Against the background of the renewed popular interest in Stefan Zweig, especially with regard to his commitment to save the idea of Europe from nationalism and fascism, Robert Menasse’s largely satirical portrayal of the dysfunctioning European Union in his novel Die Hauptstadt (2017) gains special significance. While Zweig said Farewell to Europe (the English title of the recent film Vor der Morgenröte, alluding to Zweig’s most important work Abschied von Gestern) with passionate melancholy, a century later his Austrian compatriot, who is no less devoted to the idea of Europe, employs ironic playfulness in reminding the bureaucrats in the titular capital Brussels that they have forgotten (or suppressed) the moral core of why the European Union was created in the first place: the passionate commitment to never allow ›Auschwitz‹ (the metonym for nationalism and racism leading to genocide) to ever happen again. While the irony of the plot does not allow Menasse’s moral plea for historical and cultural responsibility (rather than merely economical opportunism) to succeed, the structure of the novel represents the aesthetic equivalent of the political integration the author emphatically suggests.
Title:»The Moral Conscience of Europe«: Stefan Zweig and Robert Menasse
Keywords:myth of Europe; conscience vs. opportunism; Auschwitz; suppressed history; moral responsibility; Stefan Zweig (1881-1942); Robert Menasse (*1954)
Der österreichische Europäer Stefan Zweig hat im Ersten Weltkrieg, als es gefährlich war, nicht nationalistisch in den Hass auf den jeweiligen Kriegsgegner einzustimmen, seinen französischen Brieffreund Romain Rolland »das moralische Gewissen Europas« genannt (Zweig 1970: 194),1 weil Rolland sich bis an den Rand des persönlichen Zusammenbruchs mit Wort und Tat unermüdlich dafür eingesetzt hat, dass es auch über die tödlichen Schützengräben hinweg noch einen Rest geistiger Verständigung gab: »[E]s war der Einsatz, der restlose, pausenlose, aufopfernde Einsatz seiner ganzen Existenz für die ungeheure Verantwortlichkeit, die er auf sich genommen, innerhalb dieses Wahnsinnsanfalls der Menschheit vorbildlich und menschlich gerecht in jeder Einzelheit zu handeln.« (Ebd.) Romain Rolland verkörperte für Stefan Zweig die Alternative zum mörderischen Heldentum des Krieges, den rückhaltlosen Einsatz für die politische Verantwortung aus menschlicher Gerechtigkeit: »Hier sah ich den anderen Heroismus, den geistigen, den moralischen, denkmalhaft in einer lebendigen Gestalt – […]. Durch ihn hatte das in Tollwut verfallene Europa sein moralisches Gewissen bewahrt.« (Ebd.: 194f.)
Zweig hat damit die Rolle des Schriftstellers definiert, die er auch sich selbst zugeschrieben und praktiziert hat, als er Ende der zwanziger Jahre, inzwischen der berühmte Autor, überall gefeiert durch die Welt reiste und für die Idee Europas warb: »Ich konnte mit stärkerem Nachdruck und breiterer Wirkung für die Idee werben, die seit Jahren die eigentliche meines Lebens geworden: für die geistige Einigung Europas.« (Ebd.: 236) Wie vor ihm Romain Rolland übernahm nun Zweig die Rolle eines geistigen Führers im Chaos von Dummheit, Arroganz, Hass und Zerstörungswut, eines Anwalts für das kulturelle Erbe inmitten seiner blinden Zerstörung, sei es im Ersten Weltkrieg oder angesichts des aufziehenden Faschismus. Sein Anliegen war nicht nur, wie der Titel seines autobiographisch-kulturgeschichtlichen Hauptwerks Die Welt von Gestern (1942) nahelegen könnte, eine nostalgische Klage über den Verlust des alten Europa, das mit Kaiser Franz Joseph untergegangen war, sondern ein Plädoyer für »die geistige Einigung Europas«, für eine zukunftsträchtige, friedensbildende Idee, die nach dem Zweiten Weltkrieg aufgegriffen und, unter schleichendem Verzicht auf das geistige Band, schließlich in der Europäischen Union verwirklicht wurde.
Solche Rolle mag uns heute, da es keine Geistesgrößen vom Format Stefan Zweigs, Romain Rollands oder Thomas Manns mehr gibt, als anmaßend erscheinen. Denn wer hat diese Rufer in der Wüste berufen, so autoritativ im Namen auch unseres Gewissens zu sprechen? Wer hätte noch den Mut, öffentlich eine solche »ungeheure Verantwortlichkeit« auf sich zu nehmen und sich als exemplarisches Opfer der Barbarei zu inszenieren? Wer würde noch wagen, das moralische Gewissen für sich zu reklamieren, und wer könnte noch hoffen, dass ein ähnlicher Mahnruf eines Schriftstellers die mediale Wucht eines öffentlichen Manifests hat, das Menschen aufmerken lässt und ihnen zu denken gibt? Solche Manifeste haben schon den Horror des Ersten Weltkriegs nicht verhindern können, der Zweite Weltkrieg hat Schrecken und Leiden noch ganz anderer Dimensionen gebracht, und das Wort ›Auschwitz‹ ist zum Inbegriff unvergleichlicher, bis dahin unvorstellbarer Barbarei geworden, an der alle verbalen Proteste wirkungslos scheitern mussten. So authentisch der Glaube an die Macht moralischer Intervention damals war, das Pathos von 1917 findet kein Echo mehr. Es verhallt, ohne mehr denn als historisches Dokument wahrgenommen und vielleicht mit einem Lächeln abgetan zu werden.
Deshalb ist genau hundert Jahre später die Aufgabe eines Schriftstellers, der an das europäische Gewissen appellieren und vielleicht sogar, in Zweigs Worten, für eine »geistige Einigung Europas« plädieren möchte, gänzlich anders. Robert Menasse, wie hundert Jahre vor ihm Stefan Zweig ein kritischer Chronist seiner österreichischen Heimat in Europa, hat in seinem mit dem Deutschen Buchpreis ausgezeichneten Roman Die Hauptstadt (vgl. Menasse 2017a) einen völlig anderen Ton angeschlagen. Wo bei Stefan Zweig das Pathos der großen Idee auftritt, die er im vollen Bewusstsein seines kulturellen Auftrags vertritt, herrscht bei Menasse die Ironie eines Erzählers vor, der die Idee einer moralisch-geistigen Erneuerung Europas eher kleinlaut von dafür ungeeigneten PR-Leuten bloß zitieren lässt, als müsste ein Weltunternehmen, um sein Produkt besser zu verkaufen, für die Werbekampagne ein neues Logo finden. Die Idee einer geistigen, womöglich moralisch begründeten Einigung ist im Jahr 2017 nur noch ein Werbetrick, dessen Ausführung von vornherein zum Scheitern verurteilt ist. Menasse ist entschieden unpathetisch, aber in der ironischen Bloßstellung der falschen Propheten genauso entschieden wie Zweig. Verborgen in der komplexen Konstruktion seiner Fiktion bietet auch er ein kulturell begründetes und moralisch zugespitztes Manifest der europäischen Idee, die nicht nur ökonomischen Interessen verpflichtet ist, sondern der Re-Nationalisierung des Integrationskalküls ein nichtinstrumentelles Denken entgegensetzt.
