Kristýna Solomon: Tristan-Romane: Zur spätmittelalterlichen Rezeption von Gottfrieds Tristan in den böhmischen Ländern

Göttingen: Kümmerle Verlag 2016 – ISBN 978-3-86758-037-3 – 36,00 €

Der Tristan gilt als einer der wohl bekanntesten und beliebtesten mittelalterlichen Erzählstoffe. Im mediävistischen Studium wie auch in der Forschung jedoch zumeist ausschließlich in der Version Gottfrieds von Straßburg betrachtet, trägt die in Olomouc lehrende Kristýna Solomon mit ihrem neuen Buch Tristan-Romane. Zur spätmittelalterlichen Rezeption von Gottfrieds Tristan in den böhmischen Ländern zu einer – längst überfälligen – interkulturellen Perspektiverweiterung bei. Auf rund 200 Seiten und in 12 Kapiteln untersucht sie die gottfriedsche Minnekonzeption in epigonalen Tristan-Fortsetzungen und dabei über nationale Grenzen hinweg.

Einleitend wird das textliche Abhängigkeitsgeflecht des epischen Stoffes auf der theoretischen Basis der Intertextualitätstheorie beleuchtet, die unter Nennung zentraler Positionen (Bachtin, Kristeva, Lachmann, Riffaterre, Bloom, Genette) in ihren Grundzügen dargelegt wird. Ihre Nutzbarmachung als interpretatorische Methode, um »ideologische Transformationen im Rückblick auf den Prätext« (18)1 herauszuarbeiten, erweist sich als berechtigtes Anliegen, um den Spezifika der (hier noch einmal zu Recht in Erinnerung gerufenen) vormodernen ›vernetzten‹ literarischen Welt theoretisch fundiert zu begegnen. Nachvollziehbar argumentiert Solomon dafür, die Fortsetzungen als bewusst konzipierte, gemeinsame Erzählzusammenhänge zu begreifen: »Die Epigonen von Gottfried zu trennen, wäre ein Vorsatz, welcher sich […] nicht rechtfertigen lässt« (28).

Die Untersuchungsbasis der Studie bilden Texte des 13. und 14. Jahrhunderts, die einen Bezug zu Böhmen aufweisen, wobei neben den deutschen Tristan-Bearbeitungen Ulrichs von Türheim und Heinrichs von Freiberg erstmals auch der anonyme alttschechische Tristan-Roman einbezogen wird. Das Korpus ist damit klar definiert und wird im metaphorischen Bild als »interessantes Mosaik aus drei Prätexten« (18) eindrücklich erfasst.

Im Zuge der Nachzeichnung der Stofftradition gelingt es, die Bedeutung der im Tristan zentralen Liebesgeschichte als »gemeineuropäisches Kulturgut« (20) und in diesem Kontext auch die wichtige Rolle Böhmens und den regen Kontakt mit den böhmischen Adelshöfen herauszustellen. Diesen für die mittelalterliche Erzählforschung fundamentalen textlichen Transferprozess von West nach Ost nachvollziehbar zu machen, ist nicht nur wesentlicher Anspruch der Studie, sondern zugleich Ausweis ihrer außerordentlichen Leistung: Denn angesichts der bis dato erschienenen reichen und weiter anwachsenden Forschung zum Tristan (siehe etwa die jüngste Publikation von Monika Schulz2) ist und bleibt der Forschungsstand zu den Bearbeitungen defizitär. Solomon führt dies u.a. auf die in ihren Augen problematische Abwertung und »disqualifizierende Einschätzung« (22) der Fortsetzungsromane zurück, die auch dazu führt, dass eine transnationale Betrachtung des Stoffes bislang zumeist gänzlich ausgeklammert wurde.

Der Einstieg in die Textanalyse in Kapitel 3 nimmt zunächst den paratextuellen Prolog der deutschsprachigen Tristan-Fassungen vergleichend in den Blick. Im Anschluss an die grundlegenden Ausführungen zur konventionellen Schematisierung mittelalterlicher Prologe (vgl. 29), die durch einen Verweis auf die reiche Prologforschung Hennig Brinkmanns hätten ergänzt werden können, kommt Solomon zu interessanten Einsichten in Bezug auf die Bearbeitungen der Fortsetzer des gottfriedschen Ausgangstexts: Entgegen bisheriger Forschungspositionen vertritt und begründet die Autorin die These, Heinrich und Ulrich hätten sich mit der gottfriedschen Linie nicht vorrangig identifiziert, um von dessen Popularität für das eigene Werk zu profitieren. Ihnen wäre es vielmehr darum gegangen, den ›Anspruch‹ auf Fortsetzung durch den Nachweis gleichrangiger künstlerischer Qualität zu untermauern: »[S]ie wollten demonstrieren, dass sie […] dessen [Gottfrieds; A.B.] Text richtig […] verstehen« (44).

