oder orientalische Klischees?, fragte MANFRED DURZAK (Paderborn) in seiner kritischen Lektüre des Thailand-Romans Das siamesische Dorf von Eva Demski (2006), während CORNELIA SPRINGER (Busan) den zentralen Stellenwert der Grenze als Bedingungsfaktor von Raum und Grenzraum als Ort interkultureller Begegnung anhand etlicher Beispiele der sog. interkulturellen Literatur (also deutschsprachiger Werke von Autoren nicht-deutscher Muttersprache wie Emine Sevgi Özdamar, Yoko Tawada oder Marica Bodrožić) herausarbeitete.

KATHERINE ROY (Liverpool) untersuchte Die Vermittlung von Innenräumen in alten und neuen deutschsprachigen Harem-Erzählungen und verglich populäre aktuelle Texte muslimischer Autorinnen mit den 1886 in Berlin erschienenen Memoiren einer arabischen Prinzessin, nämlich der (1844 als Salme, Prinzessin von Oman und Sansibar geborenen) Emily Ruete. EVELYN BREITENEDER (Wien) von der Österreichischen Akademie der Wissenschaften nahm in ihren Anmerkungen zur Raumbestimmung bei Thomas Bernhard Bezug auf die Rezeptionsgeschichte seines Stücks Heldenplatz, das (datiert auf »März 1988«) zugleich einen historischen Schauplatz aufruft, an dem Adolf Hitler (am 15. März 1938) einer grölend jubelnden Masse den Anschluss Österreichs an das Deutsche Reich verkündete; die mehrfachen Spiegelungen des Raumes (historischer Raum, öffentlicher Raum, Bühnenraum, Topografie von Wien) wurden im tragenden wie im übertragenen Sinne suggestiv herausgearbeitet. NAHLA MAMDOUH MAHMOUD HUSSEIN (Kairo) verglich (auf der Grundlage von Ansätzen des französischen Historikers Pierre Nora und der Konstanzer Anglistin Aleida Assmann) den Kulturraum Heimat in Martin Mosebachs Roman Das Beben (2005), in dem die Schauplätze der Handlung zwischen Indien und dem Bahnhofsviertel in Frankfurt wechseln, und in dem Roman Das Erdbeben (1974) des algerischen Autors al-Taher Wattar, der in der Einleitung zu seinem Roman Al-Walî al-tâhir (2003) die Bedeutung des Raumes für sein Werk selbst unterstreicht.

In SEKTION II (Sprache und Medien) – geleitet von Joachim Warmbold, Korakoch Attaviriyanupap, Yoshito Takahshi, Anchalee Topeongpong, Amrit Mehta und Noraseth Kaewwipat – ergänzte zunächst ARTEM SHARANDIN (Moskau) im Anschluss an den Plenarvortrag von DMITRIJ DOBROVOL‘SKIJ dessen Analyse der Spatiale[n] Symbolik in Sigmund Freuds Die Traumdeutung um konkrete Beobachtungen zur »Deixis am Phantasma« am Beispiel von Lokaladverbien (hier versus da/dort) ergänzte. MICHAEL SZURAWITZKI (Vaasa/Siegen) bot eine linguistische Analyse des Eingangskapitels von Hermann Hesses Siddharta mit einer semantisch-pragmatischen Okkurrenzanalyse des Lexems Schatten.

In seinem schönen Traktat über Garten und Utopie legte YOSHITO TAKAHASHI den utopischen Gedanken in der mitteleuropäischen und fernöstlichen Landschaftsarchitektur frei und arbeitete deren konzeptionellen Unterschiede heraus. Dazu passend reflektierte Yuho Hisayama die Begriffe ki (気) und keshiki (景色) in der japanischen Sprache, deren zweiter nicht einfach mit ›Landschaft‹ übersetzt werden dürfe (wie meist in japanisch-deutschen Wörterbüchern), sondern der auf den Zwischen-Raum von Subjekt und Objekt verweise, was er anhand von Texten von Sôseki Natsume sowie ästhetischen Analysen der Landschaft durch deutsche Dichter und Denker (Kant, Goethe, Alexander v. Humboldt, Rilke, J. Ritter) zu illustrieren vermochte. HANNO BIBER (Wien) von der Österreichischen Akademie der Wissenschaften berichtete auf der Grundlage eines umfangreichen Textkorpus zum Wiener Ringstraßenkorso aus der Zeit um das Fin-de-siècle über die literarische Darstellung des Stadtraums u.a. in Karl Kraus’ Die letzten Tage der Menschheit (1915–1922).

