Matthias N. Lorenz: Distant Kinship – Entfernte Verwandtschaft. Joseph Conrads »Heart of Darkness« in der deutschen Literatur von Kafka bis Kracht

Stuttgart: Metzler 2017 – ISBN 978-3-476-04471-6 – 99,99 €

Wer sich auf Joseph Conrads Heart of Darkness (1899) beruft, der handelt sich etwas ein, so könnte man etwas salopp diese beeindruckende Berner Habilitationsschrift zusammenfassen. Was man sich einhandelt, das ist durchaus zwiespältig: eine raffiniert-anspruchsvoll moderne Form von Literatur, deren Zeitkritik zutiefst ambivalent ist. Man läuft also Gefahr, entweder hinter das literarische Können Conrads und seinen Grad an Beunruhigung der eigenen Erzählposition zurückzufallen oder aber ihrer Doppeldeutigkeit verhaftet zu bleiben. Auf Letztere referiert das titelgebende ›distant kinship‹: Gemeint ist damit das ambivalente Verhältnis Conrads und seines Alter Ego Marlow in Bezug auf die Afrikaner und den englischen Imperialismus. Denn Mitmenschen sind die Schwarzen in Heart of Darkness sicher nicht; dass sie es sein könnten (›distant kinship‹), löst bei Marlow eine veritable Panikattacke aus (vgl. 341).

Während die literarische Rezeption von Heart of Darkness in den nicht deutschsprachigen Literaturen – zuletzt durch Regelind Farn (vgl. 2005) – gut untersucht ist, gilt die deutsche Literatur, abgesehen von vereinzelten Hinweisen, als weißer Fleck auf der Landkarte der Conrad-Philologie. Er ist nun durch Lorenz philologisch erschlossen.

Seine Untersuchung fördert Erstaunliches zutage: Anders als die Conrad-Forschung bislang angenommen hat, gibt es eine so breite und intensive literarische Rezeption (mit Keyserling sogar die erste überhaupt), dass man Heart of Darkness auch in der deutschen Literatur zu den wirkmächtigsten Texten der Moderne zählen darf. Daraus ergeben sich neue Einsichten in eine ganze Reihe von Werken kanonischer Autoren des 20. Jahrhunderts, was bei Lorenz wiederum einhergeht mit der Entwicklung und Erprobung eines theoretischen Modells, das Intertextualität und interkulturellen Literaturtransfer plausibel aufeinander bezieht.

Es ist unmöglich, alle wichtigen Ergebnisse dieser ertragreichen Studie resümierend festzuhalten oder auch nur alle behandelten Autoren und Texte zu streifen.

Forschungsfeld

Am Anfang von Lorenz’ Untersuchung steht nach einigen Präliminarien eine eigene Lektüre von Heart of Darkness, die das Buch als Bewältigungsversuch einer extremen Erfahrung des Autors deutet, eines Traumas, dessen anhaltende Virulenz sich in der Erzählstruktur niederschlage. Dessen intradiegetischer Kern sei die Intrige des Direktors gegen Mr. Kurtz, des ursprünglich keineswegs barbarischen Philanthropen, der die bestehende koloniale Praxis gefährde und deshalb zum Schweigen gebracht werden müsse. Kurtz reagiert mit Trotz und Hybris, fällt der ›Finsternis‹ seiner neuen afrikanischen Verbündeten und Verehrer zum Opfer und endet in der Barbarei. Das begründet Marlows Trauma, eine Mischung aus Einflussangst und Erkenntnis einer ›distant kinship‹ mit einem sterbenden Afrikaner. Conrad gestalte das, hier folgt Lorenz Achebes Kritik, vor allem in der Figurenzeichnung in einer Mischung aus Imperialismus- und Kolonialismuskritik einerseits und nicht hinterfragtem Rassismus andererseits. Die Frage nach dem Wie des Umgangs mit dieser Ambivalenz bei den späteren Autorinnen und Autoren bildet den roten Faden der Untersuchung.

