Vom Ende her gedacht

Ein Essay zur Tagung »The Ends of the Humanities«

Yannic Federer

Die Tagung »The Ends of the Humanities«, die im September 2017 an der Universität Luxemburg vom Dekan der geisteswissenschaftlichen Fakultät, Georg Mein, ausgerichtet wurde, macht bereits in ihrem Titel deutlich, dass hier durch die homonyme Verschaltung der »Ends« die Vorstellung vom Ableben der geisteswissenschaftlichen Disziplinen mit deren zweckhaft formulierter Selbstreferenz in Verbindung steht. In welcher Weise diese Relationierung aber gedacht werden muss, bleibt offen. Wird das, was die Geisteswissenschaften leisten, erst dann bestimmbar, wenn sie eines Tages nicht mehr das kulturelle Archiv bearbeiten, sondern ihrerseits archiviert sein werden? Lässt sich die Rechtfertigung ihres Daseins nur vor dem Hintergrund des imaginierten Nicht-mehr-Daseins formulieren? Oder, und auch dies ist möglich, entscheidet man sich schlicht für eine Seite der Homonymie, verweigert die Relationierung und artikuliert ihre Funktionsbestimmung ganz ohne imaginiertes oder erwartetes historisches Ende? Diese drei Lesarten ruft der Tagungstitel auf, ohne einer von ihnen den Vorzug zu geben, und so verwundert es nicht, dass die sechs thematisch gebündelten Sektionen der Konferenz mit ihren insgesamt 67 Vorträgen, fünf Keynotes und den jeweils sich aus ihnen entspinnenden Diskussionen diese konkurrierenden Relationierungskonfigurationen beständig aufgreifen und je auf ihre Weise modellieren.

So unternimmt etwa Jennifer Pavlik den Versuch, aus Hannah Arendts tätigkeitstheoretisch gedachtem Begriff des öffentlichen Raumes ein Modell geisteswissenschaftlicher Praxis zu gewinnen. Dabei stehen die

Humanities den utilitaristisch orientierten Naturwissenschaften insofern diametral entgegen […], als dass sie dazu beitragen, dass Menschen eine gemeinsame Sphäre etablieren können, die auf der Freiheit und Gleichheit ihrer Mitglieder beruht und gleichzeitig durch die Einübung einer Form ästhetischer Praxis die Möglichkeit eröffnen, die spezifisch menschliche Existenzweise erfahrbar zu machen.

Interessant ist, dass Pavlik sich dabei nicht nur auf Ebene der Theoreme, sondern auch explizit in methodischer Hinsicht an Arendts politischer Theorie orientiert, nimmt sie doch wie diese für sich in Anspruch, aus den Untiefen tradierter Diskurse »das Reiche und Seltsame, Perlen und Korallen herauszubrechen und als Fragmente an die Oberfläche des Tages zu retten«, nicht aber »den Meeresboden auszuschachten« (Arendt 2013: 258).1 Mit anderen Worten: Dass Arendt die Isonomie der Perikleischen Polis bereits in dem Moment im Untergang begriffen sieht, in dem die griechische Philosophie auf den Plan tritt, und dass dieser Raum der Gleichen und Freien seitdem nur noch in jenen kurzen revolutionären Momenten aufscheint, in denen deren spontan emergierte räterepublikanische Strukturen noch nicht von ideologisch motorisierten Parteiapparaten verschüttet worden sind, will Pavlik ausdrücklich nicht in ihre Modellierung geisteswissenschaftlicher Praxis übertragen. Pavlik weist damit die apokalyptische Relationierung der »Ends« ab, in der sich der Zweck der Humanities immer erst von ihrem Ende her enthüllt, obwohl ihr Rekurs auf Arendt gerade Startpunkt einer solchen Argumentation sein könnte. Wie Dilthey nämlich die Geisteswissenschaften dort als Disziplinengruppe summieren kann, wo er sie dichotomisch gegen die Naturwissenschaften stellt, lässt sich auch Arendts Polis nur dort offenhalten, wo sie dem Oikos abgewonnen werden kann, wo sie sich also dem Reich der Notwendigkeit, des Biophysiologischen, der utilitaristischen Zweckmittelrelationen, und damit nicht zuletzt: der Ökonomie, entziehen kann. In dieser Perspektive wäre die Polis als ästhetisch-politischer Erscheinungsraum tatsächlich verschüttet, man denke nur an Drittmittelwesen und Befristung des Mittelbaus, an Hochschulpakt und Exzellenzinitiative. Und entsprechend könnte die Polis auch erst dort wieder aufscheinen, wo es zur ungeplanten, revolutionären Unterbrechung der immer notwendigen Prozessualitäten käme. Erwartbar also, dass in der anschließenden Diskussion auch der Einwand erhoben wurde, Arendts Politikbegriff sei den Gegebenheiten der Gegenwart zu sehr enthoben, die Geisteswissenschaften sollten sich doch eher am »Begriff des Politischen« orientieren, wie ihn Carl Schmitt entworfen habe.