MOSSAAD EL BITAWY (Al-Minia) bot eine kontrastivlinguistische Untersuchung zur sprachlichen Bestimmung der Raumidentität in Deutschen und Arabischen, während KORAKOCH ATTAVIRIYANUPAP (Bangkok) die Lokaldeixis im Deutschen (durch Lokaladverbien wie hier, da, dort) und Thailändischen (durch Demonstrativa wie thi˘^ni˘^, thi^˘na^n, thi^˘no^˘n) miteinander verglich. Demgegenüber fragte NORASETH KAEWWIPAT (Bangkok), ob das Thailändische Präpositionen zum Ausdruck raumzeitlicher Relationen brauche: Im Deutschen hochfrequent, scheinen sie im Thailändischen vergleichsweise selten, wenn es sie denn überhaupt als solche gebe. NIHAN DEMIRYAY (Cannakkale) verglich Formelhafte Äußerungen im Deutschen und Türkischen (am Beispiel von Routineformeln bzw. Sprechakten z.B. des Grüßens, Dankens, Bittens, Entschuldigens, Wünschens).

Unter dem Titel In unserer vertrackten Konjunktion gab es nur eins: den Schnee und dein: Ich geh lieferte ANJA KATHARINA SEILER (Knoxville) ihre sprachlichen Beobachtungen Zur performativen Mehrsprachigkeit in Ilma Rakusa‘s Lyrikband Love after Love. Deren transitorische Schreibstrategie positioniere ihre Gedichte an der Grenze von bilingualen Linguagrafien, sie zeige eine starre Subjekt-Objekt-Zuschreibungen aufbrechende Performativität von Identität über Sprache; im Kontext von Mehrsprachigkeit, Performativität und interkultureller Liebe fragte Seiler vor allem danach, welche sprachlichen Ausdrucksmöglichkeiten bzw. Handlungsräume das mehrsprachige Schreiben eröffne und welche Funktion eine multilingual-poetische Interkulturalität einnehmen könne. Aus translationswissenschaftlicher Perspektive widmete sich AMRIT MEHTA (Heyderabad) dem schwierigen Problem der Übersetzung von Humor von einem Kulturraum in einen anderen.

Auf die überwiegend linguistisch orientierten Beiträge der zweiten Sektion an den ersten beiden Tagen folgten schließlich am letzten Tag die zu den Medientexten (meist Literaturverfilmungen in diversen Medien). PETER ZIMMERMANN (Wuppertal) verzeichnete eine Strategie der Blicke in der »Modellierung von Weltbildern durch die Fernsehberichterstattung«, die sich als von den eigenen ethnozentrischen, kulturellen und politischen Vorurteilen, Intentionen und Projektionen geprägt erweise, wie sich in der Stereotypisierung ganzer Völker, Kontinente und Kulturen zeige, aber auch im Wandel dominanter Leitperspektiven (Islamdebatte usw.). SWATI ACHARYA (Pune) untersuchte Konstellationen urbaner Räume in den Filmen von Fatih Akin, Thomas Arslan, Ayse Polat, Detlev Buck, wobei sie vor allem die Semiotik der Kulturräume in den Metropolen – und wie darin Aggression und Anonymität das Leben und Überleben der ›Metromenschen‹ beeinflusse – ins Zentrum ihrer Beobachtungen rückte. ANCHALEE TOPEONGPONG (Bangkok) interessierte demgegenüber, wie der thailändische Film Homrong (2004) die Dimensionen Raum und Zeit kulturtypisch modelliere. MEHER BHOOT (Mumbai) beschrieb die Orte interkultureller Begegnung in Fatih Akins Film Auf der anderen Seite (2007) im topografischen Dreieck zwischen den Städten Bremen, Hamburg und Istanbul, in dem sich die Identitäten der Protagonisten als Migranten in Deutschland ausforme, womit die Referentin insbesondere auf die Kategorie des Raumes im Hinblick auf Integration und Heimat(-losigkeit) abzielte.

