»Ich war ein Unterwegskind. In der Zugluft des Fahrens entdeckte ich die Welt, und wie sie verweht.«

Räumliche und sprachliche Netzwerke in Ilma Rakusas Werk1

Barbara Siller

Abstract

In his article Netzwerke. Eine Kulturtechnik der Moderne (2004) Hartmut Böhme examines the theory and history of the network. By means of this he argues for the organizational complexity of nets and their resilient capacity to relate to and communicate with each other, and to thus enter into a process of exchange. The chronotopic nature of nets and their dynamic structure not only allows them to form a synthesis of pluralities but also to tolerate pluralities without unity. While nets do cover areas, they also open up in-between spaces. Such an understanding of the concept of network can be made productive for the comprehension of the intricate literary and cultural interconnections in narratives written by (multilingual) writers as well as for the positioning of the writers within and between their contexts. Ilma Rakusa presents an outstanding example of a multilingual poet whose literature is located in and in-between various literary nets. Undoubtedly, all of them communicate with each other and have a pivotal cultural and linguistic influence on her writing. By considering selected narratives from two of Rakusa’s books, namely the autofictional memory book Mehr Meer. Erinnerungspassagen (2009) and the story collection Einsamkeit mit rollendem »r« (2014) the following article applies the concept of network to Ilma Rakusa as a poet as well as to her texts demonstrating its relevance for a better understanding of narratives which destabilize perceptions of a centralized linguistic, literary and cultural system.

Title:

»I was a child voyager. It was in the slipstream of travel that I discovered the world as it flew past.« Spatial and linguistic networks in Ilma Rakusa

Keywords:

multilingual narratives; multilingual authors; linguistic and cultural network; processes of translation; polyphony; heteroglossia

Netze – zeiträumliche dynamische Systeme

In seinem einleitenden theoretischen Artikel zum Buch Netzwerke. Eine Kulturtechnik der Moderne (gemeinsam mit Jürgen Barkhoff und Jeanne Riou herausgegeben) spürt Hartmut Böhme der Theorie und Geschichte der Netzwerke nach. Dabei entwirft er zunächst ein Wortfeld, ausgehend von Substantiven und Substantivkomposita hin zu sinnverwandten Wörtern und Verbphrasen: Netzhaut, Wegenetz, Wissensnetz, Beziehungsnetz, Netzkünstler, Gedankennetz, Netzarchitektur, Nachbarschaftsnetz und Netzarbeit werden dabei genauso angeführt wie Verflechtung, Feld, im Netz gefangen und im Netz verloren. Daraus leitet Böhme ab, dass der semantische Kern von Netzen »dinglich« sei und dass »Netze eine natürliche oder technische Genese« (Böhme 2004: 17) haben können. »Hinsichtlich von Netzen taugt also die systematische Unterscheidung von Natur und Kultur nicht« (ebd.). In der Fußnote führt Böhme aus, was ihn zur Betrachtung von Netzen geführt hat und welche Hypothese er in diesem Zusammenhang aufstellt:

Es fällt auf, dass es zwischen den Konzepten, die natürliche Netze, und jenen, die artifizielle Netze erforschen, bislang kaum einen interdisziplinären Austausch gibt. Meine Hauptthese ist hingegen, dass die alte Dichotomie zwischen Natur und Kultur durch nichts so sehr überwunden werden kann wie durch eine (freilich noch ausstehende) Theorie der Netzwerke. (Ebd.: FN 1)

Diese Theorie der Netzwerke, die Böhme dann im weiteren Artikel einleitet, beleuchtet die komplexe Organisationsform der Netze und ihre vielfältigen Fähigkeiten, sich aufeinander zu beziehen, sich auszutauschen und zu kommunizieren. Beim Begriff ›Netz‹ denkt Böhme sowohl an »konkrete Objekte«, beispielsweise an das Fischernetz, das Spinnennetz, das Schienennetz, wie auch an »abstrakte Konstruktionen systemischer Zusammenhänge« (ebd.: 17) wie das Wissensnetz, das Internet, das Gedankennetz oder das soziale Netz. Beide Netzarten teilen dieselben Eigenschaften: »Netze bilden komplexe zeiträumliche dynamische Systeme. […] Netze synthetisieren sowohl die Einheit des Mannigfaltigen wie sie auch eine Vielfalt ohne Einheit ausdifferenzieren.« (Ebd.: 19)

Zum einen sind also die Koordinaten Zeit und Raum wichtig, innerhalb derer sich Netze auf komplexe Art und Weise positionieren, zum anderen die Fähigkeiten, Unterschiedliches zusammenzuführen, aber auch Unterschiedliches nebeneinander stehen zu lassen. Somit wären »Netze praktische Kompromisse zwischen Ordnung und Unordnung« (ebd.: 22). Böhme sieht die »›Vernetzungstechnik‹ als den Grundmechanismus des Lebendigen« und stellt fest, dass es »zur Eigenart aller Netze [gehört], dass sie Vernetzungen von Netzen sind« (ebd.: 20). Er bemerkt dabei aber auch, dass Netze eben genau durch ihre Struktur, die nicht flächendeckend ist, Zwischenräume eröffnen, die ebenso konstitutive Teile des Netzes ausmachen.