Freilich geht der Ansatz, Politik als Intensitätsgrad von Verfeindung zu stilisieren, nur weil die Welt von kriegerischer Verfeindung heimgesucht wird, Schmitts eskalativer Rhetorik allzu leichtfertig auf den Leim. Was man Schmitt aber durchaus in theoretischer Hinsicht abgewinnen kann, ist die Möglichkeit, an seinem Beispiel die Funktionsweise apokalyptischer Argumentationsstrukturen zu beobachten, die Überzeugung etwa, dass die »maßgebende menschliche Gruppierung« sich immer am Ernstfall zu orientieren habe, also an der Potentialität des Ausnahmezustandes (Schmitt 2015a: 36; Hervorh. i.O.), das heißt, »immer den extremen Fall anzunehmen, das Jüngste Gericht zu erwarten« (Schmitt 2015b: 67). Und im Vortragsprogramm tummelt sich ein ganzer Chor an Stimmen, die ihre Warnungen stets im Angesicht des disziplinären Abgrunds artikulieren. So sieht etwa William Donahue den theoriegesättigten Umgang der Humanities mit ihren Gegenständen als Sackgasse, als ritualisierte Perpetuierung einer ehemals subversiv gemeinten Methodologie, die inzwischen aber ihrerseits als »hegemonic paradigm« gelten müsse und darüber die konservierende, wenn nicht gar konservative Rolle aus den Augen verliere, der die Humanities gegenüber dem kulturellen Erbe der Vergangenheit nachzukommen habe. Damit sei keine unkritische Haltung gegenüber diesem Erbe gemeint, so Donahue, und er geht auch nicht so weit, den Poststrukturalismus des disziplinären Raumes zu verweisen, ja er beschreibt auch den Begriff des Postcriticism und dessen Implikationen als »misleading and unproductive«. Aber Donahue hält es doch für geboten und höchste Zeit, der Insistenz der Theorie, insbesondere des Poststrukturalismus, und der damit einhergehenden Defokussierung des Menschen, des Subjekts und seiner sprachlichen Souveränität Grenzen zu setzen:

Here it might be useful to recall those students […], who in great numbers enter higher education with a professed interest in ›making the world a better place.‹ If our most forceful accomplishment is to draw our students’ attention to the failure of language – and fail it surely sometimes does – then we will have written our own obituary.

In einem ähnlich kritischen Zustand wird der Zustand der Geisteswissenschaften auch dort beschrieben, wo unter dem Schlagwort der Digital Humanities ein dringendes Update der verstehenden Wissenschaften anempfohlen wird. Andreas Fickers beschreibt etwa, wie alle Phasen eines Forschungsprojekts vom Recherchieren über das Dokumentieren und Analysieren bis hin zum Darstellen einer Reformulierung im Sinne der Digital Humanities bedürften, um fortan als »algorithmic criticism«, »digital source ciriticism«, »tool criticism« sowie »interface criticism« zu stehen zu kommen. Originalität und Authentizität seien demnach keine adäquaten Begrifflichkeiten mehr und müssten durch Konzepte der »data integrity« ersetzt werden. Die algorithmisch rekalibrierten Humanities, so lässt sich daraus schließen, bedürften einer neuen Heuristik, um im Datenmeer von Big Data noch sinnvolle hermeneutische Geländegewinne erzielen zu können.

