Raivis Bičevskis / Jost Eickmeyer / Andris Levans / Anu Schaper / Björn Spiekermann / Inga Walter (Hg.): Baltisch-deutsche Kulturbeziehungen vom 16. bis zum 19. Jahrhundert. Medien – Institutionen – Akteure. Bd. 1: Zwischen Reformation und Aufklärung

Heidelberg: Winter 2017 – ISBN 978-3-8253-6812-8 – 52,00 €

Die Herausgeber/-innen haben sich im besten Sinne viel vorgenommen: Die beiden (auf Konferenzen basierenden) Bände, deren erster nun vorliegt, überblicken nicht nur den gesamten Kulturraum des heutigen Baltikums (Estland, Lettland, aber auch Litauen), sondern auch den gesamten Zeitraum zwischen Reformation und dem nation building im 19. Jahrhundert und öffnen den Gegenstandsbereich überdies für eine Vielzahl unterschiedlicher medialer Zeugnisse. Der 508 Seiten starke erste Band befasst sich mit der Spanne zwischen Früher Neuzeit und Aufklärung. Seiner expliziten Strukturierung in die Kapitel »Reformation und Orthodoxie«, »Privates und Institutionelles«, »Sakrale und profane Musik« sowie »Gelehrtentum und Dichtung« steht eine immer wieder aufgerufene implizite Zuordnung zu den drei Themenfeldern »Medien«, »Institutionen« und »Akteure« zur Seite. Während das erste Raster in seiner kategorialen Heterogenität auf die kulturwissenschaftliche Breite des im Kern immer historisch fragenden Bandes verweist (vgl. 11), steht das zweite für den Anspruch, auch eine kultur- und literatursoziologische Perspektivierung bieten zu wollen (vgl. 19). Die 17 Einzelstudien werden außer vom Vorwort und einer knappen Einleitung (14 Seiten) auch durch einen Überblicksbeitrag von Klaus Garber, die Transkription einer Podiumsdiskussion zum Thema »Forschungslandschaft Baltikum« und ein Personenverzeichnis begleitet.

Der Titel »Baltisch-deutsche Kulturbeziehungen« eröffnet aufgrund seiner drei vieldeutigen Bestandteile (baltisch, deutsch und Kultur) potentiell zahlreiche Verständnismöglichkeiten. Im Folgenden soll dargelegt werden, welche konkrete Ausfüllung die drei Schlüsseltermini im vorliegenden Band erhalten.

Die Entscheidung der Herausgeber / -innen, unter dem Etikett ›baltisch‹ die historischen Territorien des heutigen Litauens mit denen des heutigen Estlands und Lettlands und ihren partikularen Geschichten zu verbinden, dient mutmaßlich einem nachvollziehbaren Wunsch: Hier soll offenbar eine geographisch geschlossene Region, die in der Wahrnehmung des heutigen Europa zusätzlich politisch oder kulturell zusammengehörig wirken mag (vgl. dagegen die Selbstwahrnehmung von Undusk, 490), auch historisch gemeinsam betrachtet werden. Durch diese besondere Eingrenzung entstehen interessante Verknüpfungen und – dieser Aspekt ist nicht zu unterschätzen – ein besonders stimmenreicher akademischer Dialog. Die Einleitung erklärt die Wahl des Gegenstandsbereichs zusätzlich mit der folgenden Argumentation:

Zwar gibt es gute Gründe, warum die kulturhistorische Untersuchung der baltischen Länder oftmals Litauen ausklammert. Eine vergleichbar dominante deutsche Kultur, getragen von deutschstämmigen Adelsfamilien, Geistlichen und gelehrten Beamten, hat es in Litauen so nicht gegeben. […] Gleichwohl lassen sich im Detail zahlreiche Beispiele für litauisch-deutsche Kulturbeziehungen finden und unter eine vergleichende Perspektive bringen. (15)

Das Problem der Vergleichbarkeit wird also – hier anhand der deutschen Kultur – klar benannt, ohne es jedoch ganz aufzulösen. En détail ließen sich schließlich zwischen fast allen Kulturen Europas Wechselwirkungen mit der deutschen finden. Da es sich bei den Beiträgen um Einzelstudien handelt, fiele es allerdings auch nicht schwer ins Gewicht, würde der Einwand einer ahistorischen und damit willkürlichen Gegenstandseingrenzung zutreffen – die einzelnen Beiträge befassen sich notwendigerweise immer nur mit sehr kleinen Teilbereichen, und nur für diese besteht der Anspruch, gültige Aussagen zu treffen.