Von Vernetzungen spricht auch Ilma Rakusa in ihren Grazer Poetik-Vorlesungen Farbband und Randfigur, wobei sie sich insbesondere auf die Vernetzung im soziologischen Sinne beruft und den Begriff auf eine Gesellschaft anwendet, die das »›Entweder-Oder‹ zugunsten des ›Und‹« (Rakusa 1994: 83) aufgibt. Im Nachwort zu den Poetik-Vorlesungen, das den Titel Das Ich im Netz der Sprache trägt, beruft sich Walter Schmitz auf die Netzmetapher und stellt unter anderem die Verbindung zwischen Netz und Übersetzung her: Zum einen ist das der dialogische Austausch mit literarischen Vorbildern, ebenso eine Form der Übersetzung im Sinne eines literarisch-kulturellen Austausches, zum anderen ist es die konkrete Übersetzungsarbeit – beides sind Schreibprojekte von Ilma Rakusa, die sich Schmitz zufolge im »Netz der Sprache« (Schmitz 2006: 213) entwickeln. Mit Bezug auf Rakusas Eigenaussagen merkt er an, dass die Poetin Sprache immer schon als übersetzte Sprache erlebe (vgl. ebd.: 214) – ein Sprachennetz setzt immer schon andere, vorhergehende Sprachennetze voraus und evoziert nachfolgende. Das erinnert an das dialogische Prinzip Mikhail Bakhtins. Für Bakhtin ist Sprechen grundsätzlich dialogisch und mehrstimmig; dadurch entzieht es sich autoritären, zentralistischen und absoluten Normen. Bakhtin betrachtet die Sprache vor allem aus einer soziolinguistischen und -literarischen Perspektive: Er spricht von einer »dialogized heteroglossia« bzw. von »social and historical heteroglossia« (Bakhtin 2008: 272) und nimmt das verwendete Wort und die Sprache in ihrer Lebendigkeit wahr, nämlich als Phänomene, die sowohl sozial als auch individuell zu verstehen sind. Das Konzept ›heteroglossia‹ und die Netzmetapher haben mehrere Aspekte gemeinsam, beispielsweise stehen beide für das Dialogische und Dynamische, für das Differenzierende und Dezentrierende. Was allerdings die Netzmetapher im Hinblick auf Rakusas Schreiben klarer verdeutlichen kann, ist der räumliche Faktor: Die Netzmetapher kann die Komplexität und Verwobenheit der literarisch-kulturellen und sprachlichen Räume mit der Betonung auf die Zwischenräume, in denen sich die Texte entfalten und die auch den Raum der Übersetzung symbolisieren, sehr gut abbilden. Zudem beinhaltet das Netz den Gedanken der Mobilität, während es gleichzeitig auch Verbundenheit zu symbolisieren vermag. Überdies visualisiert das Netz sehr deutlich die Synchronität: Die Gleichzeitigkeit, das Nebeneinander und das Miteinander der sprachlichen und kulturellen Systeme kommen im Gedankenkonzept ›Netz‹ besonders deutlich zum Ausdruck.

Aufgrund dieser sehr besonderen Struktur des Netzes und seiner vielfältigen Eigenschaften scheint es mir ein Konzept zu sein, das für das Verständnis von Austauschbeziehungen zwischen unterschiedlichen literarischen und sprachlichen Traditionen sowie für die Positionierung von mehrsprachigen Schriftstellerinnen und Schriftstellern fruchtbar gemacht werden kann. Herkunft bzw. räumliche Zugehörigkeiten ergänzen sich auf produktive Weise mit sprachlichen und kulturellen Affinitäten; sie stehen in ständiger Beziehung zueinander und tauschen sich gegenseitig aus. Am Beispiel der Dichterin Ilma Rakusa geht der folgende Beitrag diesem literarischen Netzwerkprinzip nach.

Ilma Rakusa – eine Netzkünstlerin

Ich war ein Unterwegskind.

In der Zugluft des Fahrens entdeckte ich die Welt, und wie sie

verweht.

Entdeckte das Jetzt, und wie es sich auflöst.

Ich fuhr weg, um anzukommen, und kam an, um wegzufahren.

Ich hatte einen Pelzhandschuh. Den hatte ich.

Vater und Mutter hatte ich.

Ein Kinderzimmer hatte ich nicht.

Aber drei Sprachen, drei Sprachen hatte ich.

Um überzusetzen, von hier nach dort. (Rakusa 2009c: 76)

Ilma Rakusa wurde 1946 als Tochter eines slowenischen Vaters und einer ungarischen Mutter in Rimavská Sobota (Slowakei) geboren. Sie ist in Budapest, Ljubljana und Triest groß geworden und hat in Zürich, Paris und St. Petersburg Slawistik und Romanistik studiert. Heute lebt die Autorin in Zürich. Sie schreibt auf Deutsch und hat Autorinnen und Autoren wie Alexej Remisow, Anton Tschechow, Marina Zwetajewa aus dem Russischen, Danilo Kiš aus dem Serbokroatischen, Imre Kertész und Péter Nádas aus dem Ungarischen sowie Marguerite Duras und Leslie Kaplan aus dem Französischen ins Deutsche übersetzt. In ihrem biographischen Werk Mehr Meer. Erinnerungspassagen (Rakusa 2009c) geht Rakusa in mehreren Texten ihrer kulturell und sprachlich vielfältigen Biographie nach, die netzwerkartig unterschiedlichste Identitäten und Affinitäten aufeinander bezieht und miteinander kommunizieren lässt. In ihrem Text Wer war Vater? schildert die Erzählerin die vielseitigen Knotenpunkte mit Osteuropa:

Im übrigen gab es nichts zu verschweigen: Der Osten war unsere Bagage. Mit Herkunft und Kindheit und Gerüchen und dicken Pflaumen. Mit Braunkohle und Ängsten und Dampfloks und sukzessiven Fluchten. Wir kamen von DORT [sic] und kappten die Verbindungen nie. Nicht zu den Weinbergen zwischen Podgorci und Jeruzalem, nicht zu den Freunden an Drau und Mur, auch nicht zu den Hügeln von Rimaszombat, das nun offiziell Rimavská Sobota hieß. Die Regime waren eines, die Topographien ein anderes. Die Sprachen, die Speisen, die Gesten. Gefühlsalphabete. Vater rechnete sein Leben lang auf slowenisch. Slowenisch wird er auch seine Selbstgespräche geführt haben. (Rakusa 2009d: 14f.)