Hans Ulrich Gumbrecht zeichnet die prekäre Lage geisteswissenschaftlicher Betätigung in ganz anderer, aber nicht minder düsterer Weise und zieht entsprechend auch andere, und drastischere, Konsequenzen. Er konstatiert einen Rückbau, unter dem die geisteswissenschaftlichen Fächer an den Universitäten zu leiden hätten und der eine Reaktion sei einerseits auf rückläufige Studierendenzahlen und andererseits auf eine mangelnde Beschreibung des eigenen Betätigungsfeldes. »We, the Humanists, have failed to find convincing descriptions of what we have been doing or of what we might be doing in the future.« Schlimmer noch, das moderne historische Bewusstsein, das wesentlichen Anteil an der Emergenz der Geisteswissenschaften gehabt und diese in entscheidender Weise geformt habe, werde immer stärker zurückgedrängt durch das, was Gumbrecht unlängst als »breite Gegenwart« beschrieben hat (vgl. Gumbrecht 2010). Einer Gegenwart also, die nicht mehr als trennscharfes Durchgangsmoment zwischen einer überwindbaren Vergangenheit und einem offenen Möglichkeitshorizont der Zukunft fungiert, sondern vielmehr belagert wird von einer Vergangenheit, die nicht vergehen will, und einer Zukunft, deren Bedrohungsszenarien von Klimawandel und demographischer Entwicklung immer weniger Gestaltungsspielraum zuzulassen scheinen. Sie ist gewissermaßen eingeklemmt, zergliedert sich in Simultaneitäten und das heißt, »die Gegenwart hat immer schon zu viele Möglichkeiten« (ebd.: 16). Das Feld der Kontingenz, das sich lange Zeit zwischen Notwendigem und Unmöglichem aufspannen ließ, hat sich nun in ein Universum der Kontingenz vervielfacht, so Gumbrecht, und die auf das moderne historische Bewusstsein eingestellten Geisteswissenschaften hätten bisher noch keine Antwort auf diese neue Herausforderung gefunden. Es bedürfe einer Strategie, die mehr leiste, als nur das vorläufige Überleben bestehender institutioneller Strukturen zu sichern, und Gumbrechts Vorschlag ist es nun, sich auf den Kernbestand der Geisteswissenschaften zu fokussieren, den er als »style of riskful thinking« beschreibt, als eine Form von Kontemplation, der es erlaubt sein müsse, sich in seine Gegenstände zu vertiefen und in nicht-teleologischer Reiteration zu ihnen zurückkehren zu können. Hierin liege also, Gumbrecht zufolge, die eigentliche geisteswissenschaftliche Praxis begründet und sie könne nur in Kopräsenz kleiner, generationenübergreifender Gruppen erlernt werden, wie sie schon Humboldt eingefordert habe. Um diese Praxis institutionell abzusichern, schwebt Gumbrecht nun irritierenderweise eine radikale Schrumpfkur vor, denn es gebe zu viele Geisteswissenschaftler und dies sei »a burden for the discipline«. Als Modell dienen ihm Technische Universitäten und Business Schools, deren Humanities Department vor allem ergänzende Kurse für angehende Ingenieurinnen und Ingenieure sowie für Betriebswirtinnen und Betriebswirte anbieten. »It makes them better engineers to do Humanities«, so Gumbrecht. Das Hauptgeschäft der Humanities Gumbrecht’scher Prägung wäre also die Unterweisung von Studierenden, die geisteswissenschaftliche Disziplinen nur peripher und als Nebeninteresse rezipieren wollten, während die genuin geisteswissenschaftlichen Programme auf ein Minimum heruntergefahren würden, das gerade ausreichend wäre, »to keep the Humanities as a profession alive.« Mit diesem Vorschlag droht Gumbrecht aber den eigenen Vorsatz zu verfehlen, immerhin hatte er ja eine Strategie gefordert, die mehr zu leisten hätte, als nur das schiere Überleben zu sichern, und mehr als dies Überleben scheint sein eigener Vorschlag nun auch nicht mehr im Sinn zu haben. Genau genommen kann hier sogar nicht einmal dies Überleben garantiert erscheinen, denn es ist schwerlich vorzustellen, wie sich die geisteswissenschaftlichen Disziplinen im universitären, ja im gesamtgesellschaftlichen Gefüge behaupten sollten, nachdem sie eine derartig radikale Marginalisierung erlitten hätten. Man bedenke, in diesem Szenario gäbe es keine Absolventinnen und Absolventen der Humanities mehr, die sich in den Zeitungsredaktionen und Hörfunkstudios verdingen würden, in den Writers’ Rooms der TV-Produktionsfirmen oder in den PR- und Werbeagenturen, auch nicht in den Personalabteilungen und Unternehmensberatungen, nicht einmal das Verlagswesen könnte noch auf die bisher reichlich vorhandene geisteswissenschaftliche Expertise zurückgreifen, die dieser Tage dem Arbeitsmarkt zur Verfügung steht. Was bliebe, wäre nichts als eine Handvoll von Geisteswissenschaftlerinnen und Geisteswissenschaftlern, die zukünftige Geisteswissenschaftlerinnen und Geisteswissenschaftler nur deshalb unterrichteten, damit auch in Zukunft der abendliche Faust-Lesekurs für interessierte Ingenieurinnen und Ingenieure kompetent betreut werden könnte.