Menasses Roman gewinnt das schärfere Profil eines Manifests erst vor dem Hintergrund von Stefan Zweig und der in den letzten Jahren zu beobachtenden Zweig-Renaissance. Als 2012 die Urheberrechte auf Zweigs Texte verfielen, begann eine durch die politische Entwicklung geförderte Rückbesinnung auf Stefan Zweig, die neben einer Reihe von Zweig-Kongressen, Ausstellungen und Bucherscheinungen2 auch die erfolgreichen Filme The Grand Budapest Hotel (2014, Regie: Wes Anderson) und Vor der Morgenröte (2016, Regie: Maria Schrader) hervorgebracht hat, dessen englischer Titel viel pointierter Stefan Zweig: Farewell to Europe lautet.3 Das Leo Baeck Institute London hat im Juni 2012 eine von Rüdiger Görner organisierte Konferenz »Stefan Zweig and Britain« veranstaltet.4 In Berkeley wurde im September 2014 eine von Jeroen Dewulf und Klemens Renoldner organisierte Konferenz unter dem Titel »Zweig and the World« abgehalten. Der Economist hat am 20. Dezember 2016 seinen Lesern zu erklären versucht, Why Europeans are reading Stefan Zweig again, und in Stefan Zweig eine historische Antwort auf die gegenwärtige Krise der europäischen Einheit gesehen. (»Zweig incarnated the interwar ideal of the cultivated European.« O.A. 2016) Die Zeitschrift The New Yorker hat am 6. Februar 2017, in einem Artikel des Zweig-Forschers George Prochnik, Zweigs Warnung vor Hitler ganz unverhüllt auf den Präsidenten Donald Trump angewandt.5 Die British Library hat den 20. März 2017 zum Stefan Zweig Study Day erklärt, an dem Klemens Renoldner, Direktor des Stefan Zweig-Zentrums in Salzburg, einen beziehungsreichen Vortrag unter dem Titel »When Europe was destroyed« hielt (vgl. Chamsaz 2017). Schließlich hat das Berliner Literaturhaus in der Fasanenstraße am 26. Juli 2017 eine Ausstellung »Ich gehöre nirgends mehr hin«. Stefan Zweigs Schachnovelle. Eine Geschichte aus dem Exil, wieder mit einem Vortrag von Klemens Renoldner, eröffnet. In all diesen Aktivitäten hat sich bestätigt, was eine Jenaer Magisterarbeit schon 2013 vorhergesehen hatte: dass Zweigs Schriften, in denen der europäische Gedanke eine zentrale, von der Forschung gleichwohl lange vernachlässigte Rolle spielt, »gerade in Bezug auf jüngste Entwicklungen in Europa und einem [sic] drohenden Auseinanderbrechen der Euro-Länder von Interesse« seien (Fonz 2013: 1). Tatsächlich hat Zweigs Engagement für die Einheit Europas in den letzten drei Jahren eine große Welle internationaler Aufmerksamkeit ausgelöst.
Eine Bemerkung des Zweig-Artikels im Economist, »Old-timers in Brussels lament the lack of vision among today’s crop of leaders« (o.A. 2016), hätte das Motto für Die Hauptstadt abgeben können, wenn sich Menasse nicht schon lange vorher in Brüssel (auf der Rue du Marché aux Grains) eingemietet hätte, um über die Europäische Union für seinen Roman aus erster Hand zu recherchieren. Die Sorge um Europa und der Ruf nach einer Vision für seine Zukunft haben sich nach der Flüchtlingskrise 2015 und nach dem Brexit-Votum Großbritanniens im Juni 2016 so verschärft, dass »der weltweit erste EU-Roman«, als der Die Hauptstadt begrüßt wurde (Isenschmidt 2017), mit einem dankbaren Publikum in aller Welt rechnen konnte. Sogar die New York Times hat, noch lange bevor eine englische Übersetzung des Romans abzusehen war, am 15. Januar 2018 in einem Artikel auf der ersten Seite seiner Kultursektion, mit Abbildung des deutschen Buchtitels und mit einem im Berliner Savoy-Hotel durchgeführten Interview, für die Mission des Romans geworben (vgl. Erlanger 2018).
Die politische Situation, auf die sich Menasse bezieht, ist bekannt und schnell skizziert: Wenn sich Euroskeptiker lange Zeit vor allem an der anonymen, nicht demokratisch kontrollierten Bürokratisierung der EU und ihrer auf ökonomische Partikularinteressen reduzierten Rechtfertigung reiben, so ist das moralische Dilemma, mit dem sich Europa seit 2015 konfrontiert sieht, nicht mehr von der Hand zu weisen. Angela Merkels humanitärer Appell: »Wir schaffen das!«, den sie auch auf die Gefahr rechtspopulistischer Proteste hin und mit dem Risiko einer Wahlniederlage durchgehalten hat, hat eine ganz neue Dimension in die Europadebatte gebracht: das moralische Gewissen, das sich über pragmatische Nutzerwägungen hinwegzusetzen wagt. Die Ungeheuerlichkeit dieser in der Geschichte der EU so nie gestellten Alternative ›Gewissen vs. Opportunität‹ hat Deutschland weltweit Sympathien, aber auch Kopfschütteln, Empörung und Proteste eingebracht. Das Erstarken der AfD und die Verhärtung der nationalistischen Politik besonders in Ungarn, in Polen und neuerdings auch in Österreich werden gerne und allzu leichtfertig auf das Konto der Gewissensfrage gesetzt, als wäre der Störfaktor der Flüchtlinge verantwortlich für die moralische Hilflosigkeit der Europäer. Die komplexe Gewissensfrage, die als solche kaum ein mediales Echo fände, wird zur überall diskutierten Flüchtlingsfrage vereinfacht, in der sich Leute, als handelte es sich um einen Popularitätstest im Internet, nur pro und contra entscheiden können.
Vor diesem aktuellen politischen Hintergrund, den die Kommentatoren täglich ausleuchten, hat Robert Menasse mit seinem vor allem in Brüssel, der Hauptstadt der EU, spielenden Roman Die Hauptstadt ein wichtiges und ganz aktuelles Zeichen gesetzt. Worum es ihm darin geht, hat er, ohne sich auf den Roman zu beziehen, in einem engagierten Festvortrag zum 60. Jahrestag der Römischen Verträge am 21. März 2017 im Europäischen Parlament in Brüssel vorgetragen. Wie selbstverständlich hat diese »Kritik der Europäischen Vernunft« (so der Titel der Rede) nicht nur an Kants Aufklärung angeknüpft, sondern sich, was kaum noch überraschen dürfte, auf eine Aussage Stefan Zweigs von 1913 berufen: »Entweder wir ringen den Nationalismus nieder, oder die europäische Zivilisation geht unter« (Menasse 2017b).6 Diesem Appell hat sich Menasse kaum minder pathetisch angeschlossen und mit seinem sechs Monate später erschienenen Roman nun auch den Literaturkritikern und Kulturwissenschaftlern einen satirischen Anlass gegeben, die europäische Gewissensfrage in einen größeren Zusammenhang zu stellen, der, wenn es um die literarische Verbildlichung eines politischen Problems geht, durchaus mit seinen mythologischen Ursprüngen beginnen darf.