Zum einen haben sich Landschaften, genauer, die Kindheitslandschaften, in den Familienerinnerungen festgesetzt: Landschaften und Orte – Maribor, Ljubljana, Csáktornya, Rimaszombat –, die mit Erinnerungen an Früchte, Gerüche, Rohstoffe und Fortbewegungsmittel besetzt sind, aber besonders auch mit Sprachen und Gesten; daneben vor allem eine Gefühlserinnerung an die Kindheitswörter und Kindheitszahlen, die der Vater sein Leben lang nicht aufgibt. Deutlich wird die Unterscheidung zwischen dem politisch strukturierten und dem wahrgenommenen, gefühlten Raum, so als ob die beiden völlig unabhängig voneinander existieren würden. Beinahe liegt der Feststellung der engen Verbindung zum Osten ein Schamgefühl zugrunde: als hätte die Familie ihre Herkunft lieber verschwiegen, aber es war nicht möglich, so als wäre der Osten das belastende Netz, das man ein ganzes Leben hinter sich herzieht. Für die Erzählerin allerdings bildet der Osten auch ein kulturelles und sprachliches »Beziehungsgeflecht« (Böhme 2004: 19), von dem aus »neue Beziehungen und Differenzen, Knoten und Relais« und »dynamische Identität[en]« (ebd.: 23) entstehen.

Die Lebensdaten der Familie mütterlicherseits verlaufen ebenso netzwerkartig durch das östliche Europa und führen bis nach »Polen-Litauen« (Rakusa 2009a: 16). Der Text Bis nach Wilna verfolgt die Spuren bis nach Vilnius »mit seinen Gassen und Hügeln, seinen neunundneunzig Kirchen und dieser litauisch-polnisch-russisch-jüdischen Vielfalt« (ebd.). Die Erzählerin begeht die Straßen der Stadt selbst noch einmal, betritt Kirchen und Synagogen und lässt ihr für Geräusche, Klänge und Laute sensibilisiertes Ohr Sprachen und Akzente wahrnehmen. Der Blick führt immer wieder hin zu Orten, die Mobilität verkörpern, wie der Bahnhof oder der Fluss. Und an dieser Stelle wird das Wort ›Netz‹ im Text explizit erwähnt: Die »engsten und krummsten Gassen« werden als »flussnahes Netz« (ebd.: 18) beschrieben. Sehr deutlich wird dieses Netz in der Darstellung der Lebenslandschaften des Urgroßvaters:

Man zeige mir den Fluss Uta.

Man zeige mir die Orte, an denen mein Urgroßvater als Finanzoffizier tätig war. An verschiedenen Enden Ungarns, das damals auch Siebenbürgen, Teile der Slowakei und Transkarpatiens einschloß und zur Kaiserlich-Königlichen Monarchie gehörte. All diese Flußläufe und Grenzverläufe. All diese Städte mit neuen Namen und hybriden Identitäten. All diese Regimewechsel und Kriege und Verheerungen und Verdrängungen. Der Wind der Historie. (Ebd.: 18)

Anhand der Lebensorte, Städte, die aufgrund von politischen Entscheidungen über die Jahrzehnte Namen und Zugehörigkeiten gewechselt haben, wird die Zeitgebundenheit von Netzen betont. Böhme spricht von der »›Geschichtlichkeit‹ von Netzen« (Böhme 2004: 24), einer Eigenschaft, die ihnen auch ihren evolutionären Charakter verleiht:

So wie das Internet schon jetzt überall Ruinen, Geisterstädte, Informationsbrachen, tote Zonen, aber auch Staus, Verstopfungen, Infarkte aufweist, zu schweigen von epidemischen Anfällen durch Viren, so sind alle Netze, trotz ihres Systemcharakters, kontingent, vulnerabel, instabil. Sie erfordern, neben der eigentlichen Prozesszeit, einen erheblichen Einsatz an Zeit und Energie zur Pflege, Reparatur, Reorganisation, Selbst-Stabilisierung: darin zeichnet sich die jeweilige Geschichtlichkeit der Netze ab. (Ebd.)