Oder ist Relevanzverlust gar ein heilsamer Ausweg? Im Rekurs auf die Geschichte der Soziologie beschreibt Maren Lehmann diese als eine Disziplin, die sich gerade durch ihre Dezentrierung disziplinär öffnen konnte. Während sich die Soziologie einst noch als »Praeceptor der ja per definitionem führungslosen, disziplinlosen, eben tatsächlich losen, zur Anomie weniger neigenden als sich durch sie bestimmenden Gesellschaft« imaginieren konnte, musste sie sich alsbald in doppelter Weise beraubt vorkommen, einerseits, weil sie keinen souveränen Anspruch auf ihren Gegenstand erheben kann, dessen Variante sie ist, und andererseits, weil ihr als Beobachterin keinerlei herausgehobene Stellung zukommt. »Deswegen verliert sie die Lust an der Gesellschaft wie an sich selbst. Sie ist nur Beobachter unter anderen. Als akademische Disziplin meint sie tot zu sein – und genießt es irgendwie. Es macht alles leichter, irgendwie.« Das sei es dann auch, was die Soziologie den Geisteswissenschaften auf den Weg geben könne, so Lehmann. Einen spezifisch formulierbaren, gesellschaftlichen Auftrag erfüllen zu wollen, sei müßig, schließlich habe die Gesellschaft keine Adresse, keinen zentralisierten Zurechnungspunkt, dem gegenüber man Rechenschaft ablegen könnte oder müsste, und entsprechend auch niemanden, der einem die auftragsgemäße Ausführung bestätigen könnte. Gerät man darüber in Verzweiflung und sucht sich einen neuen Zurechnungspunkt, »der möglichst erfolgs- und identitätsaffin« ist, gerät man darüber alsbald in kreditwirtschaftliche Abhängigkeit:

Genau das, meine ich, haben ›die Humanities‹ getan. Sie antichambrieren bei ›der modernen Gesellschaft‹, also bei Politik und Wirtschaft, und sie haben damit zuerst Erfolg, man gibt ihnen Anerkennung und Geld, aber dann stellt sich heraus, daß diese Gabe ein Kredit war. Dann zeigt sich, daß man das Arbeiten als Auftragnehmer nicht gewöhnt ist und eigentlich auch nicht lernen will.

Dabei wäre, schließt Lehmann, ein erfolgloses, nachrangiges, marginalisiertes Dasein nicht minder möglich – und brächte seine ganz eigenen Verlockungen mit sich. Man wäre entlastet von aller Repräsentanz und dieser Tausch, Repräsentanz gegen erhöhte Varianz, wäre in intellektueller Hinsicht äußerst reizvoll. »Das Wissen, das dabei entsteht, ist in ganz präzisem Sinne Zukunftswissen, Wissen der Zukunft. Es ist eben nur ein Wissen, das seine Relevanz nicht kennt.«

Wenn man also das Szenario des disziplinären Ablebens als Trägermedium verstehen möchte, ist hiermit die Bandbreite der argumentativen Modulationen umrissen. Im Angesicht des Abgrundes lassen sich entweder spezifische, unbedingt und möglichst rasch umzusetzende Programmänderungen ausrufen, die den Vektor der (untergangs-)geschichtlichen Dynamik womöglich derart abzuändern in der Lage sind, dass ein Fortbestehen ermöglicht wird. Oder man macht sich leicht, wirft allen Ballast über Bord und versucht sich im Gleitflug, den die thermodynamischen Aufwinde von Business Schools und Technischen Universitäten womöglich noch erlauben. Oder aber, man winkt fröhlich vom Grund des Relevanzverlustes, weil es sich da unten vielleicht gar nicht schlecht leben lässt; abseits des Brennglases gesamtgesellschaftlicher Repräsentationsanforderungen ist es schattig und kühl.