Für deren Durchführung wird ein Modell von Intertextualität entwickelt, das nicht an poststrukturalistische Konzepte, sondern an das von Broich und Pfister anschließt, um an der hermeneutischen Frage nach der Konstitution von Sinn in den Texten festhalten, diese also auch als Einrede in die Prä- und Kontexte lesen zu können. Das Modell von Broich und Pfister ermöglicht zudem die Operationalisierbarkeit der Frage nach Art und Ausmaß eines intentionalen Einflusses anhand der Kriterien Referentialität, Kommunikativität, Autoreflexivität, Strukturalität, Selektivität und Dialogizität, die Lorenz um den Aspekt der Macht (namentlich des Prä- über den Posttext) ergänzt. Vor allem aber entwickelt er, um bestimmen zu können, welcher der beiden Texte sich an welcher Stelle bedeutungskonstituierend auswirkt, vier Typen intertextueller Einflussnahme: Applikation, Kooperation, Kontamination und Rekonfiguration. Dadurch entsteht, im Unterschied zu dem posttextorientierten älteren Modell, ein richtungsoffenes Konzept von Intertextualität, das auch die Frage erlaubt, inwiefern der Posttext Bedeutungselemente des Prätextes zur Neuverhandlung freilegt. Im Anschluss an Broich und Pfister spricht Lorenz außerdem fallweise nicht nur von dem Prätext, sondern von einem »Textkollektiv« (104), um der Tatsache Rechnung zu tragen, dass die Bezugnahmen häufig auch Francis Ford Coppolas Apocalypse Now und Chinua Achebes An Image of Africa einschließen sowie, seltener, auch T.S. Eliots The Hollow Men.

Im begrenzten Rahmen einer Rezension nicht nachzuzeichnen sind die Untersuchungen zur allgemeinen Rezeptionsgeschichte Joseph Conrads im deutschen Sprachraum, d.h. die konkreten Distributions- und Rezeptionsbedingungen seiner schon früh als ›Weltliteratur‹ eingeschätzten Werke. Hervorgehoben seien aber die Befunde zu den Übersetzungen von Heart of Darkness, von denen ausgerechnet die immer wieder neu aufgelegte erste (von Ernst W. Freißler, 1926), die einen Fokus auf ›Abenteuer‹ und ›Männlichkeit‹ gerichtet habe und die Souveränität Marlows über das Erzählte insinuiere, immer wieder neu aufgelegt wurde und noch die Conrad-Rezeption in der DDR bis hin zu Christa Wolf, Heiner Müller und Volker Braun maßgeblich beeinflusst habe. Bemerkenswerterweise liegen die ersten Ergebnisse einer intendierten literarischen Conrad-Rezeption (bei Keyserling, Kafka, Robert Müller) schon vor der ersten Übersetzung ins Deutsche vor.

Das deutschsprachige Korpus

Im Hauptteil seiner Arbeit untersucht Lorenz sodann ein ganzes, von 1906 bis 2012 reichendes Jahrhundert Conrad-Rezeption in Werken, die im Sinne von Broich und Pfister eine möglichst starke intertextuelle Beziehung zu Heart of Darkness aufweisen und ausweisen; er berücksichtigt dabei Erzählungen, Romane, Gedichte, Dramen, Essays, Poetikvorlesungen, Biografien, Sachbücher, Reiseberichte und Tagebucheinträge. Das Korpus mag nicht lückenlos, dürfte aber repräsentativ sein.

Lektüren 1906-1939

Lorenz identifiziert Eduard von Keyserlings Erzählung Seine Liebeserfahrung (1906) nicht nur als das früheste Zeugnis einer deutschsprachigen literarischen Rezeption von Heart of Darkness, sondern zugleich als das älteste Stück fiktionaler Literatur überhaupt, das mit Conrads Prätext korrespondiert. Der Bezug auf Conrad dient hier als Vehikel, um das »innere Afrika« (162) des Protagonisten und der von ihm begehrten Frau zu gestalten, wäre also im Sinne von Achebe als Fortsetzung des Kolonialismus mit literarischen Mitteln zu verstehen (vgl. 162) und im Sinne von Lorenz als Applikation.