In Rakusas autofiktionalen Texten taucht der Begriff ›Netz‹ ein weiteres Mal im Kontext der Familie auf, als das »Netz der Familiengeschichte«, das sich über die Länder Osteuropas breitet, welche die Erzählerin »kreuz und quer bereist, vor allem auf Schienen« (Rakusa 2009a: 21). Hier verweist sie sogar explizit auf die komplexen Netzarchitekturen ihrer Familie. Der Begriff ›Heimat‹ liegt für die Erzählerin in weiter Ferne und sie würde gerne den 93 Jahre alten »Landschaftsmaler und mehrfach […] ›verdiente[n] Künstler der Ukraine‹« (ebd.: 20), Ernest Kontratovics, danach fragen: »Vielleicht könnte er mir sagen, was engste Heimat ist.« (Ebd.: 21) In ihren Dresdner Chamisso-Poetikvorlesungen 2005 spricht die Autorin von den »Luftwurzeln« (Rakusa 2006: 9) und dem fortlaufenden Überschreiten von Grenzen, von den Metaphern und Erfahrungen, die unmittelbar an ihre Identität geknüpft sind, aus der heraus sich ihre Poetik entwickelt, eine »Poetik des Nomadischen, […] die sich auf keine festen Koordinaten abstützt und in kein System pressen lässt. […] Bewegung ist ein Grundtopos meines Schreibens, mit den entsprechenden Topoi: Reisen, Gehen in der Natur, Flanieren usw.« (ebd.: 99).

Sprachen, Differenzen, Übersetzungsprozesse und die Musik

In ihrer Vorstellungsrede bei der Aufnahme in die Deutsche Akademie für Sprache und Dichtung im Jahre 1996, die den Titel Über mich trägt, nimmt Rakusa gleich zu Beginn das Wort ›Heimat‹ in den Mund. Dabei stellt sie einen direkten Zusammenhang zwischen Heimat und Sprachenvielfalt her. Letztere hat sie in der Stadt Triest sehr ausgeprägt erfahren:

Triest. Die Stadt ist in die britisch-amerikanische Zone A und in die jugoslawische Zone B unterteilt. Ich lebe mit meinen Eltern in der Zone A. Beim Baden in Barcola, mit Blick auf das Märchenschloss Miramar, höre ich Italienisch, Englisch, Slowenisch. Die Sprachenvielfalt wird mir so selbstverständlich wie das Geräusch der Brandung. Sie beruhigt, sie ist meine Heimat. (Rakusa 1996: 1)

Im Weiteren führt sie aus, wie ein »Gefühl der Differenz« (ebd.: 2) ihr Schreiben begleite und die Sprache auch das Einzige für sie sei, worauf sie sich verlassen könne. Die Ausbildung von Differenzen begreift Böhme als ein Charakteristikum von Netzen – sie würden die Netze besonders »anpassungsfähig, zirkulär und dezentriert« (Böhme 2004: 17) machen. Rakusa erklärt bei diesem Anlass auch, warum sie das Deutsche als ihre Sprache der Dichtung gewählt habe und welchen Versuch sie mit der deutschen Sprache unternehme:

Obwohl mehrsprachig aufgewachsen, habe ich mich erst im Deutschen wirklich eingerichtet. Nur im Deutschen verfüge ich über alle Ausdrucksregister, einzig das Deutsche ist Zielsprache meiner Übersetzungen – sei es aus dem Russischen, Serbokroatischen, Französischen oder Ungarischen. Am Deutschen erprobe ich wieder und wieder, wieviel Fremdheit einer Sprache zuzumuten ist, wieviel Verfremdung sie verkraftet. Vor allem der Übersetzungstransfer läßt das Hüben nicht untangiert. Gleichzeitig aber setzt er den Vermittler rauhsten Herausforderungen aus. (Rakusa 1996: 2)

Sehr deutlich wird, wie das dichterische Schreiben ein Sichbewegen in unterschiedlichen Sprach- und Stimmnetzen ist, das immer mit Übersetzungsprozessen und mit Mehrstimmigkeit verbunden ist. Die deutsche Sprache, die Rakusa zu ihrer Dichtersprache werden lässt, wird von verschiedenen Stimm- und Sprachnetzen berührt und verwandelt, wodurch gleichzeitig auch immer dieses »Gefühl der Differenz«, von dem Rakusa spricht, aufrechterhalten wird. Auf die Bedeutung der vielfältigsten Stimmen für ihre Dichtung verweist Ilma Rakusa häufig. Dabei spielt das Ohr der Erzählerin eine ganz besondere Rolle: Rakusa war einmal eine erfolgreiche Pianistin, die sich an einem Punkt in ihrem Leben zugunsten der Literatur gegen die Musik entschieden hat. Ihre Nähe zur Musik, zur Stimme, zum Rhythmus, zum Klang und zum Atem ist in ihrer Literatur immer spürbar. In ihrem Text Der Autor-Übersetzer. Sondierungen in vielschichtigem Terrain weist sie hinsichtlich der Werke, für die zu übersetzen sie sich entscheidet, immer wieder auf die Bedeutung der Musik hin: Bei Marina Zwetajewa erwähnt sie die »Bilder und Wortspiele, die Vergleiche und Rhythmen, kurz: die Intensität des Sprachgebarens« (Rakusa 2003), bei Danilo Kiš lernt sie, nicht mit dem Ohr zu arbeiten, da sein »gemeißelter Stil nach äusserster [sic] Präzision« (ebd.) verlangt. Hingegen hätten sie bei Marguerite Duras sofort »die Sprache: ihr Sound, ihr Rhythmus, ihr weiter Atem« verführt: »Um Musik ging es in jedem Satz, da konnte ich mich auf mein Ohr verlassen. Um den betörenden Sound einer ›Lauterotik‹: ›Hélène Lagonelle. Elle est beaucoup plus belle que moi, que celle-ci au chapeau de clown …‹« (ebd.). Bei der Übersetzung von Duras erwähnt Ilma Rakusa außerdem die »Detailarbeit«, die »dem Klang und dem Rhythmus« galt, die sie die Sätze laut vor sich hersagen ließen, bis alle »Perioden und Schlüsse« (ebd.) stimmten.