Recht, Gerechtigkeit und moralische Verantwortung sind wie »Einigkeit und Recht und Freiheit« nicht nur tragende Säulen unseres Staatsverständnisses, sondern auch konstitutive Elemente des antiken Europamythos. Schließlich ist der bildliche Kern der abstrakten Idee ›Europa‹ eine offenbar überaus begehrenswerte Frau namens Europa. Jedenfalls wurde Europa, die Tochter des phönizischen Königs Agenor und seiner Frau Telephassa, als sie mit anderen Mädchen am Strand des heutigen Libanon spielte, von Zeus in der Gestalt eines Stiers nach Kreta entführt – ein Vorfall, der unter heutigen Vorzeichen, wo auch die Bewunderung für die Verwandlungskraft des obersten Gottes, dieses gewaltigsten womanizers, in Verruf kommen könnte, dem Verdikt des sexual misconduct verfallen würde. Der Stier gewordene Gott ist seit zweieinhalb Jahrtausenden der Inbegriff kraftvoller Sinnlichkeit, die den Menschen bezwingt. Dieses von Ovid in den Metamorphosen (2, 833-875) beschriebene Urbild gewaltsamer Verführung war so einprägsam, dass sich, seit der ersten Darstellung des ›Raubs der Europa‹ auf einer Metope am Schatzhaus der Sikyonier in Delphi (560 v.Chr.), immer wieder die größten Maler daran versucht haben: Tizian (um 1560), Paolo Veronese (um 1580, im Dogenpalast), Rembrandt (1632), Claude Lorrain (1667), Tiepolo (1722), Goya (1772) bis hin zu Fernando Boteros Ratto di Europa (1998). Einer der letzten war Salvador Dali, der in seinem Stich Europa and the Bull (1973) die Entführte sehnsüchtig hingegossen auf dem Rücken des zahmen Stiers am Bosporus zeigt. Aus dieser göttlich-menschlich-tierischen Vereinigung gingen drei Söhne hervor: Minos, Rhadamanthys und Sarpedon. Das sodomitische Skandalon war sicher ein so großer Teil des sinnlichen Reizes, der von diesem Urbild ausging, dass es sich in der nächsten Generation wiederholt hat; denn wie Europa ist auch ihre mit Minos verheiratete Schwiegertochter Pasiphae einem – diesmal nicht göttlichen – Stier verfallen, von dem sie – mit Hilfe eines von Daidalos gebauten Kuhgerüsts – den Minotaurus empfängt. Diesem im Zentrum des Labyrinths von Kreta hausenden Ungeheuer, einem Menschenleib mit Stierkopf, müssen jährlich sieben Knaben und sieben Mädchen aus Athen geopfert werden. Athen wird von dieser Fron erst erlöst, als Theseus, mit Hilfe des berühmten Ariadnefadens, das bedrohliche Labyrinth und sein Monster bezwingt. Das exemplarische Ende der – in Christi Opfertod nachklingenden – Menschenopfer ist, wie wir von Goethes Iphigenie auf Tauris wissen,7 ein entscheidender Schritt auf dem Weg zur Humanisierung der abendländischen Kultur.
Ariadne, als Tochter des Minos auch die Enkelin Europas, hat mit ihrem Wollknäuel der späteren Hermeneutik die wichtigste Metapher an die Hand gegeben, den ›Leitfaden‹ zur interpretatorischen Erschließung von schriftlicher oder bildlicher Bedeutung, einen ›Zugang‹ zum andernfalls labyrinthisch unzugänglichen Verständnis, der die wörtliche Übersetzung des griechischen Worts methodos ist. Wir befinden uns also im philo- / mythologischen Kern eines methodischen Verstehensprozesses, der mit der Eroberung eines kognitiven Labyrinths auf die Beseitigung eines inhumanen Übels hinausläuft. Im Bild der Befreiung Athens durch seinen künftigen König Theseus sind politische Tat und moralischer Anspruch hermeneutisch verbunden. Aber erst mit der Versetzung von Europas Sohn Minos, der als besonders gerechter Herrscher über Kreta galt, in die Unterwelt, wo er zusammen mit seinem Bruder Rhadamanthys das Amt des Totenrichters ausübt, wird der moralische Anspruch des griechischen Mythos existentiell zugespitzt: Minos, der – wie im christlichen Glauben das Jüngste Gericht – über das moralische Verhalten der Gestorbenen urteilt, ist die höchste richterliche Instanz der Moral. Er schickt die Seelen der Gestorbenen, je nach Verdienst, entweder in die vom Lethe, dem Strom des Vergessens, umflossenen eleusischen Gefilde oder in die Höllenqualen des von Ungeheuern bewohnten Tartarus. Aus der Angst vor solchem Höllengericht, in dem es wie in der christlichen Ikonographie um die ewige Verdammnis geht, ist das moralische Gewissen abgeleitet worden, nicht als Bewusstsein des Richtigen, sondern als Angst vor der Bestrafung des Falschen.
Das Gewissen als Instanz der Entscheidung zwischen Gut und Böse ist also weniger ein Organ des absolut Guten als ein Kalkül der Opportunität, eine Abwägung des relativen Werts von Optionen. Als restriktive Entscheidungshilfe dienen im Christentum die zehn Gebote, die ja vor allem Verbote sind – z.B. »Du sollst nicht töten«. In dieser negativen Bestimmung der Moral führt schon ein nur gedachter Verstoß gegen die Gebote zum schlechten Gewissen und damit zum manipulierbaren Schuldbewusstsein, ohne das es keine Erlösungstheologie gäbe. Kant hat dagegen als jeder Moral vorausliegendes Grundprinzip des richtigen Handelns den kategorischen Imperativ konzipiert: »Handle nur nach derjenigen Maxime, durch die du zugleich wollen kannst, dass sie ein allgemeines Gesetz werde.« (Kant 1968: 421) Kriterium dieser Handlungsmaxime ist nicht das persönliche, sondern das gemeinschaftliche, das sozialisierte Bewusstsein des Guten und Richtigen, weil das rücksichtsvolle Verhalten im Kollektiv, nicht aber nur das Empfinden des Individuums der Maßstab der Moral ist. Es war ein entscheidender Schritt der Säkularisierung, als die moralische Verantwortung des Menschen nicht mehr jenseitig am persönlichen Verhalten zu Gott, sondern diesseitig am sozialen Verhalten zur Gesellschaft gemessen wurde.
Mythologische Hermeneutik, christlicher Glauben und aufgeklärte Emanzipation, im Sinne Kants der »Ausgang des Menschen aus seiner selbst verschuldeten Unmündigkeit« (Kant 1996: 53), gehören zusammen zum europäischen Erbe. Das Gewissen entwickelte sich, mit seiner transzendentalen Begründung als charakteristisch christliches Kriterium des Sündenbewusstseins, etwa zur selben Zeit, als die schon von den Römern territorialisierte Vorstellung von Europa unter Karl dem Großen, in Hinblick auf sein lateinisch-christliches Imperium, den ganzen Kontinent markierte – zunächst in der Abgrenzung gegen den griechischen Osten und schließlich als christliches Abendland gegen das muslimische Morgenland. Trotz dieser während der Kreuzzüge fluktuierenden Abgrenzung nach außen galt für den europäischen Kontinent nach innen weiterhin die lateinisch bestimmte Integration aller zunehmend nationalsprachlich geprägten Regionen, die politische Einheit, deren Zentrum über verschiedene Hauptstädte verteilt war. Regierungssitz Karls des Großen war sein jeweiliger Aufenthaltsort, oft die Kaiserpfalzen in Metz, Ingelheim, Paderborn und vor allem Aachen. Diese kulturell, über die Gemeinsamkeit der (lateinischen) Sprache und (christlichen) Religion begründete identity of difference ist der historische Kern und Ursprung der europäischen Idee. Aber mit der zunächst sprachlichen und dann, vor allem seit der Reformation im 16. Jahrhundert, religiös verbrämten politischen Differenzierung begann eine Regionalisierung, die im 19. Jahrhundert zu nationalstaatlichen Gegensätzen und im 20. Jahrhundert zu zwei vernichtenden Weltkriegen führte.