Kafka dürfte Conrads Roman nicht direkt rezipiert haben, so dass von einer intentionalen intertextuellen Bezugnahme eigentlich nicht gesprochen werden kann. Sein Erzählfragment Erinnerung an die Kaldabahn (1914) weist jedoch so viele Entsprechungen zu Heart of Darkness auf, dass Lorenz es als radikale Inversion des Prätextes beschreiben kann. Kafka begebe sich dabei »in die Rolle des Schlächters, der einen gerade aufgrund seiner Strategien der Verschleierung sprechenden Rechenschaftsbericht über sein brutales Wirken im ›Inneren‹ gibt.« (178) Damit trägt die Erzählung bei zu einer Rekonfiguration von Heart of Darkness, insofern sie hilft, die dort verborgene Intrige des Direktors aufzudecken (vgl. 176).

Der dritte Zeitgenosse Conrads ist Robert Müller mit seinem Roman Tropen (1915). Wie im Falle Kafkas liest Lorenz das intertextuelle Verhältnis als Kooperation von Prä- und Posttext. Aus Conrads Spannung zwischen Rassismus und Imperialismuskritik wird hier das Paradoxon einer gleichzeitigen Dekonstruktion und Konstruktion problematischer Fremdbilder, eine Destabilisierung, die auch die bei Conrad noch intakten Grenzen zwischen Europa und Afrika, zwischen den ›Rassen‹ und zwischen Innen und Außen betrifft. So entsteht eine Travestie des Conrad’schen Romans, deren zeitgenössischen Hintergrund die (bei Müller letztlich scheiternde) Utopie des ›Neuen Menschen‹ bildet.

In der Zwischenkriegszeit der Weimarer Republik erlebte Conrad seinen Durchbruch auf dem deutschsprachigen Buchmarkt. Es verwundert deshalb nicht, dass Lorenz eine Fülle von Lektürespuren bei Schriftstellerkolleginnen und -kollegen ausmachen kann, darunter Harry Graf Kessler, Döblin, Hofmannsthal, Benn, Wassermann, Hesse, Roth, Tucholsky, Balder Olden, Schwarzenbach und Thomas Mann.

Zu einem Prätext für ein eigenes Werk wird Heart of Darkness in nennenswerter Weise aber wohl nur bei Ernst Jünger. Bereits für die autobiographische Erzählung Afrikanische Spiele (1936) spielt der Roman vor allem aufgrund seines Changierens zwischen Moral und Amoral eine Rolle. Das wird ausgeweitet in dem Roman Auf den Marmorklippen (1939), d.h. bei der Suche nach einer dritten Position im NS-Staat abseits von Gleichschaltung oder Antifaschismus. »Conrad und vor allem dessen Alter Ego werden Jünger so zu Gewährsmännern des Dazwischen: deutlich nicht Teil des Regimes, aber auch nicht einer stringenten Opposition dagegen.« (275) Diese Indienstnahme ist freilich auch etwas wohlfeil, denn so etwas wie ›distant kinship‹ zwischen Herren- und Untermenschen kann es bei Jüngers Alter Ego in den Marmorklippen nicht geben. Angesichts der Selbstgerechtigkeit, mit der hier ›Eigen‹ und ›Fremd‹ getrennt bleiben, ist man schon wieder geneigt, die prominente Achebe’sche Lesart des Prätextes zu relativieren.

Vier Jahrzehnte Stillstand: 1940-1985

Mit Beginn des Zweiten Weltkriegs bricht diese intertextuelle Bezugnahme auf den Prätext ab, obwohl Conrad auf dem Buchmarkt durchaus verfügbar war, und setzt erst Mitte der 1980er Jahre wieder ein.