Ein wichtigerer Hinweis in Bezug auf die Auswahl des Bandes ist, dass mit ›baltisch‹ hier nur die herrschende deutsche Schicht gemeint zu sein scheint. Diese Einschränkung wird in der Veranstaltungsankündigung zur Tagung von 2014 deutlich1 (in der Einleitung heißt es dagegen etwas irreführend: »Die sich unter diesen speziellen Bedingungen entwickelnde deutschsprachige Kultur auf baltischem Boden, auch und gerade in Spannung und Wechselwirkung mit der ›undeutschen‹ Sphäre, wird in diesem Band […] untersucht«, 12).

Da es im vorliegenden Sammelband beinahe ausschließlich um deutschsprachige Kulturträger geht, bedeutet das ›deutsch‹ des Titels hier – im Gegensatz zu ›baltisch‹ – ›auf dem Reichsterritorium‹ (vgl. dazu die Reflexion bei Schaper, 345, Anm. 1). Natürlich kann in der Frühen Neuzeit nicht von einer Kulturnation ausgegangen werden, und die einzelnen Beiträge konzentrieren sich dementsprechend auch auf die Regionen (etwa: den Ostseeraum, das Herzogtum Kurland), die Institutionen (etwa: Kirchengemeinden oder Universitäten) und die Medien (etwa: Rechtstexte, Gesangbücher), die in dieser Zeit kulturelle und soziale Praktiken viel eher verbinden und vereinheitlichen als das Reich.

Wie im Zitat oben sichtbar, ist nicht nur ein (produktiv) offener Begriff von ›deutsch‹ die Basis des Bandes, sondern auch seine schillernde Negation ›undeutsch‹ (12). Dieser Terminus ist ein von kolonialen Wertungen und sozialen Zuschreibungen nicht ganz freier Begriff, dessen Diskussion lohnenswert wäre (vgl. Saagpakk, 227; vgl. auch Lenz 2004: bes. 184). Anhand der Vokabel lässt sich überdies eine andere Struktur aufzeigen, welche die Konzeption des Bandes in ihrer Beschränkung auf die kulturelle Elite nicht immer mitzudenken scheint (einzelne Beiträge dagegen sehr wohl): Wer sich für eine Analyse allein der Herrschaftskultur entscheidet und die Beherrschten aus dem Gegenstandsbereich herausnimmt, reproduziert ein Machtverhältnis, das zu reflektieren doch eines der Anliegen einer an Kulturbeziehungen interessierten Geschichtswissenschaft sein sollte. Das in diesem Zusammenhang freilich besonders herausfordernde methodologische Problem, dass die sozial Niedrigeren nun einmal keine Schriftsprache, öffentliche Stimme und Überlieferung (ja, vielfach nicht mal einen eigenen Namen – s. ›undeutsch‹) besitzen, wird jedoch kaum dadurch behoben, dass es ausgeblendet wird.

Die knappe Einleitung fügt sich dem sinnvollen Ritual der Begriffsfestlegung, indem sie Kultur »im Sinn des älteren Begriffs ›Geistesleben‹« (19) verstehen will, um sich nicht in der kleinteiligen Analyse von Artefakten oder »ideeller« Gegenstände zu verlieren (vgl. ebd.). Diese Perspektivierung leuchtet unter heuristischen Gesichtspunkten ein. Wer sich auf öffentliche Zeugnisse und Institutionen konzentriert, bleibt nah an den Quellen. Weil der vorliegende Band den Fokus auf die (deutschsprachigen) Kultureliten legt, ist diese Bestimmung konsequent und zielführend. Zu den betrachteten Gegenständen gehören dementsprechend: eine Kirchenordnung, ein Messbuch, eine litauische Bibelübersetzung, Lebens- und Glaubenszeugnisse von Hermannus Samsonius, Chroniken der Kalenderunruhen in Riga, autobiographische Zeugnisse eines Rigaer Bürgermeisters sowie eines Kantors aus Tallinn / Reval, Pastorenberichte über estnische Bauern, Praktiken der Netzwerkbildung unter Gelehrten in Riga, Reglements für Hochzeitsmusik in Narva, Gelegenheitsmusik aus Riga, Kirchenmusikpraktiken in livländischen Kleinstädten, baltisch-deutsche Kantorenbiographien, ein katholisches Gesangbuch in lettischer Sprache, Lebenszeugnisse von Gelehrten zwischen Vilnius und Preußen, estnische Gedichte von Reiner Brockmann und lateinische Dichtung von Jesuiten. Zusätzlich wird der Fokus auf überlieferte Kulturgüter auch durch systematischen Einbezug derjenigen Balten ergänzt, deren nichtschriftliche Zeugnisse verloren sind; so z.B. in den Beiträgen von Grudule und Saagpakk, denen es gelingt, über die Quellen tatsächlich substanzielle Kulturkontakte zwischen Ungleichgestellten nachzuvollziehen. Auch Arend, Dolgopolova, Greverė und Klöker denken in ihren Beiträgen die indigene Bevölkerung mit; und die kulturellen Einflüsse, die übergeordnete – etwa polnische oder schwedische – Herrschaftsverhältnisse mit sich brachten, spielen ebenfalls punktuell eine Rolle (Dolgopolova, Levans, Rubina, Sildegs).