Mehrstimmigkeit

Von fortwährenden Übersetzungsprozessen zeugen auch Rakusas Erzählungen im Band Einsamkeit mit rollendem »r« (vgl. Rakusa 2014c). Bereits der Titel lässt sich als ein Beispiel für Mehrstimmigkeit lesen. Das Wort ›Einsamkeit‹ enthält im Deutschen kein ›r‹: Der Titel löst also einen Verfremdungseffekt aus. Den Lesern stellt sich die Frage: Handelt es sich hier um einen Übersetzungstransfer aus einem anderen Sprachnetz, dem Russischen, Ungarischen oder Serbokroatischen? Enthält das Wort ›Einsamkeit‹ ein ›rollendes r‹ in einer anderen Sprache, die die Autorin bzw. ihre Figur beherrscht und ins Deutsche überträgt? Ist der Titel somit ein Ausdruck des vielstimmigen Lebenshintergrundes der Erzählerin? Klingt hier das Leben im Dazwischen von Sprachen, Räumen und Identitäten an und prägt Einsamkeit ein solches Leben? »Einsamkeit hat eben viele Buchstaben. Auch solche wie das rollende ›r‹, die man erst beim Erinnern hört« (Schmitz 2014), ist die Lesart, die Michaela Schmitz vorschlägt. Der Titel setzt einen Prozess der Entautomatisierung in Gang, den Esther Kilchmann als symptomatisch für textinterne Mehrsprachigkeit begreift. Durch »Techniken der Verschiebung und Verfremdung« (Kilchmann 2012: 113) werde es möglich, die verfestigten Bedeutungen der Alltagssprache zu entautomatisieren, um sie wieder der Reflexion zu überführen. Dieses Verfahren bewirke, dass sich der ›deutschsprachige‹ Leser »in einem Text ›seiner‹ Sprache plötzlich selbst fremd fühlt angesichts fremdsprachlicher Wörter, aber auch der Verfremdung deutscher Wörter in der verfremdeten Wahrnehmung über einen anderen Muttersprachler« (ebd.). Dabei handelt es sich um ein netzwerkförmiges Verfahren, insofern sich der Text und seine Figuren einer Zuordnung zu stabilen, nationalen, einsprachigen und monokulturellen Räumen verweigern, sich stattdessen weit darüber hinaus entwickeln und neue Verbindungen sichtbar machen. Das ›rollende r‹, eine phonetische Differenz, wird zu einer Metapher für die sprachliche und kulturelle Netzwerkbiographie der Figuren verdichtet. Während einerseits diese komplexen Vernetzungen in Rakusas Erzählungen auf der Textebene sehr produktiv sein können, stellen sie andererseits ganz spezifische Herausforderungen an die Figuren, wie es beispielsweise die Erzählung Steve verdeutlicht. Die gleichnamige Figur will der Ich-Erzählerin ihre ›Heimat‹ in Dorset zeigen, »dies, das, jenes, the whole package« (Rakusa 2014i: 55), das sie im Leben trägt, als ein Mensch, der sein Leben an vielen Orten verbracht hat, als ein Waisenkind einer verstorbenen Mutter und als das Kind eines Vaters, der den Jungen verlassen hat, als ein Mann mit zwei in die Brüche gegangenen Ehen, mit zahlreichen finanziellen Krisen – diese Erfahrungen lassen Steve den Satz »Life is rough« (ebd.: 56) sagen. Wie zahlreiche Figuren in den Erzählungen dieses Bandes verkörpert Steve eine zerrissene Figur, zerrissen »zwischen Hier und Dort, zwischen dem einfachen Leben und dem Glamour, zwischen Echt und Falsch« (ebd.: 60) – eine im Netz gefangene und im Netz beinahe verloren gegangene Figur. Darüber hinaus ist Steve eine Figur mit einer »vernachlässigte[n] Kinderseele« (ebd.: 57): ein »verlassene[s] Kind« (ebd.: 58). Und so will auch das Sichnäherkommen zwischen Steve und der Erzählerin nicht gelingen: Auf die mehrstimmige Frage: »Was bist du so gloomy?«, antwortet Steve abweisend mit »It’s my business«, und der vom Mut verlassenen Ich-Erzählerin gelingt es gerade noch, ihre Zitronentorte mit letzter Kraft zu »verdrück[en]« (ebd.: 64). Einsamkeit ist die Grundstimmung aller vierzehn Erzählungen dieses Bandes, einsam sind die meisten der in kulturellen Zwischenräumen lebenden Protagonistinnen und Protagonisten, die den ersten sieben Erzählungen ihren Titel geben: Katica, Maurice, Marja, Misi, Lou, Steve und Sam. Viel Einsamkeit und Verlassenheit gibt es allerdings auch an den Orten, denen die letzten sieben Erzählungen gewidmet sind: Nagoya, Zürich, Graz, Venasque, Bondo, Tomaj und Koljansk. Mehrere von ihnen sind Orte, die Mikrokosmen mit erstarrten und ritualisierten Lebensformen darstellen und an Claudio Magris Microcosmi erinnern (vgl. Magris 2006). Die Einsamkeit und die Gespaltenheit, die die Figur Steve in sich verspürt und die dem Band seinen Titel gibt, wird schließlich an seiner Sprache, insbesondere seiner Aussprache, demaskiert: »Im Windschatten der Kneipe sah ich seine Züge weich werden, die stahlgrauen Augen schauten offen, und die Zunge rollte das ›r‹, als kennte sie nichts anderes.