Für diese auffallende Lücke in der deutschsprachigen Conrad-Rezeption zwischen 1940 und 1985 bietet Lorenz eine Erklärung an, die vor allem auf das Desinteresse nach 1945 (d.h. der Kriegsteilnehmer, aber auch der nachfolgenden Generation) zielt. Er vermutet, dass es gerade das zwiespältige Verhältnis Marlows zu Kurtz gewesen sei, das nach 1945 verhindert habe, was doch nahe gelegen hätte: ein Rückgriff auf Heart of Darkness im Rahmen einer Auseinandersetzung mit den eigenen Verstrickungen in die totalitäre Diktatur und ihre Verbrechen. Daran bestand anscheinend kein Interesse. Als anschlussfähiger erwies sich in dieser Zeit bezeichnenderweise »die männlich-heroische Einsamkeit der Conrad’schen Seefahrerfiguren.« (281)

So plausibel diese Argumentation auch klingt (und so sehr sie eine zutreffende Teilerklärung für die deutsche Literatur sein mag): Sie erklärt nicht das internationale bzw. im gesamten Westen zu beobachtende Desinteresse an Heart of Darkness. Lorenz selbst weist ja (unter Bezugnahme auf Farns Untersuchung) darauf hin, dass an die Stelle der innereuropäischen Rezeption ein postkoloniales, durch außereuropäische Autorinnen und Autoren getragenes writing back getreten ist, das mit Achebes Things Fall Apart (1958) begann (vgl. 298). Man darf also vermuten, dass das deutsche Desinteresse (auch) Teil einer umfassenderen fehlenden Neigung und Bereitschaft des Westens zu einer Auseinandersetzung mit Kolonialismus und Imperialismus sowie zu einer Kritik der eigenen Zivilisation (und natürlich auch zu einer ernsthaften Befassung mit einem nicht metaphorisch verstandenen Afrika) war.

Erst im Gefolge von Saids Orientalism (1978) und Apocalypse Now (1979) komme es, so Lorenz, mit einer deutlichen Verzögerung, dann aber exponentiell steigend, ab Mitte der 1980er Jahre zu einer Conrad-Renaissance in der deutschsprachigen Literatur.

Diese Erklärung aus zwei Einzelwerken ist vielleicht etwas zu kurz gegriffen. Eher wird umgekehrt ein Paar Schuhe daraus: Wie der Erfolg von Orientalism sich daraus erklärt, dass es das richtige Buch zum richtigen Zeitpunkt war, so dürfte sich auch die Conrad-Renaissance daraus erklären, dass Heart of Darkness in den 1980erJahren als Beitrag zu den Themen gelesen werden konnte, die auf der Agenda ganz nach oben gerückt waren: Interkulturalität, Globalisierung und Postkolonialismus sowie eine Form feministischer Kulturkritik, die desaströse Formen und Folgen der Kultur als ›männlich‹ markierte.

Die Rückgriffe auf Conrads Roman bleiben zunächst unspezifisch (etwa bei Scholl-Latour und Kirchhoff), wiewohl sich ein Schwerpunkt bei der Aufarbeitung der deutschen Gewaltgeschichte im 20. Jahrhundert (Weltkriege, Nationalsozialismus, aber auch Studentenbewegung und RAF) abzeichnet (etwa bei Aichinger, Capus, Wackwitz).

Konstellationen in der Gegenwartsliteratur: 1986-2012

Fast zeitgleich aber kommt es zu Verdichtungen der Bezugnahme und es entstehen literarische Posttexte mit einer starken intentionalen Intertextualität und damit jene Konstellation, die für die Gegenwartsliteratur charakteristisch ist.

Lorenz macht vier Schwerpunktsetzungen aus, denen er jeweils zwei Beispielanalysen zuordnet: feministische Lesarten (Brigitte Kronauer, Christa Wolf), das Erleben der ›Wende‹ 1989 / 90 aus ostdeutscher Perspektive (Heiner Müller, Volker Braun), die Inszenierung einer ›schwarzen‹ Perspektive (Urs Widmer, Christian Kracht) und literarische Traumaberichte (Hans Christoph Buch, Lukas Bärfuss).