Mit ihrem Beitrag Die Repräsentation des filmischen Raumes im Hörfilm verfolgte NILGIN TANIS POLAT (Izmir) eine auch methodisch interessante Spur, indem sie die Transformation des multimedialen Textes eines Films in den auditiven Text eines ›Hörfilms‹ für Blinde und Sehbehinderte analysierte, in dem die visuellen Informationen in sprachliche Zeichen übersetzt werden: solche ›Audiodeskriptionstexte‹ müssten einerseits sehr ausführlich sein, damit der Nichtsehende sich vergegenwärtigen könne, was dem Sehenden visuell geboten werde; andererseits sollten sie jedoch in kurz gefasste Textteile komprimiert werden, weil sie in einer sehr kurzen Zeitspanne übermittelt werden müssten. Aus interkultureller Perspektive ist es nun interessant, wie die (in diesem Falle deutschen und türkischen) Audiodeskriptoren mit diesem strukturellen Dilemma umgehen und wie ihre Raumbeschreibungen möglicherweise eine kulturell geprägte Sichtweise reflektieren.

Zum Abschluss zeigte JOACHIM WARMBOLD (Tel Aviv) Urbane Alternativen auf: In seinem Beitrag Zur Verortung (homo-)erotischer Freiräume in Literatur und Film am Beispiel von Christopher Isherwoods Berlin-Erzählungen und dem Fernsehfilm Christopher und Heinz: Eine Liebe in Berlin (2011) thematisierte er die Großstadt als urbanen Raum, der von jeher Anziehungspunkt für Homosexuelle gewesen sei, weil er Auswege eröffnete aus der sozialen und sexuellen Repression in heteronormativ bestimmtem Kontext. Am Beispiel der Erzählungen Mr. Norris steigt um (1935) und Leb wohl, Berlin (1939) von Christopher Isherwood lasse sich die Bedeutung ermessen, die den »secret spaces, commensurate with urban space and […] sexual experiments« (Bruce Benderson) in zeitgenössischen Beschreibungen einer Gay culture zukomme. Isherwoods Thema wurde fast 80 Jahre später von dem britischen Regisseur Geoffrey Sax in dessen Fernsehfilm Christopher und Heinz. Eine Liebe in Berlin wieder aufgegriffen. Warmbold diskutierte beim Vergleich der Texte (Erzählung und TV-Film), inwieweit es Sax gelinge, die für Isherwoods Erzählungen so bedeutsamen »spatial structures« (Benderson) filmisch zu realisieren, also inwieweit sich der Filmraum vom literarischen Raum unterscheide und welche Rolle das voyeuristische Element spiele, das sich zwangsläufig mit diesem Film verbinde, der Einblick mittels Rückblick verschaffe. Im Ausblick freilich zeichne sich in den Städten auch die Gefährdung, ja der fortschreitende Verlust der bei Isherwood so eindringlich beschriebenen urbanen Freiräume mit all ihren Möglichkeiten ab: die weniger befriedigende Alternative sei der kritischen Studie Sex and Isolation von Bruce Benderson zufolge der virtuelle Raum des Cyberspace.9