Das 4. Kapitel ist insofern als zentral anzusehen, als Solomon hier zum Begriff der Epigonalität und insbesondere zur diachronen Diskrepanz seiner Interpretation Stellung bezieht: Vor dem Hintergrund einer zeitgenössischen erfolgreichen Rezeption der Fortsetzungen muss die negative Konnotation, die ihm im Rahmen eines neuzeitlichen Begriffsverständnisses attribuiert wird, als Anachronismus ausgewiesen werden. Eine voreilige Abwertung und das daraus folgende Desinteresse an diesen Texten verstellt zudem nachhaltig Erkenntnismöglichkeiten in Bezug auf ein Verständnis mittelalterlicher Erzählkonventionen. So bildet der hier intendierte Ansatz, »an der historischen Verstehensweise anzusetzen« (51), die Fortsetzungen als »authentische Belege der […] Rezeption des Tristan-Themas« (ebd.) zu begreifen und daraus Erkenntnisse über die zeitgenössische Wahrnehmung des Tristan-Stoffes zu erhalten, ein wichtiges und unterstützenswertes Forschungspostulat.

In den anschließenden Einzelanalysen der Fortsetzungen Ulrichs und Heinrichs werden die »wichtigsten Ereignisse des Tristan-Stoffes« (78) (Liebestrank, Minnegrotte / Waldleben, Liebestod) zunächst gesondert untersucht.

Dies ermöglicht nicht nur eine bessere Vergleichbarkeit der epigonalen Texte, sondern gibt auch Aufschluss über die zeitgenössische Wahrnehmung und den literarischen Umgang mit dem Tristan-Stoff. Der Rückgriff auf den Begriff der Ereignishaftigkeit hätte einen Verweis auf das Ereigniskonzept von Lotman (vgl. 1986) nahegelegt. Solomon bedient sich seiner als »progressive Kategorie« (80) auch für die Analyse der mittelalterlichen Tristan-Texte, was sich als funktional fruchtbar erweist. Es gelingt ihr eindrucksvoll, anhand der Fokussierung auf zentrale Erzählepisoden die Bezüge zur gottfriedschen Vorlage übersichtlich und strukturiert herauszuarbeiten (Kap. 7). Auch die in einem eigenen Kapitel beleuchteten erzähltechnischen Verfahren der Raffung und Dehnung tragen zu einer genauen Relationsbestimmung zwischen »Urtext und Text« (118) bei. Nachvollziehbar begründet die Verfasserin, dass es sich hierbei nicht allein um eine quantitative Transformation, sondern vielmehr um einen »bewussten interpretatorischen Ansatz« (119) handelt, der es dem jeweiligen Dichter ermöglichte, eigene Akzente zu setzen.

Das 9. Kapitel setzt sich zum Ziel, unter den titelgebenden (wenngleich etwas vage definierten) Begriffen der Hyper- bzw. Architextualität Systemreferenzen (in Stil, Argumentation, Aufbau) als sinnstiftende Verfahren zu betrachten. Die dokumentierten Bezüge zum Artusroman (Kap. 9.1) sowie zum Minnesang (Kap. 9.2) liefern erkenntnisreiche Deutungen und zeigen, wie Stoffe auch über vermeintliche Gattungsgrenzen hinweg in der Erzählwelt zirkulierten und miteinander interagierten.

Als Teilergebnis der Untersuchung (Kap. 10) konstatiert die Autorin bezüglich der deutschsprachigen Epigonen und ihrer Einstellung zum Minnekonzept Gottfrieds eine divergierende ›Ideologie‹ im Umgang mit der Tradition: Während Ulrich die Tristan-Minne Gottfrieds (und damit den Konflikt zwischen Pflicht und Neigung) affirmiert und erneut abbildet (150), überführt Heinrich ihn in ein dem Artusroman nahestehendes ›Happy End‹, das er zugleich ironisierend verspottet: Für Heinrich ist »Artus […] kein Mythos, sondern ein Clown« (151), konstatiert Solomon und verweist damit auch auf die sich in Heinrichs Werks bahnbrechende allgemeine Tendenz einer sich im 13. Jahrhundert abzeichnenden zunehmenden Akzeptanz des fiktiven Charakters von Literatur (vgl. ebd.).