Brigitte Kronauer (Berittener Bogenschütze, 1986) und Christa Wolf (Störfall, 1987) integrieren Conrads Roman in ihre feministische Auseinandersetzung mit einer spezifischen »›männlichen Unfähigkeit zu leben‹« (315). Kronauers Roman ist eine (auf beeindruckenden analytischen Fähigkeiten beruhende) Hommage an Conrads Erzählkunst, freilich zu Lasten des von der Autorin wenig geschätzten Heart of Darkness. Der Kurzroman wird hier parodiert zum Zwecke der Dekuvrierung einer hohlen Form von Männlichkeit. Ähnlich, freilich viel direkter und entschiedener, nutzt Wolf den Roman bei ihrer Kritik an der Lebens- und Liebesunfähigkeit männlicher westlicher Individuen. Wolfs Indienstnahme Conrads für eine tief gehende Kritik der Zivilisation und eine dennoch verbleibende Hoffnung wird dabei der Amibivalenz des Romans und dem Ausmaß seiner grundlegenden Zweifel nicht nur an Technik- und Fortschrittsgläubigkeit, sondern auch an den Errungenschaften von Demokratie und Humanismus nicht wirklich gerecht (vgl. 341). Conrad sei hier, so Lorenz, nicht mehr als ein »Stichwortgeber« (348), wobei die Autorin einige Angebote ausschlage, die sie über bereits zuvor bezogene Positionen hätten hinausführen können, mehr noch: Heart of Darkness »kontaminiert […] mit seiner Misogynie den feministischen Impetus der Erzählung.« (348)

Heiner Müller, Christa Wolf und Volker Braun beziehen sich auf das Narrativ für die Kollateralschäden des Imperialismus, als das Heart of Darkness vor allem in der DDR gelesen wurde. Der Zusammenbruch des Ostblocks und der Ausverkauf des ›realexistierenden Sozialismus‹ lösen bei Müller und Braun ebenso tiefe Verzweiflung aus wie der atomare Super-GAU bei Christa Wolf.

Müller (Herz der Finsternis nach Joseph Conrad, 1990) kommentiert den Wegfall einer kommunistischen Alternative zugunsten des Kapitalismus mit Kurtz’ Worten »The horror, the horror, the horror«. Bezieht sich das bei Müller auch auf den Wegfall der eigenen Schreibmöglichkeit, die an das Vorhandensein einer – wie auch immer korrumpierten – Systemalternative gebunden war, so erschreibt sich Volker Braun (Der Gang ins Innerste [sic] Afrika, 1999) eine Position, von der aus sich seiner Meinung nach weiter schreiben lässt, freilich um den Preis einer vereindeutigenden und damit verkürzenden Lesart des Prätextes: Aus der selbstgefährdenden Ambivalenz des Erzählers Marlow wird bei Braun die Publikumsbeschimpfung von einer ihr selbst sehr gewissen Autorposition aus.

Dem sind die Versuche eines postkolonialen writing b(l)ack in der zeitgenössischen Popliteratur diametral entgegengesetzt. Am Beispiel zweier Schweizer Romane, Urs Widmers Im Kongo (1996) und Christian Krachts Ich werde hier sein im Sonnenschein und im Schatten (2008), zeigt Lorenz, wie den Autoren das Kunststück gelingt, dabei nicht in die Fallen des Spieles mit der ›schwarzen‹ Erzählperspektive zu tappen.

Widmers phantastisch-skurriler Roman gehört neben Wolfs Störfall zu den wenigen Texten, deren Conrad-Bezug in der Forschung bereits thematisiert wurde. Erst Lorenz aber macht in einer subtilen Interpretation deutlich, wie dicht und breit das intertextuelle Verhältnis ist und wie sehr die Kriterien Kommunikativität, Referentialität, Selektivität und Strukturalität erfüllt sind. Durch den engen Bezug zwischen Prä- und Posttext wird Im Kongo lesbar als konsequente Parodie des Prätextes – der Einflussangst, der Verbindung von Bedrohung und Übel mit der schwarzen Hautfarbe, der Sexualmythen u.a.m., kurzum der Rassismen in Heart of Darkness, aber auch der Unterscheidung von Realität und Fiktion. Gegenstand der Kritik im Roman werden dabei nicht nur als historisch ausgewiesene Ideologeme, sondern auch eigene Projektionen des Autors. Im Kongo erweist sich damit als »subversive Rekonfiguration« von Heart of Darkness, »dessen dichotomisches Weltbild so ausgestellt und persifliert wird.« (389)