Steve? Von den vielen Steves war dieser vielleicht der echteste.« (Rakusa 2014i: 57)

Hier ist das ›rollende r‹ Zeichen für die sprachliche Anpassung – die Zunge passt sich der neuen sprachlichen Umgebung an. Ein weiteres Mal wird das ›rollende r‹ in der Erzählung Graz thematisiert, weil es der Erzählerin, die phonetische Unterschiede sehr genau wahrnimmt, besonders auffällt: »Er rollt das ›r‹, als würde er ein Maschinchen in Gang setzen, ich bilde mir ein, einen Lufzug (sic) zu verspüren. Rrrrreist du gern? Ich sage: Ja, und besonders nach Graz. Da knattert er: Grrrraz ist wirrrrklich Klasse.« (Rakusa 2014d: 115)

Das ›rollende r‹ wird auch in der Erzählung Venasque zum Thema gemacht. Juri, der zugewanderte Russe aus St. Petersburg – der übrigens auch im Erzählessay Dreimal Süden. Gefühle als »mein lieber alter Freund Yuri [sic], Petersberger Jude und bekannter Parfumeur« (zit. n. Rakusa 2006: 101) auftaucht –, der die Jahre seines Lebens in Berlin, Paris, Marseille und in Indien verbrachte und nun in der Provence in einem »Dorf von Zugewanderten, Zugeflogenen, vom Zufall Zusammengewürfelten« (Rakusa 2014j: 121) lebt, hat seine Muttersprache längst verlassen, doch beim Aufsagen von Rainer Maria Rilkes Gedicht Ich lebe mein Leben in wachsenden Ringen lässt das ›rollende r‹ seine mehrsprachige Biographie anklingen, die im Erzählessay als eine »europäische Biographie, mit rollendem ›r‹ vorgetragen« beschrieben wird (zit. n. Rakusa 2006: 101). Bemerkenswert ist an dieser Stelle auch, wie Biographisches und Fiktionales in Rakusas Werk miteinander verwoben sind; wie in diesem Fall Figuren aus dem Essay in die Erzählung aufgenommen werden und welchen Genrenamen Rakusa dem Essay gibt: Sie nennt ihn einen Erzählessay (vgl. ebd.), womit sie bewusst Genregrenzen überschreitet. Das netzwerkförmige Verfahren äußert sich eben auch auf der Formebene, so auch im Erinnerungsband Mehr Meer. Er trägt den Untertitel Erinnerungspassagen und stellt eine hybride Mischung aus Poetik und Autobiographie dar, was Martina Meister dazu bewogen hat, den Band dem Genre »poetische Autobiographie« (Meister 2010) zuzuordnen. Nicht zuletzt entspricht diese Darstellungsform auch der Art, wie Erinnerungsprozesse verlaufen: Das Erinnerte wird immer erst durch poetische Kunstgriffe zu einer Erzählung geformt, und Erinnerungen verlaufen stets netzwerkförmig, sind fragmentarisch und eröffnen viele Leerstellen. Ilma Rakusa schreibt in ihrer Stefan Zweig Poetikvorlesung (Bd. 1), die den Titel Autobiographisches Schreiben als Bildungsroman trägt, über die Herausforderungen bei der Suche nach dem geeigneten Genre für Mehr Meer. Aus der ursprünglichen Idee, einen »Triest-Roman« (Rakusa 2014a: 24) zu schreiben »wurde – nach etlichen Entwürfen – nichts« (ebd.), da sie gespürt habe, dass es ihr »nicht um Triest ging, sondern um Herkunft und Familie, um die zahlreichen Umzüge, die [ihre] frühe Kindheit prägten, um die verschiedenen Sprachen und Orte, Menschen und Erfahrungen. […] Kurzum: um Ereignisse und Lebensstationen, die [sie] zu dem gemacht haben« (ebd.: 25), was sie ist. Was die Form angeht, war sie sich von Beginn an sicher:

Auf ein wie auch immer geartetes Ganzes war ich nie aus. Das Fragmentarische des Entwurfs, die patchworkartige Struktur gehörten zu den Prämissen des Buches. Aber natürlich habe ich bei der Erinnerung nachgeholfen, habe sie ergänzt, belebt. Dichtung und Wahrheit lassen sich an vielen Stellen kaum noch auseinander dividieren. Das Wort Inszenierung gilt auch in meinem Fall. (Ebd.: 26)

Aus diesen Gründen spricht sich Rakusa auch dagegen aus, das Buch einen Roman zu nennen. Mit Erinnerungspassagen knüpft sie bewusst an »den Duktus des Durchquerens, Durchstreifens« (ebd.) an, beruft sich auf »Leitmotive oder Webfäden einer individuellen Lebensgeschichte« (ebd.: 27), womit sie sich offensichtlich auf eine Netzstruktur bezieht, nämlich jene der Textilien. Sie erwähnt das »Transitorische […], das Dazwischen […], [das] Terrain einer multiplen Identität« (ebd.). Dieses Terrain äußert sich auch in der Sprache und in der literarischen Sozialisation der oben genannten Figur Juri: Juri wundert sich auf russisch über den Berg Mont Ventoux: »On ne se lasse pas, sagt Juri. Man wird nicht müde, ihn anzuschauen. Über den Buchrand, den Balkonrand, den Brillenrand, quer durch die Tages- und Jahreszeiten. Und wundert sich auf russisch, warum Berg (gorá) und Leid (góre) sich so gleichen, wo sie doch nichts miteinander zu tun haben. Rien!« (Rakusa 2014j: 122; Hervorh. i.O.)

