Karl Marx interkulturell

Aus gegebenem Anlass

Wilhelm Amann / Dieter Heimböckel

In einem Kanon herausragender Essays der Moderne würde das Manifest der Kommunistischen Partei einen der vordersten, wenn nicht gar den ersten Rang beanspruchen dürfen. Schon die Lektüre des ersten Abschnitts über den »Bourgeois und Proletarier«, den wir hier aus Anlass des diesjährigen 200. Geburtstags von Karl Marx (geb. am 5. Mai 1818 in Trier, gestorben am 14. März 1883 in London) dokumentieren, vermag einen Eindruck von der Sprachmächtigkeit, dem virtuosen Stil und der polemischen Wucht seines Verfassers zu vermitteln. Bedenkt man darüber hinaus den Einfluss von Marx’ analytischer Argumentation und prophetischer Eloquenz auf den Verlauf des historischen Prozesses und den bis in unsere globalisierte Gegenwart reichenden Potentialen seiner Kapitalismuskritik, so stellt sein Essay das Musterbeispiel für die ungebrochene Wirkungsmacht rhetorischer und literarischer Sprachkunst überhaupt dar. Mit guten Gründen hat die UNESCO im Jahr 2013 den im Erstdruck 23 Seiten umfassenden Text, von dem sich als handschriftliche Zeugen nur eine Konzeptseite und eine Planskizze erhalten haben und der mittlerweile in nahezu alle Sprachen übersetzt worden ist, in ihre Liste des für eine Weltkultur symbolischen Dokumentenerbes aufgenommen.

Die komplizierte Entstehungs-, Veröffentlichungs- und Überlieferungsgeschichte des Kommunistischen Manifests, einschließlich der Frage nach der Co-Autorschaft Friedrich Engels, kann hier nicht nachgezeichnet werden (vgl. Meiser 1996). Nach allem, was bekannt ist, hatte Marx die Druckfassung des Textes in kurzer Zeit zu Beginn des Jahres 1848 im Auftrag des in London tagenden internationalen »Bundes der Kommunisten« verfasst. Werkbiographisch markiert das Manifest eine Zäsur, da sich mit ihm der Philosoph und Wissenschaftler nunmehr in der Rolle des Politikers und Publizisten präsentiert. Historisch fällt die Publikation des Textes in London mit dem Beginn der revolutionären Ereignisse in Paris und kurz darauf in Berlin zusammen. Bei der Niederschrift des Textes lebte Marx mit seiner Familie unter prekären Umständen als Staaten- und Heimatloser in Brüssel. Zuvor war er aus Frankreich ausgewiesen worden, in Preußen wurde er schon länger politisch verfolgt, und im März 1848 erhielt er schließlich auch den Ausweisungsbefehl aus Belgien. Nach dem Scheitern der revolutionären Bewegungen ging Marx endgültig nach London ins Exil.

Für die Perspektive der Interkulturalität bietet der hier wiedergegebene Abschnitt reichlich Stoff für Inspirationen und Kontroversen. Als erster Theoretiker der Globalisierung, die sich als unabdingbare Konsequenz aus einem dem Kapitalismus inhärenten Zwang zur Akkumulation ergibt, hatte Marx nicht nur die ökonomischen, sondern auch die kulturellen Gegebenheiten im Blick. Zu den Effekten einer weltumspannenden industriellen Moderne und sich verdichtender Kulturkontakte zählte er ausdrücklich die Konstituierung einer die nationalen Schranken überschreitenden »Weltliteratur« (vgl. S. 161) – ein Terminus, der zuvor an diversen Stellen im Alterswerk Goethes aufgetaucht war und zu Vergleichen anregt. Gemeinsam ist beiden nicht nur das Aperçuhafte und Appellative des damit angerissenen Konzepts, in gewisser Hinsicht sind beide unversehens zu Wegbereitern des europäischen Definitionsmonopols von Weltliteratur geworden, das erst in den Theorien des Postkolonialismus hinterfragt worden ist. Bei Marx ist die Diskrepanz zwischen den Auswirkungen der ökonomischen und kulturellen Globalisierung offenkundig: Während jene zur Verschärfung der Ungleichheits- und Gewaltverhältnisse beiträgt, erhält die mit der Weltliteratur verbundende Vorstellung vom globalen »Gemeingut« der »geistigen Erzeugnisse« eine deutlich optimistischere Ausrichtung und erscheint im Argumentationskontext eher isoliert. Zu den notwendigen Revisionen der Marx’schen Analyse gehören überdies die teleologischen Züge seiner Geschichtstheorie, in der sich implizit der Eurozentrismus der Hegel’schen Geschichtsphilosophie und noch die Selbstgewissheit des europäischen bzw. deutschen Aufklärungsprojekts niederschlägt.