Ähnlich funktioniert die postkoloniale Selbstaufklärung europäischer Spiegelwelten zu Konstruktionen von ›Rasse‹ in Christian Krachts Roman Ich werde hier sein im Sonnenschein und im Schatten (2008). Lorenz verteidigt das Buch (und auch Imperium, 2012) engagiert und überzeugend gegen die Rassismusvorwürfe, die gegen Kracht erhoben wurden, durch den Nachweis eines Passings des Protagonisten beim Leser. Das Passing ist dann erfolgreich, wenn der Leser nicht erkennt, dass Reisebewegung und Hautfarbe des Erzählers gegenüber dem Prätext umgekehrt werden, und der Protagonist damit nicht den mit ›schwarzen‹ Figuren stereotyp verbundenen Erwartungen, Normen und Deutungen unterworfen wird. Gegenstand der Kritik ist Europa, ohne dass der Roman vorgibt, einem ›schwarzen‹ Afrikaner eine Stimme verleihen zu können. Die afrikanische Figur bleibt auch in der Binnenlogik der Geschichte ein Geschöpf eines ›weißen‹ Europäers. Der Bezug zum Prätext ist ähnlich dicht und facettenreich wie bei Widmer, hinzu kommt das Moment der Autoreflexivität, bei dem Kracht sich als Autor ausweist, der poststrukturalistische Intertextualitätstheorien und postkoloniale Autorschaft verbindet.

Von der spielerischen Leichtigkeit popliterarischer Verfahren setzen sich Hans Christoph Buch und Lukas Bärfuss aufgrund ihres Gegenstandes, des Völkermords in Ruanda, deutlich ab. Das gemeinsame Thema bleibt aber der dünne Firnis der Zivilisation über einer Barbarei, die nicht archaisch, sondern höchst modernen Ursprungs ist.

Aber auch zwischen den Texten von Buch und Bärfuss gibt es deutliche Unterschiede: Im Falle Buchs geht es um ein Textkorpus, in dem er über anderthalb Jahrzehnte hinweg versucht, eine von ihm selbst als Trauma bezeichnete Erfahrung zu bewältigen: der (in einen körperlichen Kontakt mit sterbenden Opfern gipfelnde) Anblick eines Massakers im Flüchtlingslager Kibeho im April 1995. Dabei spielt Heart of Darkness, dessen Autor Buch einen eigenen Essay gewidmet hat, eine wichtige Rolle – allerdings, und das ist im von Lorenz untersuchten Textkorpus singulär, weil Buch der Meinung ist, zentrale Erfahrungen von Conrads Alter Ego selbst zu machen: »die herumliegenden Leichen, die hoffnungslos Siechenden, die Scheinheiligkeit des Westens, die barbarischen Warlords und nicht zuletzt die drohende eigene Brutalisierung als Zeuge der ebenso abscheulichen wie pervers-attraktiven Gewalt.« (434)

Bärfuss dagegen thematisiert in seinem Roman Hundert Tage (2008) den Genozid aus der Sicht des erfundenen Schweizer Entwicklungshelfers David Hohl mit dichten und konkret benennbaren Bezügen zu Themen und Motiven von Heart of Darkness.