Die Sprachnetze des Russischen und Französischen berühren sich und das dialogische Prinzip ermöglicht es, unterschiedliche Perspektiven auf die (eigene) Sprache einzunehmen. Die Sprache wird aus der Distanz betrachtet und dies führt zur Reflexion über einen russischen Signifikant und dessen Quasihomograph. Dabei eröffnen sich die in diesem Beitrag bereits mehrfach betonten Zwischenräume, die für Netze besonders charakteristisch sind: »Netze sind Netze dadurch, dass sie gerade nicht Flächen decken oder Räume erfüllen, sondern sie heben sich von einem ›Dazwischen‹ ab, das ein Nicht-Netz ist« (Böhme 2004: 21). Metaphern können im Allgemeinen auf das Teilhaben einer Figur an verschiedenen Sprachnetzen verweisen: Juri sagt über den Mistral, der um die Mauern fegt, dass dies »an den Wimpern der Seele« (Rakusa 2014j: 126; Hervorh. i.O.) zehre. Die Metapher – die Augenwimpern, die auf die Seele übertragen werden – weist über das kulturelle und sprachliche Netz der deutschen Alltagssprache hinaus, wobei die Poesie per se, und die Metapher im Besonderen, die Netze der Sprachen ausdifferenziert. In Rakusas Erzählband sind Sprachen und ihre gegenseitigen Wechselwirkungen ein wiederkehrendes Thema, so auch in der Beschreibung des schweizerischen Dorfes Bondo im gleichnamigen Text, in dem der Klang des Dialektes – des Bargaiots – sich netzwerkartig mit dem Italienischen austauscht und mit ihm kommuniziert. Daneben stehen auch hier das Ohr sowie die Klänge und Geräusche im Zentrum der Betrachtungen. Es heißt:

Das Ohr weiß: Mittag. Das Ohr zählt die Mitternachtsschläge. Es hört die Sägegeräusche drüben im Stall, wo einer zimmert. Pferde wiehern, ein Hund kläfft. Drei Frauen sitzen auf der Holzbank und tratschen. Das Bargaiot verpasst dem Italienischen viele ›ü‹, die wie Vogelrufe die Luft ritzen. Tü, tü. Und ist Mittag vorbei, grüßt man schon mit ›Guten Abend‹. Der Tag beginnt früh. (Rakusa 2014b: 129)

Neologismen und kreative Wortzusammensetzungen, die sprachlich und kulturell ebenso mannigfaltige Netze ausbilden und die häufig im metaphorischen Sinn verwendet werden, machen Rakusas Erzählungen zu sehr verdichteten Texten: Beispiele dafür sind »das nasse […] Herz« (Rakusa 2014f: 51), das Elternhaus als »Nebenschmerzplatz« (ebd.: 47), die »unschuldige[n] Spaghetti« (Rakusa 2014e: 8), »die tätowierte Nacht« (Rakusa 2014f: 123) oder das »Messietum« (Rakusa 2014g: 87), das die Unordnung der japanischen Vorgärten ausdrückt, sowie der Neologismus »Menschen mit ›Migrationsvordergrund‹« (Rakusa 2014h: 72) und die Charakterisierung der Figur Lou als »keine kaputte Schachfigur« (Rakusa 2014f: 53).

Das Spannen der Sprachnetze

Wenn Ilma Rakusa ihre Heimat in der Sprachenvielfalt ansiedelt und ihre Zugehörigkeit mit sehr unterschiedlichen Sprachfeldern in Verbindung bringt, greift eine Außenzuschreibung, die versucht, die Autorin innerhalb eines einzigen literarischen Feldes zu positionieren, mit Sicherheit zu kurz. Die Kritiker erkennen ihre Identitäten- und Sprachenvielfalt als selbstverständlich an, selten versucht man die Dichterin einem geographischen Ort zuzuordnen. So ist zwar in der Neuen Zürcher Zeitung vom 23. September 2009 von der »Zürcherin Ilma Rakusa« (Langner 2009) die Rede, nicht aber ohne auf ihren komplexen biographischen Hintergrund zu verweisen:

Die Zürcherin Ilma Rakusa ist den Spuren des Geschichtsbruchs durch ihr eigenes Leben gefolgt, bis zurück an ihren Geburtsort Rimaszombat / Rimavská Sobota, heute in der Slowakei, und zu den litauischen Familienwurzeln. Grossvaters Konservenfabrik, Mutters Apotheke, gutbürgerliches Milieu, der Vater slowakischer Chemieingenieur, die Mutter Ungarin. Rimaszombat wechselte mehrmals die Staatszugehörigkeit und -sprache. (Ebd.)