Wer also heute vom »moralischen Gewissen Europas« spricht, pathetisch wie Stefan Zweig oder ironisch wie Robert Menasse, assoziiert viel kulturellen und sogar religiösen Ballast, aber auch die darin gegründeten ›geistigen‹ Werte, die im instrumentellen Denken ökonomischer Opportunität unterzugehen drohen. Das immer dominantere Streben nach materiellem Erfolg hat das Gewissen als moralische Instanz der Solidarität mit den Erfolglosen auf den Prüfstand gestellt. Wer die europäische Integration nur an ihren ökonomischen Erfolgen misst und damit identifiziert, hat es schwerer, an dem historischen Modell der Wertegemeinschaft festzuhalten, in dem Freiheit, Gerechtigkeit und Solidarität selbstverständliche Ziele waren. Es ist also kein Wunder, dass die Fixierung auf den Wohlstand, den Europa inzwischen vor allem verspricht, nach dem Zusammenbruch des sowjetisch geprägten Ostblocks die womöglich übereilte Osterweiterung von 2004 geleitet und die demokratische Integration gebremst hat. Umso schockierender war die Konfrontation Europas mit der Gewissensfrage, wie man sich angesichts der ungeheuren Flüchtlingswelle verhalten solle, die seit 2015 Hunderttausende verzweifelter, um ihr Leben kämpfender und vielleicht von dem gleichen Opportunitätsdenken, das die Europäer antreibt, motivierter Menschen sowohl auf dem Landweg durch den Balkan als auch auf dem Seeweg an die Küsten der europäischen Wohlstandsgesellschaft gespült hat. In einem Fall war es Griechenland, im anderen Italien. Gerade die Länder, in der die Wiege der klassisch geprägten europäischen Kultur gestanden hat, waren von dem Zustrom völlig überfordert und deshalb auf die Solidarität der anderen europäischen Staaten angewiesen. Aber mit der großen Ausnahme Deutschlands, das etwa eine Million Flüchtlinge aufgenommen hat und dafür einen hohen politischen Preis bezahlen muss, war sich jeder der Nächste; die meisten Staaten, vor allem die ökonomisch schwächeren, verweigerten die Solidarität, die einmal den moralischen Kern der europäischen Idee ausgemacht hat. Es ist, als hätten die Europäer vergessen, dass die mythologische Figur der Europa selbst eine unfreiwillige Migrantin war, als der göttliche Stier sie von der Küste Kleinasiens nach Kreta entführte und sie damit gewissermaßen überhaupt erst europäisierte. In der schillernden Doppeldeutigkeit von Figur und Idee könnte man eine solche – im Mythos antizipierte – Europäisierung Europas für die geheime Mission auch von Menasses Roman halten, als ironische Wiederanknüpfung an in Vergessenheit geratene Grundwerte.
Menasses satirischer Roman handelt vordergründig von der Bürokratie Europas in Brüssel und bringt es fertig, noch in der Bloßstellung der aalglatten Bürokraten, die im Namen der europäischen Idee nur ihr politisches Ansehen aufbessern wollen, das desavouierte Ideal einer geistig-moralischen Erneuerung untergründig überhaupt erst zu lancieren. Für diesen Balanceakt eines ironischen Manifests kann er sich sehr selbstbewusst auf die bewährten Mittel der literarischen Fiktion stützen, die Charakterisierung der Figuren, die Dramaturgie der Handlung, die Symbolik der Leitmotive – und die Kunst poetischer Kombinatorik. In der dramaturgischen Zusammenführung der Personen, Handlungselemente und Symbole schafft er das ästhetische Äquivalent einer politischen Integration.
Gleich der erste Satz lässt keinen Zweifel daran, dass es sich bei diesem Text nicht um einen nüchternen Tatsachenbericht handelt, sondern um eine fiktionale Konstruktion, die mit dem Ausruf eines erstaunten Zeugen auf die Neugier der Leser spekuliert: »Da läuft ein Schwein!« (9)8 Das Schwein, das sich – niemand weiß woher – mitten in die europäische Hauptstadt und in den Roman verlaufen hat und immer wieder, an den unwahrscheinlichsten Stellen der Stadt (und des Romans) auftaucht und am Ende genauso mysteriös wieder verschwindet, wird zum Leitmotiv, das die Kriminalgeschichte, die keine ist, wie eine mythologische Spur durchzieht und sich dem realen wie dem ästhetischen Zugriff bis zuletzt entzieht. Weder die aufgeschreckten Passanten der Hauptstadt noch die belustigten Leser erfahren, was das Schwein hier zu suchen hat. Das öffentliche Rätselraten über das verirrte Tier bleibt ungelöst. Während den antiken Europamythos der göttliche Stier beherrscht, der eine Generation später als fast anthropomorpher Minotaurus wiederkehrt und den athenischen Staat bedroht, ist das ausdrücklich mit einem Stier verglichene Schwein, das »mit gesenktem Kopf, in der Haltung eines Stiers, bevor er zum Angriff übergeht« (12), Europas Hauptstadt in Verwirrung stürzt, das komische Gegenstück seines göttlichen Vorläufers, ein echtes Schwein, mit dessen symbolischer Tragweite der Erzähler sein sprachbewusstes und anspielungsreiches Spielchen treibt. Einmal taucht das Schwein überraschend auf dem Soldatenfriedhof auf, wo ein seltener Besucher die endlosen Reihen der Soldatengräber abschreitet »wie ein Präsident die militärische Formation bei einem Staatsempfang im Hades« (87); zwischen den regelmäßigen Grabkreuzen wühlt es mit seinem Rüssel und den Klauen wie wild den Boden auf, als wäre hier etwas verscharrt, wonach es in ganz Brüssel vergeblich gesucht hat. Aufmerksame Leser werden sich bei diesem aufgewühlten Totenreich des von Minos beherrschten Hades auch an den Europamythos erinnern.