Buch und Bärfuss zeigen, wie authentische und erfundene Traumaberichte an Heart of Darkness anschließen können. Allerdings verfallen beide, unbeschadet ihrer durchaus vorhandenen Qualitäten, einer letztlich vernichtenden Kritik durch Lorenz. Deren gemeinsamen Punkt bildet die Selbstbezüglichkeit der Erzähler der Traumata, die sie durch ihre Zeugenschaft an einem Genozid erlitten haben. »Für die 800.000 ruandischen Todesopfer und die traumatisierte Gesellschaft dieses Landes interessiert sich Hundert Tage genauso wenig, wie Hans Christoph Buch dies in der Umkreisung seines ganz persönlichen ruandischen Traumas tut.« (472) Dieses Problem werde vice versa auch am Prätext erkennbar: Während Conrad Marlowes Trauma ausgiebig würdigt, weist er den eigentlichen Opfern der europäischen Ausbeutung des Kongo nur eine Statistenrolle zu (vgl. ebd.). Ausgerechnet den beiden Autoren, die den realen Völkermord und seine Traumatisierungen eindringlich thematisieren, vorzuhalten, sie interessierten sich für die wirklichen Opfer nicht, ist natürlich starker Tobak. Ob das Urteil über Buch und Bärfuss so stimmt und ihre Texte deshalb kritikwürdig sind oder ob die Bücher z.B. mangelnde Empathie nicht als Teil des Traumas darstellen, sei hier dahingestellt. Beide beschreiben jedenfalls traumatisierte und / oder getötete Opfer des Genozids.

Zweifelsohne machen sich beide Autoren allerdings auf unterschiedliche Weise sehr angreifbar. Gleichwohl sind vielleicht auch andere Lektüren denkbar. So erscheint es nicht zwingend, in Bärfuss’ Romanfigur Agathe eine Kurtz-Figur zu sehen, denn eine scheiternde Idealistin ist sie sicher nicht. Das ist vielmehr Hohl, und der scheitert, um in Lorenz’ Terminologie zu bleiben, nicht, weil er sich in Ruanda infiziert hätte, sondern er hat seinen ›Virus‹ bereits mitgebracht: Die Kehrseite seines Idealismus ist die Barbarei gegenüber allem und jedem, was sich nicht fügt. Der Roman führt das – von den Elritzen-Experimenten des jungen Hohl über sein nachgerade koloniales Begehren gegenüber Agathe und sein Bussard-Experiment bis zur Tötung des Gärtners Théoneste – wieder und wieder vor. So gesehen wäre das Verhältnis zu Conrads Roman nicht als Applikation zu deuten, sondern als kritische Rekonfiguration des Prätextes: Bärfuss’ Roman deckt nicht nur die Intrige des Direktors auf, sondern problematisiert auch den Idealismus von Kurtz als Gewaltdisposition. Im Unterschied zu Conrad wird nicht in Afrika der Idealismus des Westens zuschanden, sondern zeigt sich dort seine von Anfang an vorhandene Gewalttätigkeit.

Unbeschadet solcher Rückfragen besteht kein Zweifel, dass Lorenz in der deutschsprachigen Gegenwartsliteratur eine zentrale Konfiguration im Zeichen Conrads aufgedeckt hat. Die deutschsprachigen rewritings von Heart of Darkness um die Jahrtausendwende beziehen aus dem Prätext folgende dominanten Prägungen: (1) eine Zivilisationskritik, die das Narrativ mit dem Nationalsozialismus verbindet (Wackwitz, Widmer, Kracht, indirekt auch Capus, Aichinger und Bärfuss), (2) die literarische Inszenierung eines historischen oder persönlichen Traumas (Aichinger, Widmer, Buch und Bärfuss) und (3) eine postkolonial reflektierte Kritik an der Kategorie ›race‹ (Wackwitz, Widmer, Kracht, Buch und Bärfuss).

Max Blaeulichs Menschenfresser-Trilogie (2005-2008), die abschließend untersucht wird, bündelt alle drei Aspekte – Nationalsozialismus, Trauma und Rassismuskritik –, überschreitet aber die bis dato praktizierten literarischen Verfahren insbesondere im Hinblick auf die Frage nach dem Umgang mit der Perspektivierung der afrikanischen Opfer des Kolonialismus (vgl. 473f.). Nicht nur erhalten die bei Conrad stummen Afrikaner bei Blaeulich (in den Figuren Kilimandscharo und Gatterbauerzwei) eine Stimme, sondern sie werden in Europa zu dem, was die europäischen Romanfiguren schon sind: Mörder und Bestien. Kolonialismus bedeutet hier nicht, dass europäische Werte in Afrika zuschanden werden, sondern eine Traumatisierung seiner afrikanischen Opfer.