Das 11. und mit Abstand längste Kapitel (83 Seiten) bildet den eigentlichen Kern der Studie und bezeugt ihre große Relevanz: Mit dem Einbezug des alttschechischen Tristram3 tritt das interkulturelle Potenzial mittelalterlicher Literatur und Stoffgeschichte anschaulich hervor. Solomon kommt gerade hier ihrem Anspruch nach, an »die aktuellsten Tendenzen der europäischen literaturwissenschaftlichen Forschung [anzuknüpfen], die mittelalterliche Literatur aus den Fesseln der jeweiligen nationalen Literaturen zu befreien und als interkulturelles Phänomen zu verstehen« (156). Von der tschechischen Forschung wurde das Tristram-Epos infolge anhaltender nationalistischer Tendenzen (vgl. 155) lange als politisch-kulturell unerwünscht abgewiesen. Mit seiner Analyse im Rahmen dieser Studie rückt die Verfasserin das Werk einerseits in den Fokus der literaturwissenschaftlichen Aufmerksamkeit, sucht und initiiert andererseits aber auch den notwendigen interkulturellen Dialog zwischen Bohemisten und Germanisten. Detailliert und konzise werden jene Passagen, die eine für die Interpretation relevante Umgestaltung erfahren haben, näher betrachtet, wobei insbesondere dem zweiten Teil und hier im Speziellen der Minnetrankepisode tragende Veränderungen gegenüber den Vorlagen nachgewiesen werden können. Sie führen, so Solomon, zu einer »realitätsnähere[n]« (227) und fester »im Bereich des Diesseits […] veranker[te]n Konzeption« (234), einer »Objektivierung des Erzählten« (ebd.) und einer Aussparung theoretisierender wie reflexiver Passagen im tschechischen Erzählwerk. Leider sind aufgrund der nicht durchgängigen Übertragung der tschechischen Textpartien ins Deutsche für den Sprachunkundigen nicht alle Einzelheiten nachvollziehbar. Die essentielle Botschaft wird dennoch deutlich: Der Tristram muss als autonomes Werk verstanden werden, das sich auf der Grundlage einer umfangreichen Kenntnis der Stofftradition ausgebildet hat. Den markanten Umdeutungen, die auf inhaltlicher Ebene aufschlussreich begründet werden, ließe sich auch auf formaler Ebene die spannende Frage nach dem Umgang der Epigonen mit sprachlich-stilistischen Eigenarten der Quelle anfügen, deren Analyse hier freilich den Rahmen gesprengt hätte und entsprechend nur angedeutet wird: »[D]er Kunststil Gottfrieds […], welchen die Epigonen eifrig nachgeahmt haben, findet im tschechischen Text wenig Resonanz« (227).

Obwohl angesichts kleinerer formaler Mängel ein genaueres Lektorat der Studie zum Vorteil gereicht hätte, handelt es sich insgesamt um ein lobens- und lesenswertes Plädoyer für die Betrachtung mittelalterlicher Erzählstoffe in einem stärker transnationalen Fokus. Kristýna Solomons Werk Tristan-Romane weist den Tristan eindrucksvoll als Kulturgut einer gesamteuropäischen Erzähltradition und damit als zentralen Untersuchungsgegenstand einer interkulturellen Mediävistik aus.

Amelie Bendheim

Anmerkungen

1 | Der Begriff des ›Ideologischen‹ hätte etwas mehr Schärfe verdient.

2 | Vgl. Schulz 2017. Auch Schulz bezieht in Kap. 14 ihrer Arbeit nur zu den deutschen Fortsetzungen Ulrichs und Heinrichs Stellung, die sie als »Korrektiv zu Gottfrieds Minnekonzept« (ebd.: 204) bewertet.

3 | Die Popularität des Tristan-Stoffes auf böhmischem Gebiet führte zu einem eigenen tschechischen Tristan-Roman, dem so genannten Tristram, der verschiedene Handlungsstränge der Stofftradition miteinander verwebt (vgl. einleitend dazu sowie zur kulturellen Entwicklung Böhmens 152f.).

Literatur

Lotman, Jurij M. (21986): Die Struktur literarischer Texte. Aus dem Russ. übers. v. Rolf-Dietrich Keil. München.

Schulz, Monika (2017): Gottfried von Straßburg: ›Tristan‹. Stuttgart.