Martina Meister spricht in der Zeit von der »Schweizer Schriftstellerin und Lyrikerin, Literaturwissenschaftlerin und Übersetzerin«, deren »innere Kompassnadel« (Meister 2010) allerdings gegen Osten zeige, womit sie eine Aussage von Rakusa selbst aufgreift. Fern von allen räumlichen Zuordnungen der Autorin hält sich Martina Läubli in ihrer Rezension zum Erzählband Einsamkeit mir rollendem »r« (vgl. Läubli 2014). Sie beschreibt Rakusa ausschließlich in ihrer Funktion als Erzählerin, Schriftstellerin, Übersetzerin, der es um die »Genauigkeit«, um »ein präzises Erfassen des Konkreten« (ebd.) gehe. Ebenso umgeht Bernadette Conrad eindeutige Ortszuweisungen, wenn sie in der Wiener Zeitung den Erzählband der Autorin rezensiert:

Versammelt in »Einsamkeit mit rollendem r« sind keine Reportagen, sondern hoch subjektive Geschichten, die sich immer mal wieder in ihrem Verlauf auch zurückbiegen zur Herkunftsgeschichte der Erzählerin selbst – die in Graz Kindheitserinnerungen hat, und in Bondo ein Familiengrab. Nicht zuletzt scheint es die Sehnsucht der Heimatlosen, die sie mit den vielen nomadisch durch Europa ziehenden Freundinnen, Freunden und Bekannten verbindet. (Conrad 2014)

Der Begriff ›Migrationsliteratur‹ kommt im Kontext von Ilma Rakusa in den genannten Rezensionen nicht vor, vielmehr sind es Attribute wie »polyglott« und »kosmopolitisch« (Berking 2009), mit denen die Autorin charakterisiert wird. Sabine Berking vermittelt in ihrer Rezension zu Mehr Meer. Erinnerungspassagen ein sehr differenziertes Bild der Autorin und ihrem Werk. Rakusa sei eine

fulminante Epochenverschlepperin, [eine] Zeitzeugin einer mitteleuropäischen Nachkriegszeit, in der es dieses Mitteleuropa zwischen Ost und West gar nicht geben durfte.

Die Übersetzerin, Literaturkritikerin, Dichterin und passionierte Klavierspielerin segelt durch ein Kopfmeer der Erinnerungen, durch Episoden und Geschichten, die überall auch das Vorgestern und Vorvorgestern durchscheinen lassen. Immer wieder wird die Chronologie verändert, hängen andere Bilder im Raum, ein Innehalten im gedanklichen, sprachlichen und kulturellen Nomadisieren, um sich meditativ selbst auf der Spur zu sein. (Ebd.)

Ilma Rakusa lässt sich meiner Ansicht nach am ehesten einem »Gedächtnisraum« (Rakusa 2003) zuordnen, wie sie ihn selbst in ihren Ausführungen zur Arbeit als Autorin und Übersetzerin beschreibt, einem Raum, in dem ein vielstimmiges, »innere[s] Gemurmel« (ebd.) ertönt und in dem der Übersetzer die Rolle des Stimmenmanagers übernimmt.

Sprachliche und kulturelle Netze als poetischer Gewinn

Abschließend kehren wir zur Netzmetapher zurück: »Jedes Netz übersetzt nur ein anderes Netz« (Böhme 2004: 20), schreibt Böhme. Die Texte von Ilma Rakusa sind beeindruckende Beispiele dafür, dass jedes Sprachnetz sich immer schon auf ein anderes bezieht und ebenso dabei ist, zu einem weiteren einen Bezug herzustellen. Oft ist bei Übersetzungen von Verlusten die Rede: Ilma Rakusa macht deutlich, welchen Gewinn die Texte nicht nur durch Übersetzungsprozesse im weitesten Sinne erzielen, sondern auch durch die konkrete Übersetzungsarbeit. So verweist sie darauf, dass die konkrete Übersetzungstätigkeit der Schriftsteller in Ost-(mittel-)europa, verstanden als Bereicherung der eigenen Sprache, eine lange Tradition hat:

In Ost(mittel)europa gehörte es seit dem 19. Jahrhundert zur festen Tradition, dass Schriftsteller auch Übersetzer waren. Ihnen vertraute man es an, Werke der Weltliteratur kongenial nachzudichten und damit nicht nur Brücken zu bauen, sondern die eigene Sprache (Kultur) zu bereichern. Wenn nötig, wurde mit Interlinearübersetzungen gearbeitet; Hauptsache, die definitive Sprachgestalt lag in Dichters Hand. Keine Frage, solche Praxis verrät ein grosses Verantwortungsgefühl gegenüber dem literarischen Wort und verleiht dem Übersetzen das Signum der Kunst. (Rakusa 2003)

Wie die für diesen Beitrag ausgewählten Textstellen aus Ilma Rakusas Werk verdeutlichen, nährt sich die deutsche Sprache, die die Autorin zu ihrer Dichtersprache erwählt hat, von den Sprachnetzen, zu denen die Schriftstellerin und Übersetzerin Zugang hat und die sie produktiv in ihre Dichtersprache übersetzt. Letztlich gilt für die Autorin der Satz von Novalis, den sie am Schluss ihrer Ausführungen zur Doppelaufgabe des Autors und Übersetzers zitiert: »Am Ende ist alle Poesie Übersetzung« (ebd.). Es ist genau diese Übersetzungsarbeit, die Ilma Rakusa Tag für Tag in ihrem Schreiben leistet. Es ist außerdem ihr Versuch, am Deutschen auszuprobieren, wie weit die Netze gespannt werden können, welche Verknüpfungen sie eingehen und welche Zwischenräume sie eröffnen.

Anmerkungen

1 | Dieser Beitrag beruht auf einem Vortrag, den die Verfasserin im Juni 2016 an der Österreichischen Akademie der Wissenschaften anlässlich der Abschlusskonferenz des WWTF-Projekts Literature on the Move zum Thema Grenzüberschreitungen: Migration und Literatur aus der Perspektive der Literatursoziologie gehalten hat.

Literatur

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