Andere Argumentationsweisen ergeben sich erst, wenn man die homonyme Verschaltung von Ende und Selbstreferenz im Tagungstitel schlicht so behandelt, wie man homonyme Konstellationen eben gewöhnlich behandelt, indem man sich nämlich schlicht für eine Seite der Homonymie entscheidet, statt eine argumentative Relationierung aus ihr zu generieren. Auf diese Weise kann etwa Jürgen Fohrmann ganz anders ansetzen und den ansonsten unisono behaupteten Relevanzverlust: abweisen. Und dies schon allein mit Blick auf das Wissenschaftssystem im Ganzen: Die Studierendenzahlen steigen, die Einspeisung wissenschaftlicher Expertise in alle gesellschaftlichen Teilsysteme nimmt zu, und die Gesellschaft ist demnach, mit Peter Strohschneider, weniger eine Wissens- als eine Wissenschaftsgesellschaft. Gerade deshalb kommt auch die Artikulation einer Funktion oder Aufgabe der Wissenschaft nicht über Tautologien hinaus, denn die Einspeisung ist zu vielfältig, um sie eindeutig oder auch nur enumerativ benennbar zu denken. »Die Funktion der Wissenschaft ist – die Produktion von Wissenschaft«, folgert Fohrmann. Diese Einspeisung ist nun auch in unverminderter Form im Bereich der geisteswissenschaftlichen Disziplinen zu konstatieren, denn die Umsetzung geisteswissenschaftlicher Ressourcen erfolgt ubiquitär und dies mit beträchtlicher ökonomischer Wertschöpfung. In einer Kommunikationssituation, in der Aufmerksamkeit als zentrale Währung dient, muss die Welt als eine durchgängig ästhetisierte verstanden werden, und entsprechend ist die einstige Allianz aus Politik, Recht und Öffentlichkeit, auf der die bürgerliche Gesellschaft fußte, inzwischen, so Fohrmanns These, durch eine neue Allianz aus Kunst, Design und Medientechnologie abgelöst worden, die nun die Öffentlichkeit überformt:

Form hat sich aus den Künsten wie auch aus den Kunstwissenschaften herausgelöst und ist proteushaft in alle gesellschaftlichen Teilsysteme eingebunden. Sie ist die schöne Oberfläche eines ökonomischen Designs von Welt, und sie ist zugleich sozial hochgradig adaptiv, richtet sich an alle und jede, jeden. (Hervorh. i.O.)

Form wird derart als Aufmerksamkeitsware zum ökonomischen Faktor und dasjenige disziplinäre Feld, das deren Funktionsweise trainiert, ist nun einmal das der Geisteswissenschaften. In dem Maße also, wie den Geisteswissenschaften eine existenzbedrohende Krise attribuiert wird, hat sich das, was dem Kernbestand der Geisteswissenschaften zuzurechnen ist, ubiquitär als »Design der Wirklichkeit« durchgesetzt. Form wird damit zum Komplementär von Kultur, es ist ein »Gespinst«, das als Ersonnenes alles zu überziehen im Stande ist und der Geisteswissenschaft zur Verlockung wird. Indem ihre Formbeobachtung nun nämlich überall operativ werden kann, droht sie der Hybris zu verfallen, Form als ihren Gegenstand zu beanspruchen und darüber zu verdrängen, dass Form einer Doxa nicht zugänglich ist. Hier ist Fohrmanns Diagnose der von Lehmann nachgezeichneten Geschichte der Soziologie sehr nahe, und doch folgert er daraus keineswegs ein zwar befreites, aber eben doch marginalisiertes Nachleben, wie Lehmann dies tut, vielmehr sieht er hier die spezifisch geisteswissenschaftliche Aufgabenbeschreibung und, dadurch, Relevanz gegeben:

Denn eine, ja die Funktion und die Leistung solcher Geisteswissenschaft liegt ganz offensichtlich zutage: Sie hat die Aufgabe, das Wissen um Form zu tradieren, in Forschungs- und Ausbildungszusammenhänge zu übersetzen und als Leistung in die multiplen Kulturen der zeitgenössischen Gesellschaft einspielbar zu machen. Die moderne Gesellschaft wird auf die Relevanz von Form ja wohl kaum verzichten wollen. (Hervorh. i.O.)