Eine solche Diagnose mindert freilich nicht das prinzipielle Interesse an einer interkulturellen Marx-Lektüre. Ganz im Gegenteil: Ihn interkulturell zu lesen, heißt ja nicht, Person und Werk im Lichte ihrer politischen (Un-)Korrektheit (vgl. Iorio 2005), sondern mit Blick darauf zu sichten, inwieweit sie im Feld der Interkulturalität Fragen aufwerfen, die bislang vernachlässigt wurden und / oder dazu beitragen können, den diesbezüglichen (Er-)Kenntnisstand zu erweitern bzw. zu vertiefen. Und in dieser Hinsicht eröffnet die Beschäftigung mit Marx, über das Kommunistische Manifest hinaus und jenseits des Hypes, der in seinem Jubiläumsjahr und nicht einmal 30 Jahre nach seiner vermeintlich finalen soziopolitischen Exkommunizierung im Westen mitunter geradezu groteske Züge annimmt,1 ein ganzes und nicht einmal annähernd ausgelotetes Spektrum von Themen und Bezügen. Das betrifft neben dem im Kommunistischen Manifest angesprochenen Aspekt der Globalisierung und – damit einhergehend – der Sensibilisierung für die interkulturelle Seite von Macht und Ökonomie, Partizipation und Emanzipation auch werkspezifische Fragen in Bezug auf Kulturtransfer, Rezeption und Translation – ganz zu schweigen von der biographischen Dimension dieses ›Weltautors‹, der als deutscher Philosoph jüdischer Herkunft, Migrant und Exilant genug Stoff dafür liefert, um als interkultureller Philosoph bzw. »ècrivain interculterel« (Weissmann 2016: 29) wahrgenommen zu werden. Dazu gehört schließlich auch die ebenso komplexe wie komplizierte Geschichte des deutschen Blicks auf ihn, eine Geschichte, die, zwischen Heiligsprechung und Verteufelung changierend, niemals gleichgültig gelassen hat und in der etwas aufgehoben ist, das Marx mit seinem Weg- und Schicksalsgenossen Heinrich Heine teilt. So wäre es vielleicht, gerade in diesem Jubiläumsjahr, an der Zeit, in Abwandlung eines Wortes von Theodor W. Adorno (vgl. 1981) an die ›Wunde Marx‹ zu erinnern und daran, was an ihm und seinem Verhältnis zur deutschen Tradition auch heute noch schmerzt.

Anmerkungen

1 | Dass man versucht, ›Kapital aus Marx zu schlagen‹, darf man, in dieser Formulierung, womöglich als Ironie des Schicksals verbuchen. Von vergleichbaren Ereignissen, wie aus dem Goethe- und vergangenen Luther-Jahr, kennt man die Neigung zur publizistischen Vermarktung, die an der einen und anderen Stelle auch einen durchaus instruktiven Beitrag zur (Neu-)Besichtigung eines Jubilars zu leisten imstande ist. Vgl. u.a. Neffe 2017, Wittstock 2018, Bayertz 2018 und darüber hinaus die große, in seiner Heimatstadttrier Trier organisierte Ausstellung Karl Marx 1818-1883. Leben. Werk. Zeit. (online unter: https://www.karl-marx-ausstellung.de [Stand: 1.4.2018]).

Literatur

Adorno, Theodor W. (1981): Die Wunde Heine. In: Ders.: Noten zur Literatur. Frankfurt a.M., S. 95-100.

Bayertz, Kurt (2018): Interpretieren, um zu verändern. Karl Marx und seine Philosophie. München.

Iorio, Marco (2005): Karl Marx interkulturell gelesen. Nordhausen.

Meiser, Wolfgang (1996): Das »Manifest der Kommunistischen Partei« vom Februar 1848: Zur Entstehung und Überlieferung der ersten Ausgaben. In: MEGA-Studien 1, S. 66-107.

Neffe, Jürgen (2017): Karl Marx. Der Unvollendete. Gütersloh.

Weissmann, Dirk (2016): Métamorphoses interculturelles. Les Voix de Marrakech d’Elias Canetti. Paris.

Wittstock, Uwe (2018): Karl Marx beim Barbier. Leben und letzte Reise eines deutschen Revolutionärs. München.