Als gemeinsames Objekt des erstaunten Aufmerkens führt das über die Place Sainte-Catherine laufende Schwein, »ein verdrecktes, aber eindeutig rosa Hausschwein, das etwas Irres hatte, etwas Bedrohliches« (11), auf den ersten drei Seiten verschiedene, lange kaum miteinander verbundene Figuren des Romans zusammen: David de Vriend, der zum letzten Mal aus dem Fenster seiner schon leergeräumten Wohnung blickt, bevor er ins Seniorenheim übersiedelt; Kai-Uwe Frigge, der auf dem Weg zu einem Treffen von der Notbremsung des Taxifahrers nach vorn geschleudert wird; Fenia Xenopoulou, die am Fenster des Restaurants Menelas von ihrem Ouzo hochschreckt;9 Ryszard Oswiecki, der aus dem nahen Atlas Hotel unbemerkt fliehen kann, weil alle nur auf das Schwein starren; Martin Susman, der aus dem Fenster seiner neben dem Atlas Hotel gelegenen Wohnung blickt und in dem unwirklichen Schwein eine Projektion seiner Erinnerungen zu erkennen glaubt; Professor Alois Erhart, der einem in panischer Angst vor der Berührung mit dem unreinen Tier gestolperten Muslim aufhilft. Die Schweineroute ist der Ariadnefaden, den der Erzähler durch das topographische Labyrinth der Hauptstadt legt, und das Schwein der satirisch-unheimliche Brennpunkt einer literarisch konstruierten und entsprechend »Prolog« überschriebenen Exposition des Figurenarsenals. Der Prolog, in dem das Schwein die Blicke ganz verschiedener Personen bündelt, ist ein überdeutlicher Hinweis darauf, dass diese »Hauptstadt« die Bühne eines analytischen Dramas ist, in dem es noch um ganz andere, sehr brisante Projektionen der Erinnerung geht, um die vergessene Vorgeschichte der EU wie um die Vorgeschichten der einzelnen Figuren. Offenbar handelt es sich um die Analyse einer, um im Friedhofsbild zu bleiben, längst begrabenen Vergangenheit.
Die zentrifugalen Kräfte, die die EU-Länder auseinanderdriften lassen, werden eingefangen ausgerechnet durch ein Schwein, dessen Funktion als (letztlich blindes) Leitmotiv in der Verknüpfung der voneinander isolierten Handlungsfragmente besteht. Die Aufregung um das Schwein lenkt schon im Prolog von einer Kriminalgeschichte ab, die nie aufgeklärt wird; denn der Pole namens Oswiecki, der nicht zufällig an den polnischen Namen für Auschwitz (Oświęcim) erinnert, flieht aus dem Atlas Hotel, weil er dort im Auftrag anonymer Mächte den Falschen ermordet hat, ohne dass wir je erfahren, wer der Ermordete war oder wer eigentlich hätte ermordet werden sollen oder in wessen Auftrag der Mord hätte geschehen sollen. So bleibt die Mordgeschichte, von der schon gleich am Anfang der öffentliche Rummel um das Schwein ablenkt, nicht nur ein ungelöster Fall, sondern, wenn dann auch noch alle Untersuchungsdaten auf rätselhafte Weise vom Computer des zuständigen Kommissars verschwinden, ein schließlich unterdrücktes blindes Motiv, das eine ganz andere dramaturgische Analyse einleitet: wie es zur Gründung der EU gekommen ist und warum die Anfangsmotive in Vergessenheit geraten sind. Wie sehr die ursprüngliche Idee ›auf den Hund gekommen‹ – oder in der sprachbewussten Phantasie Menasses richtiger ›aufs Schwein gekommen‹ – ist, zeigt sich daran, dass im Mittelpunkt der politischen Diskussion Martin Sussmans Bruder Florian steht, der der Chef des »größten österreichischen Schweineproduktionsbetriebs« (70) ist und vor kurzem zum Präsidenten der European Pig Producers gewählt wurde, deren Akronym leicht mit der Europäischen Volkspartei (EPP) verwechselt wird und damit, so ganz nebenbei, auch die Österreichische Volkspartei in den (Schweine-)Dreck zieht. Florian Sussman drängt auf einen gemeinsamen Vertrag der EU-Staaten mit China, damit er, der Produzent von »jährlich fünf Millionen Schweinen« (71), zehn Prozent Anteil an dem geschätzten Bedarf Chinas von jährlich hundert Millionen Schweinsohren bekommt.
Das Hauptanliegen der politischen Diskussion ist für einen der damit befassten Beamten »eine Schweinerei, wie er es nannte« (112). Man könnte auf den Gedanken kommen, dass Menasse eine Redensart, mit der manche Euroskeptiker über die Bürokratisierung und Ökonomisierung der EU schimpfen mögen, wörtlich nimmt und die satirische Energie aus der Dramatisierung dieser Schimpfrede zieht. Die für die Europäische Union typischen Kompetenzschwierigkeiten arten, in Anspielung auf Shakespeare, zum »Krieg der Schweine« (128) zwischen den Abteilungen DG GROW und DG TRADE aus, wobei das lebende Schwein Ersteren und das geschlachtete Schwein Letzteren zugeordnet ist: »Ihnen war das Schwein buchstäblich Wurst, es sollte nur richtig etikettiert werden.« (129) Während das in Brüssel verirrte Schwein als »Medienstar« (172) sein Unwesen treibt und in der Gratiszeitung Metro von einem Verhaltensforscher namens Professor Kurt van der Koot, Professor an der Vrije Universiteit Brussel, mit Hypothesen überzogen wird, die einen »Shitstorm« (173) auslösen, geht es in den Amtsstuben der EU, angestiftet von ›Koot‹ und ›Shit‹, um die große Schweinerei eines internationalen Handelskrieges. Denn nach der deutschen Kanzlerin, die in Sachen »Schweinehandel« (130) schon achtmal in China war, fliegt nun auch der österreichische Präsident mit einer großen Handelsdelegation nach Peking, um einen bilateralen Vertrag auszuhandeln. Immer wieder geht es bei diesen inflationären Einzelgängen, die die solidarische Einheit vermissen lassen, nur um die Nutzenmaximierung des Handels, eben um die als »Schweinehandel« ironisierte Ökonomisierung der verratenen Europaidee.
Das blinde Spiel mit dem Schwein und somit mit der ganzen »Schweinerei« der bürokratisierten EU-Mission bildet den Hintergrund für den verzweifelten, letzten Endes vergeblichen Versuch, diesem zur Handelsorganisation verkommenen Europa die geistige Idee zurückzugeben, die einmal an seiner Wiege gestanden hat. Aber die kulturelle Tradition wird in der Europäischen Union stiefmütterlich behandelt. Von Kultur spricht man in der EU-Verwaltung, folgt man Menasse, sogar nur mit Verachtung. Eine Versetzung in die Generaldirektion für Kultur und Bildung wird »als Rückstufung, als Karriereknick, als Abschiebung« (33) empfunden: »Die Kultur war ein bedeutungsloses Ressort, ohne Budget, ohne Gewicht in der Kommission, ohne Einfluss und Macht.« (Ebd.) Das Ressort, das in der Kommission »kein Ansehen hatte und nur milde belächelt wurde« (45), ist so belanglos, dass damit auch nur belanglose Länder wie Griechenland abgespeist werden, nachdem sich Österreich mit dem publizistischen Aufschrei »Uns droht die Kultur!« (46) erfolgreich gegen die Kultur gewehrt hat; denn wer »von der Kultur kommt« (277), wird beim Präsidenten der EU-Kommission nicht einmal vorgelassen. Aber in dem Kulturressort fällt es ausgerechnet dem Österreicher Martin Sussman, dem Bruder des genannten Schweinechefs, zu, den Spruch des Europaahnherrn Jean Monnet, wenn er »noch einmal anfangen könnte, dann würde [er] mit der Kultur beginnen« (153), in Frage zu stellen, ihn lächerlich zu machen – »Die Ode an die Freude singen und dann erst die Montanunion gründen?« (153) – und mit dem Hinweis auf die Priorität des freien Handels auf einem gemeinsamen Markt zu entkräften.