Der Topos vom drohenden Ableben ist damit nur dann möglich, so Fohrmann, wenn man entweder den enormen ökonomischen Effekt übergeht, den ihre gesamtgesellschaftliche Einspeisung nach sich zieht, oder wenn ihr eine politische Funktionalisierung attribuiert wird, als Hüterin von Intellektualität etwa, als Instanz gesamtgesellschaftlicher Selbstreflexion, die sie immer enttäuschen muss, da die eine Öffentlichkeit so nicht mehr adressierbar ist und eine Reflexion der Gesellschaft eigentlich auch gar nicht gewünscht ist, eher eine Reflexion von Gemeinschaft in der Gesellschaft, die dabei aber, wiederum, an der einen Öffentlichkeit bürgerlicher Gesellschaften orientiert ist, die es so eben nicht mehr gibt.

Es zeigt sich damit, dass, wer vom Ende her denkt, nicht umhin kann, als sich an diesem Ende auszurichten, Notfallpläne zu schmieden, die das Notwendige in die Wege leiten, das Nötigste beisammenhalten, alles, was nicht der unmittelbaren Not dienlich ist, über Bord werfen, um so, irgendwie, zu überleben oder zumindest ein, vielleicht fröhliches, Nachleben zu gestalten, einen Gleitflug, ventiliert von Dritten. Vielleicht aber ist dies Denken vom Ende her bereits in sich eine Eskalierung, mit der die Funktion und Aufgabe, die im geisteswissenschaftlichen Feld unlängst geleistet wird, aus dem Blick gerät. Oder nicht in den Blick geraten will. Vielleicht, oder höchst wahrscheinlich, senkt dies auch die Chancen, sich, um mit Lehmann zu sprechen, einen ausreichend großzügigen Dispositionskredit der »modernen Gesellschaft« zu verschaffen, da die Besicherung, die Bonität, und das heißt: die Wechselseitigkeit der Intersystembeziehung, die genuin geisteswissenschaftlichen Leistungen also, nicht mit dem adäquaten Nachdruck formulierbar werden. Und so mahnt auch Georg Mein in einem Beitrag der Deutschlandfunk-Sendung »Aus Kultur- und Sozialwissenschaften«, der sich mit der Luxemburger Tagung beschäftigt, die geisteswissenschaftlichen Fächer müssten

viel aktiver kommunizieren, sie müssen tatsächlich auch rausgehen und sie müssen auch ihr Wissen und ihre Methoden ein Stück weit vulgarisieren. Wir müssen in die Medien gehen und wir müssen sozusagen die Universität als öffentlichen Raum begreifen und als öffentlichen Raum aber auch gestalten, damit wir das, was wir beitragen können für diese Gesellschaft, offensiver kommunizieren. (Koch 2017)

Dies aber wäre ein lösbares Problem, eines, das die Manipulation von Aufmerksamkeit betrifft. Die Geisteswissenschaft sollte sich hier also zu helfen wissen.

Anmerkungen

1 | Dies Perlentaucherdenken hat Arendt bekanntlich Walter Benjamin zugeschrieben, dabei aber zugleich eine methodologische Reflexion ihres eigenen Theoriedesigns betrieben.

Literatur

Arendt, Hannah (22013): Walter Benjamin. 1892-1940. In: Dies.: Menschen in finsteren Zeiten. Hg. v. Ursula Ludz. München / Zürich, S. 195-258.

Gumbrecht, Hans Ulrich (2010): Unsere breite Gegenwart. Aus dem Engl v. Frank Born. Berlin.

Koch, Tonia (2017): Aus Kultur- und Sozialwissenschaften, Deutschlandfunk, 14. September 2017.

Schmitt, Carl (152015a): Der Begriff des Politischen. Berlin.

Schmitt, Carl (102015b): Politische Theologie. Vier Kapitel zur Lehre von der Souveränität. Berlin.