An den Abenden nach den anstrengenden Tagen voller engagierter Diskussionen boten die Botschafter Deutschlands, Österreichs und der Schweiz im reizvollen Ambiente der Residenz des deutschen Botschafters und das Goethe-Institut in seinem wunderschönen Garten Gelegenheit zur Fortsetzung der Gespräche in entspannter Atmosphäre. Eine von den Teilnehmern dankbar vermerkte namhafte Unterstützung des thailändischen Außenministeriums aus Anlass des 150. Jubiläums der deutsch-thailändischen diplomatischen Beziehungen trug ebenfalls zum Gelingen der Tagung bei. Als krönenden Abschluss des Kulturprogramms empfanden die Teilnehmer einen Ausflug nach Amphawa in der Provinz Samut Songkram mit dem Besuch ehrwürdiger Tempel (Wat Ban Khung) und instruktiver Museen. Dass das Kolloquium von allen als so großer Erfolg empfunden wurde, ist neben der fachlichen Qualität der Vorträge und der finanziellen Unterstützung von deutscher (DAAD) und thailändischer Seite nicht zuletzt auch seiner perfekten Organisation von Pornsan Watanangura mit ihren guten Verbindungen und ihrem Assistenten Athikhom Saenchai mit seinem unermüdlichen Einsatz zu danken.

Anmerkungen

1 Vgl. die Einladung auf der Homepage der GiG unter http://www.germanistik.unibe.ch/gig/seiten/news.htm und auf der Homepage des Kairoer DAAD-Büros unter http://Kairo.daad.de/de/news/ankuendigungen. Das Konzept dazu wurde gemeinsam von den Organisatoren dieser Tagung Aleya Khattab, Ernest W.B. Hess-Lüttich und Siegfried Steinmann (unter Mitwirkung von Andreas Wutz) entwickelt.

2 Vgl. Ernest W.B. Hess-Lüttich: Karikatur-Krisen. Eine Mediendebatte über Islam-Satire. In: Dieter Heimböckel u.a. (Hg.): Zwischen Provokation und Usurpation. Interkulturalität als (un-)vollendetes Projekt der Literatur- und Sprachwissenschaften. München 2010, S. 163–190.

3 Ernest W.B. Hess-Lüttich/Aleya Khattab/Siegfried Steinmann (Hg.): Zwischen Ritual und Tabu. Interaktionsschemata interkultureller Kommunikation in Sprache und Literatur. Frankfurt a.M. u.a. [Cross Cultural Communication 22] (in Vorbereitung).

4 Vgl. Ernest W.B. Hess-Lüttich/Pornsan Watanangura: GiG-Kolloquium in Bangkok vom 11. bis 14. August 2011. In: Zeitschrift für interkulturelle Germanistik 2 (2011), H. 1. S. 171f.

5 Vgl. Thomas Schwarz: Zur kulturellen Bestimmung des Raums in Text und Film. Konferenz der Gesellschaft für interkulturelle Germanistik (GiG), Chulalongkorn-Universität, Bangkok, Thailand 2011. In: Info-DaF 5 (2011), S. 566–571 [online unter http://www.iudicium.de/InfoDaF/contents/InfoDaF_2011_Heft_5.htm (verfügbar ab Oktober 2012)].

6 Eine englische Fassung des Beitrags erschien unterdes unter dem Titel Spatial Turn: On the Concept of Space in Cultural Geography and Literary Theory in einem Themenheft (Ambiente, ambientamento, ambientazione) des italienischen Journal of Semiotics in der Zeitschrift Lexia. Rivista di semiotica (9–10 [2011], S. 23–42).

7 Vgl. Norbert Mecklenburg: Literaturräume. In: Alois Wierlacher (Hg.): Das Fremde und das Eigene. München 1985, S. 197–211; ders.: Literarische Heimatbilder in der modernen Welt. In: Fikrun wa Fann. Zeitschrift für die Arabische Welt 1993, S. 12–20.

8 Ernest W.B. Hess-Lüttich/Pornsan Watanangura (Hg.): Zur kulturellen Bestimmung des Raumes in Text und Film. Frankfurt a.M. u.a. [Cross Cultural Communication 23] (in Vorbereitung).

9 Bruce Benderson: Sex and Isolation and Other Essays. Madison 2007.