Fazit

Lorenz hat überzeugend nachgewiesen, dass Conrads Heart of Darkness zu den Narrativen gehört, die im kollektiven Gedächtnis der Deutschen seit vier Jahrzehnten so fest etabliert sind, dass darüber eigene Erzählungen anschließbar werden. Dass das möglich ist, spricht zunächst einmal für die literarische Qualität von Conrads Roman: Relative Offenheit bedeutet Anschlussfähigkeit.

Lorenz meint, dass die deutschsprachige Literatur – im Unterschied zu Texten aus anderen Literaturen, bei denen, wie Farn gezeigt habe, Fragen des Reisens, des Fremdkontaktes und des (Post-)Kolonialismus verhandelt würden –, »eher an der Bewältigung eigener, oft nationaler Krisen interessiert« (514) sei. Das leuchtet einerseits vor allem dann ein, wenn man das Korpus nicht beschränkt auf Texte mit besonders dichter Intertextualität und die in der Tat häufig hergestellte Verbindung zum Nationalsozialismus in den Vordergrund rückt. Andererseits verhandeln die Autorinnen und Autoren die ›eigene‹ Krise in der Regel nicht als (nur) ›nationale‹, das gilt etwa für die Geschlechterverhältnisse, die Weltkriege oder Tschernobyl, und selbst die ›Wende‹ wird von Müller und Braun ja in einen globalgeschichtlichen Rahmen gestellt, in dem sie auch Conrads Imperialismuskritik verorten.

Richtig ist aber, dass die deutschsprachigen Posttexte ein weiteres Spektrum von Themen abdecken als der Prätext. Auffallend häufig geht es dabei, die kritischen Parodien ausgenommen, so der zentrale Befund von Lorenz, um geradezu traumatische Erfahrungen der eigenen Ohnmacht und Hilflosigkeit angesichts von Krisen und Katastrophen. Beim Rückgriff auf Conrad bestehe dann jedoch die Gefahr eines zu engen Anschlusses an den Prätext, so dass keine Kooperation zugelassen wird, sondern man sich durch übersteigerte Applikation Phänomene der Kontamination einhandelt (so etwa bei Jünger, Wolf, Braun und Bärfuss). Diese Gefahr besteht vor allem dann, wenn – z.B. unter tagesaktuellem Druck – die Bezugnahme dem eigenen Anliegen unterworfen wird. Posttexte, die dem Prätext Raum lassen, sich zu entfalten, unter Umständen sogar dessen Mitlektüre voraussetzen, erliegen dieser Gefahr seltener und sind häufig literarisch ansprechender (wie etwa bei Kafka, Robert Müller, Kronauer, Widmer, Kracht oder Blaeulich). Man wird hier ergänzen dürfen, dass die literarische Selbstermächtigung von Schreibenden, denen es zunächst die Sprache verschlagen hat, offenbar in einem ebenso engen wie komplexen Verhältnis zur ästhetischen Autonomie steht. (›Distant kinship‹ wäre dann wohl auch eine treffende Bezeichnung für die angemessene Haltung zwischen Prä- und Posttext.)

Unbeschadet einzelner Rückfragen gilt: Das Buch ist mit dem Nachweis der zentralen Bedeutung von Heart of Darkness für die deutschsprachige Literatur, dem modellhaften Umgang mit Intertextualität im interkulturellen Literaturtransfer sowie der großen Kunst der Verknüpfung von literarischer Kritik und Ethik zweifelsohne ein Meilenstein nicht nur in der Conrad-Philologie, sondern auch in der Interkulturellen Germanistik.

Herbert Uerlings

Literatur

Farn, Regelind (2005): Colonial and Postcolonial Rewritings of ›Heart of Darkness‹. A Century of Dialogue with Joseph Conrad. Boca Raton.