Die Kultur ist »eine Arche im Trockendock« (375), ein Rettungsboot, das nicht mehr gebraucht wird, weil niemand die Sintflut wahrhaben will, die von der totalen Ökonomisierung aller Lebensbereiche ausgeht. Deshalb ist das in der Kulturabteilung nur zur Imagepflege ausgeheckte Projekt einer Feier zum 50. Jubiläum der EU von vornherein zum Scheitern verurteilt, »[a]ls würde man einem Opa, der an Demenz litt, dazu gratulieren, dass es eine Zeit gab, in der er bei Sinnen war – während die Enkel unbeeindruckt längst alles ganz anders machten.« (61) Das »Big Jubilee Project« (56), mit dem sich die belanglose Kulturabteilung endlich Gehör verschaffen will, ist ein verzweifelter Profilierungsakt, der aufgrund einer Intrige des ungarischen Protokollchefs des Ratspräsidenten vor allem durch die kleinen Staaten zu Fall gebracht wird, vorneweg durch Polen, Österreich, Tschechien und die Slowakei: »Die kleinen Länder waren erwartungsgemäß am schnellsten im Widerstand, wenn ihre nationale – was? Identität? Ehre? oder gar Daseinsberechtigung? in Frage gestellt wurde.« (335) Kultur, die selbst für die damit betrauten Bürokraten kaum mehr als ein lästiges Mittel zum Zweck des nächsten Karrieresprungs ist, steht bei den Rechtspopulisten unter dem Generalverdacht, ein übernationaler Trojaner zur Beleidigung der jeweiligen Nationalehre zu sein.
Aus solcher kulturfernen Lethargie, der die moralische Rechtfertigung der europäischen Einigung gleichgültig geworden ist, kann – so muss sich der mit Thomas Bernhards literarischer Schocktherapie vertraute Autor gedacht haben – nur ein ganz besonderer culture shock herausreißen. Einen solchen Schockcharakter hat vor allem im deutschsprachigen Raum nur das Wort ›Auschwitz‹. Wer damit das moralische Gewissen beschwört, trifft einen so empfindlichen Nerv, dass schon 1998 Martin Walser in einer deshalb sehr umstrittenen Rede von einer »Moralkeule« gesprochen hat (Walser 1998).10 Auch Menasse bedient sich dieser Provokation, wenn er Professor Erhart als Mitglied einer Expertenkommission, die »Analysen und Vorschläge für Auswege aus der Krise und für eine Festigung der Union« (194) vorlegen soll, ausgerechnet Auschwitz ins Spiel bringen lässt. Weil er »aus dem Europa konkurrierender Kollektive ein Europa souveräner, gleichberechtigter Bürger machen« (392) möchte, schlägt Erhart als »erste, kühne, große, bewusste Kulturleistung der nachnationalen Geschichte« (ebd.) die Verlegung der Hauptstadt Europas nach Auschwitz vor; denn schließlich ist Auschwitz, »maßgeblich für die Einigungsidee Europas« (394), der Name für das moralische Gewissen Europas:
Erhart hatte gelernt, dass das europäische Einigungsprojekt auf diesem Konsens beruhte: Nationalismus und Rassismus hatten zu Auschwitz geführt und durften sich nie mehr wiederholen. Dieses ›Nie wieder!‹ begründete alles Weitere, die Souveränitätsabgabe der Mitgliedstaaten an supranationale Institutionen und die bewusste Gestaltung einer transnationalen, verflochtenen Ökonomie. (395)
Aber inzwischen ist das »Nie wieder!« nur noch eine Formel für Sonntagsreden; und Auschwitz, dessen Lagermuseum von der EU subventioniert wird, ist nur noch das Ziel einer unvermeidlichen Dienstreise zum Jahrestag der Befreiung am 27. Januar. Erharts Vorschlag wird von seinen Kollegen mit Fassungslosigkeit abgeschmettert und ihm der Stuhl vor die Tür gesetzt. Als er begreift, dass selbst das Versprechen für die Ewigkeit: »Nie wieder Auschwitz!«, eine Halbwertzeit hat, knüpft auch er das moralische Gewissen an die Zeitlichkeit der Erinnerung: »Wenn der Letzte gestorben sein wird, der bezeugen kann, aus welchem Schock heraus sich Europa neu erfinden wollte – dann war Auschwitz für die Lebenden so weit abgesunken wie die Punischen Kriege.« (96)
Nur biographische Erinnerung bewahrt davor, dass Auschwitz so verdrängt und in das Archiv vergessener Geschichtsdaten abgedrängt wird wie die Punischen Kriege. Deshalb erfahren die Leser nach und nach die Vorgeschichte der einzelnen Figuren, die, wie sich herausstellt, alle in die nun verdrängte Geschichte verwickelt waren. Ryszard Oswieckis Großvater wurde 1939 als polnischer Partisan von den Nazis erschossen, sein Vater 1964 von den Kommunisten zu Tode gefoltert; David de Vriend hat als kleiner Junge überlebt, weil er von einem für Auschwitz bestimmten Deportationszug abgesprungen ist, während seine Eltern, sein kleiner Bruder und sein Großvater vergast wurden. Alois Erharts Vater war ein Wiener Sportwarenhändler, der schon vor dem Anschluss Nazi war und 1942 als Mitglied der Ordnungspolizei nach Posen verlegt wurde, »um dort unter dem Titel ›Partisanenbekämpfung‹ Erschießungen von Juden durchzuführen« (396); Martin Sussmans Vater war ein Schweinebauer in Österreich, der vor 18 Jahren von einer Maschine zermalmt wurde; der Großvater des Polizeikommissars Émile Brunfaut, der den Mord zu untersuchen hat, war ein Held des belgischen Widerstands. Wenn man – wie das Schwein auf dem Soldatenfriedhof – nur tief genug wühlt und in der Analyse der Vergangenheit nicht nachlässt, stellt sich schnell heraus: Auschwitz ist überall, selbst das Friedhofsportal in Brüssel hat »eine gewisse Ähnlichkeit mit dem Tor von Birkenau« (103). Trotzdem ist Auschwitz aus dem Gedächtnis der Erfolgsbürokraten verschwunden wie der Mordfall im Hotel Atlas, der sogar aus der Datenbank des Mordkommissars spurlos gelöscht wurde, als hätte er nie stattgefunden. Die analytische Struktur, die seit dem sophokleischen Oidipus Tyrannos auf die Aufdeckung eines Vorfalls, meistens eines Verbrechens ausgerichtet ist,11 bestimmt auch Menasses Roman: Wo der Kriminalfall seinen Gegenstand verloren hat und wirklich, wie es heißt, gegenstandslos geworden ist, sucht sich die Form einen anderen Gegenstand von ganz anderen Ausmaßen: Der Vertuschung des Mordfalls, der als blindes Motiv aus dem Handlungsgang verschwindet, entspricht die Verdrängung von Auschwitz. Die Brüsseler Bürokraten wollen nicht an das finstere Kapitel des Faschismus erinnert werden: »[W]ir halten nichts von Kapiteln in alten Büchern, wir sind die neuen Buchhalter.« (386)
Mit der kurz darauf zitierten Zeitungsnachricht, dass sich »der letzte Überlebende« (399) eines Jugend-KZ, der 80-jährige Adam Goldfarb, vor den IC von Lódz nach Poznań geworfen hat, beginnt die symbolische Einlösung der Prognose, dass mit dem letzten Zeitzeugen auch die Erinnerung sterben wird. Alois Erhart, der sich mit seinem an Stefan Zweig erinnernden Pathos lächerlich gemacht hat, hat in Brüssel nichts mehr zu bestellen. Auf dem Weg zum Flughafen kommt er bei dem Terroranschlag auf die Metro-Station Maelbeek (am 22. März 2016) genauso um wie Martin Sussman und David de Vriend. Während Martin Sussman noch kurz vorher die Idee hatte, das »Jubilee Project« dadurch aufzuputzen, dass man dazu Beamte der ersten Generation, die noch »wussten, worum es ging« (440), und Überlebende der Vernichtungslager einlädt und notfalls durch Schauspieler ersetzt, hat sich der zunehmend an Altersdemenz leidende David de Vriend, »der letzte noch lebende Jude aus dem legendären 20. Deportationszug nach Auschwitz« (354), selbst an den Schluß einer Liste von Überlebenden gesetzt, die einer nach dem anderen ausgestrichen werden. Am Ende, auch am Ende des Romans, der mit dem Bombenattentat schließt, gibt es keine Zeitzeugen mehr, die das moralische Gewissen der europäischen Einigung repräsentieren könnten. Das moralische Gewissen ist erloschen, weil »die gegenwärtigen Eliten der Bürokratie« (440) keinen Sinn mehr dafür haben; sie sind »geschichtsvergessen und zukunftsblind«.12
Die inhaltliche Antwort auf die Frage nach dem moralischen Gewissen Europas fällt also deprimierend negativ aus. Die in den belanglosen Kulturbereich abgedrängte Frage interessiert niemanden mehr. Ihre Vertreter und Zeitzeugen sind am Ende ausgelöscht durch einen Terrorismus, der nach Nationalismus und Rassismus, diesen Schreckbildern an der Wiege der europäischen Einigung, eine ganz neue Herausforderung darstellt. Die moralische Sensibilität für die Komplexität der Flüchtlingskrise, die eine bewundernswerte Hilfswelle von öffentlicher und privater Hand ausgelöst hat, droht auf eine militant xenophobe Abwehrhaltung reduziert zu werden, die den Spruch »Nie wieder Auschwitz!« Lügen straft. Als ein Wettbewerb zur Namensgebung für das in die Hauptstadt verlaufene Schwein auf den mehrheitlich gestützten Vorschlag hinausläuft, das Schwein ›Mohamed‹ zu nennen, zeigt sich in dieser gezielten Parallele zur ›Judensau‹ ein so ungeheuerliches Wiederaufleben des Rassismus, der zu Auschwitz geführt hat, dass der Roman mit der Selbstauflösung der Jury endet. Es gibt nichts mehr zu entscheiden, auch weil das namenlose Schwein am Ende genauso mysteriös verschwindet, wie es am Anfang aufgetaucht ist. Was das Schwein aufgewühlt hat, bleibt ohne Folgen; in einem geschichtsvergessenen Europa beherrschen Terrorismus und Xenophobie die Schlagzeilen. Der Roman erweist sich am Ende, mit dem Untertitel eines früheren Buchs von Menasse, als »Geschichte des verschwindenden Wissens« (Menasse 1995).
So resigniert die inhaltliche Antwort auch sein mag, die viel positivere formale Antwort auf die Frage nach den moralischen Gründen für die Einigung Europas ergibt sich erst aus einer Analyse des Romanaufbaus. Die gewissermaßen transzendentalpoetische Struktur, die mit dem »Prolog«, der leitmotivischen Zusammenführung der Handlungsfäden, dem Aufbau eines analytischen Dramas und der dramatischen Zuspitzung der vorprogrammierten Katastrophe (443: »noch vier Minuten«, 447: »noch zwei Minuten«, 451: »noch eine Minute« bis zur Detonation der Bombe) selbstreflexiv auf die literarische Konstruktion dieses ironischen Manifests verweist, suggeriert auf der ästhetischen Ebene einen Zusammenhang, der auf der politischen Ebene gewünscht, aber verfehlt wird. Schon früher hatte sich die Möglichkeit angedeutet, dass die hier angewandte Kunst der literarischen Kombination von Personen, Handlungselementen und Symbolen das ästhetische Äquivalent einer politischen Integration schafft. Was inhaltlich nicht mehr gelingen kann, weil sich Stefan Zweigs ungedecktes Pathos im politischen Zynismus der bürokratischen Eliten aufgerieben hat, findet seine ästhetische Lösung im formalen Prozess auktorialer Gestaltung, die sich nicht nur vieler weiser Aperçus bedient, die die Lektüre zu einem wahren Lesevergnügen machen, sondern mit ihrer programmatischen Mission die vordergründige Ironie unterläuft.
Um das Programm der Strukturierung und die Funktion der Aperçus besser zu verstehen, genügt ein Blick auf das jeweilige Motto der Kapitel: »Zusammenhänge müssen nicht wirklich bestehen, aber ohne sie würde alles zerfallen.« (1. Kap., 15) – »Ideen stören, was es ohne sie gar nicht gäbe.« (2. Kap., 43) – »Letztlich ist der Tod auch nur der Beginn von Folgeerscheinungen.« (3. Kap., 77) – »Wenn wir in die Zukunft reisen könnten, hätten wir noch mehr Distanz.« (4. Kap., 105) – »Erinnerungen sind nicht unzuverlässiger als alles andere, was wir uns ausmalen.« (5. Kap., 141) – »Kann man ein Comeback der Zukunft planen?« (6. Kap., 177) – »Wie kann man nicht an die Zukunft glauben, wenn man von der Sterblichkeit weiß?« (7. Kap., 231) – »›Get into trouble, good trouble.‹« (8. Kap., 273) – »La fin, un prolongement du présent – nous-mêmes une condition prélable du passé.« (9. Kap., 317) – »Gdy wsyystko byo na próżno, nawet najpiękniejsze wspomnienie nas nie pocieszy. I jak tu szukać usprawiedliwienia?« (10. Kap., 361) – »Wenn alles zerfällt, muss es Zusammenhänge gegeben haben.« (11. Kap., 401) Offensichtlich geht es in diesen mehrsprachigen Aperçus, die viel mehr als isolierte Motti für die jeweils folgenden Kapitel sind, um das durch Erinnerung vermittelte Verhältnis von Vergangenheit und Zukunft, vor allem aber, in der ersten und der letzten Kapitelüberschrift, um das Konzept eines Zusammenhangs, der zerfällt, wenn er als Idee nicht mehr imaginiert werden kann, und um den Zerfall als Symptom eines Zusammenhangs, der einmal real bestanden hat.
Damit wird deutlich, dass die gewitzten, oft tiefsinnigen Aperçus, mit denen der Roman gespickt ist, nicht einfach feuilletonistische Pointen sind, die von sympathischer Lebensweisheit und ihrer ironischen Verfremdung zeugen. Die selbstbewussten Gesten des auktorialen Erzählers, die einem der Romantik verpflichteten Literaturmodell entstammen, unterstreichen die missionarische Zielsetzung dieses Romans, in dem die konzeptionelle Struktur des Ganzen wichtiger ist als die satirischen Elemente: »Der Algorithmus, der alles Mögliche filtert und auch das bisher Erzählte geordnet hat, ist natürlich verrückt – vor allem aber ist er beruhigend. Die Welt als Konfetti, aber durch ihn erleben wir sie als Mosaik.« (100) In der verrückt-beruhigenden Ordnung des Erzählten erscheint die sonst als Konfetti zerstiebende Welt als Mosaik, das ein verständliches Muster auch für die europäische Einigung abgibt. Die Ästhetik der narrativen Integration, die hier in den Dienst einer politischen Idee gestellt wird, beschwört eine im Sinn Stefan Zweigs »geistige Einheit Europas«, um den moralisch begründeten Zusammenhang vor seinem Zerfall zu bewahren. Die pointierte Betonung des Zusammenhangs erinnert an das philosophische Strukturmodell, das bei der Begründung der Geisteswissenschaften (im Sinne Wilhelm Diltheys) bzw. der Kulturwissenschaften (im Sinne Heinrich Rickerts) Pate gestanden hat. Wie Dilthey, der den Begriff der Struktur in die Philosophie eingeführt hat, den Lebenszusammenhang erst im gegliederten Darstellungszusammenhang verständlich gemacht sah,13 geht es auch bei Menasses Kulturprojekt zur Rettung Europas um das literarisch hergestellte Verständnis von Lebenszusammenhängen, also wie bei Dilthey letztlich um historisches Verstehen. Indem er Erinnerungen seiner Figuren projiziert, um sie im gemeinsamen Bezug auf Auschwitz zusammenzuführen, schreibt Menasse, der dem Poststrukturalismus nie getraut hat, gegen die Geschichtsvergessenheit der Europafunktionäre an. Mit literarischen Mitteln beschwört er eine übernationale Struktur, deren Geschichte auf die Erfahrung von Auschwitz zurückgeht. Während Stefan Zweig der durch Kriegshetze und Faschismus zerstörten »Welt von gestern« die nostalgischen »Erinnerungen eines Europäers« (so der Untertitel) gewidmet hat, versucht Menasse gegen alle ökonomischen Partikularinteressen »Erinnerungen« an den moralischen Ursprung der europäischen Einheit für eine bessere ›Welt von morgen‹ zu retten und diese vor der schleichenden Rückkehr von Nationalismus und Rassismus zu bewahren. Ob das moralische Gewissen Europas eine Zukunft hat, wird davon abhängen, ob das Ganze mehr ist als die Summe seiner Teile. Nur die übernationale Erinnerung an die gemeinsame Verpflichtung kann die von Stefan Zweig angeprangerte und schließlich tödliche Ignoranz gegenüber der steigenden Dosierung von Gewalt verhindern: »Und da das europäische Gewissen – zum Schaden und zur Schmach unserer Zivilisation – eifrigst seine Unbeteiligtheit betonte, weil diese Gewalttaten doch ›jenseits der Grenze‹ vor sich gingen, wurden die Dosen immer kräftiger, bis schließlich ganz Europa an ihnen zugrunde ging.« (Zweig 1970: 263) Erst die Zusammenstellung mit Zweigs Pathos verleiht dem ironischen Manifest Menasses die gebotene Dringlichkeit, mit der es dem denkbar gewordenen Zerfall von Europa zu trotzen gilt.
1 | Der Briefwechsel zwischen Romain Rolland und Stefan Zweig begann am 1. Mai 1910 mit einem Bekenntnis von Romain Rolland zu Europa: »Und Sie sind ein Europäer. Ich bin es auch, aus vollem Herzen. Die Zeit ist nicht mehr fern, da selbst Europa das kleine Vaterland sein und uns nicht mehr genügen wird.« (Rolland / Zweig 2014: 3)
2 | Vgl. besonders Weinzierl 2015 u. Dines / Beloch / Michahelles 2016.
3 | Vgl. Kenny 2017.
4 | Vgl. http://www.leobaeck.co.uk/archives/3030 [Stand: 1.4.2018].
5 | Vgl. George Prochnik (der mit seinem Buch The Impossible Exile: Stefan Zweig at the End of the World (2014) selbst zur Zweig-Renaissance beigetragen hat): »I wonder how far along the scale of moral degeneration Zweig would judge America to be in its current state. […] [I]t’s difficult not to think of our own present predicament. […] The excruciating power of Zweig’s memoir lies in the pain of looking back and seeing that there was a small window in which it was possible to act, and then discovering how suddenly and irrevocably that window can be slammed shut.« (Prochnik 2017)
6 | »[W]er die Gründer lobt, unterzieht die Erben einer vernichtenden Kritik. […] Die Gründergeneration hat auf der Basis historischer Erfahrungen weit in die Zukunft vorausgedacht, aber heute wird nur eine schlechte Gegenwart geschichtsvergessen und zukunftsblind zu verlängern versucht.« (Menasse 2017b)
7 | Vgl. Goethe 1964: I, 2, V. 122-127: »Wer hat den alten grausamen Gebrauch, / Daß am Altar Dianens jeder Fremde / Sein Leben blutend läßt, von Jahr zu Jahr / Mit sanfter Überredung aufgehalten / Und die Gefangnen vom gewissen Tod / Ins Vaterland so oft zurückgeschickt?«
8 | Zitate aus Menasses Roman (vgl. 2017a) werden im Folgenden unter Angabe der Seitenzahl in Klammern im Fließtext belegt.
9 | Menasse, der ein halbes Jahr in Brüssel gelebt hat, um für seinen Roman topographische Studien zu betreiben, hat auch das wirklich an der Rue du Vieux Marché aux Grains gelegene Restaurant Menelas Ouzière genau platziert, aber schon in der Wahl der Namen mythologische Assoziationen geplant, wie auch beim ebenfalls in der Rue du Vieux Marché aux Grains gelegenen Hotel Atlas.
10 | »Auschwitz eignet sich nicht, dafür Drohroutine zu werden, jederzeit einsetzbares Einschüchterungsmittel oder Moralkeule oder auch nur Pflichtübung. Was durch Ritualisierung zustande kommt, ist von der Qualität des Lippengebets.« (Walser 1999: 13)
11 | »Der Ödipus ist gleichsam nur eine tragische Analysis. Alles ist schon da, und es wird nur herausgewickelt.« (Schiller 1961: 247)
12 | Vgl. Anm. 6.
13 | Vgl. Dilthey zur Entwicklung des psychologischen Strukturbegriffs: »Der Lebensverlauf besteht aus Teilen, besteht aus Erlebnissen, die in einem inneren Zusammenhang miteinander stehen. Jedes einzelne Erlebnis ist auf ein Selbst bezogen, dessen Teil es ist; es ist durch die Struktur mit anderen Teilen zu einem Zusammenhang verbunden. In allem Geistigen finden wir Zusammenhang; so ist Zusammenhang eine Kategorie, die aus dem Leben entspringt. […] Nur weil das Leben selbst ein Strukturzusammenhang ist, in welchem die Erlebnisse in erlebbaren Beziehungen stehen, ist uns Zusammenhang des Lebens gegeben.« (Dilthey 1958: 195) Vgl. Dilthey zur Herleitung des Strukturbegriffs aus der literarischen Organisation: »Leise und allmählich, mit tiefer Kunst, hat uns der Dichter in seine Welt geführt [Novalis in Heinrich von Ofterdingen; H.C.S.], eine Welt, in welcher gewissermaßen der metaphysische Zusammenhang des menschlichen Lebens zutage liegt. Denn dieser ist, richtig verstanden, der Sinn seiner ästhetischen Form.« (Dilthey 1965: 234f.) Vgl. dazu Seeba 1993.
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