Nimmt man die drei titelgebenden Termini zusammen, dann lässt sich das Ziel des Bandes also reformulieren: ›Baltisch-deutsche Kulturbeziehungen‹, das bedeutet hier: ›Kulturzeugnisse aus der Sphäre der deutschsprachigen (Bildungs-)Eliten auf dem Gebiet des heutigen Baltikums in Beziehung zum Heiligen Römischen Reich‹. Diese Einschränkung mitdenkend, kann man die Beiträge des Bandes mit großem Gewinn lesen, weil sie informierte Quellenarbeit leisten und Musik, Historiographie, Literatur und Religion in einem Band zusammenbringen. Der interdisziplinäre Zugang mit historischer Fundierung erweist sich wieder einmal als verdienstvoll. Was Schaper für die Musik festhält, einen »gemeinsamen musikkulturellen Ostseerau[m]« (352), zeigt das Ensemble der Beiträge in der Zusammenschau auch für andere soziale Praktiken und kulturelle Güter: Die beschriebene gesellschaftliche Sphäre in den Städten, Kirchen und auf Herrenhöfen ist aufs Engste mit gesellschaftlichen Pendants im Heiligen Römischen Reich, in Schweden und Polen verwoben. Zugleich fragen einige Beiträge nach Kulturpraktiken und -gütern mit ganz eigener »lokale[r] Spezifik« (Prānis, 98) – die zu beschreiben vielleicht der wichtigste Gewinn der Sammlung ist (etwa Arend: kurländische Kirchenordnung mit ›Sonderbehandlung‹ der Indigenen; Prānis: gregorianische Gesänge in Riga; Levans: Lebenserinnerungen mit zentralem Riga-Bezug; Klöker: die ersten estnischen Gedichte von Brockmann). Aufgrund des sehr großen Umfangs der Sammlung und der besonders spezialisierten Einzelstudien werden im Folgenden drei exemplarische Beiträge besprochen, die in ihrer Unterschiedlichkeit das Spektrum des Bandes sinnvoll illustrieren. Die Bewertungen können sich aber selbstverständlich nur auf die Texte als Einzelne beziehen.

Der vierzig Seiten starke Überblickstext von Klaus Garber umreißt die historischen Verläufe und wird der prekären Zusammenführung der litauischen auf der einen und der estnischen, livländischen, kurländischen Geschichte auf der anderen Seite durch konsequentes Hin- und Herwechseln und das Nachzeichnen von »dichotomisc[h]« (41) gelagerten Kulturgeschichten gerecht. Sein Beitrag fokussiert innerhalb der Geschichte kenntnisreich auf das Buch- und Bibliothekswesen, das sich zweifellos eignet, um daran exemplarisch für bestimmte öffentliche Bereiche kulturelle Wechselwirkungen nachzuzeichnen. Der Informationswert dieser Passagen ist hoch.

Gleichzeitig nimmt Garber seine Aufgabe, einen Text außerhalb der Reihe der Einzelstudien zu liefern, dahingehend ernst, dass er um seine an ganz bestimmten Personen und Institutionen interessierten Beobachtungen herum ein Plädoyer für eine ›Rückkehr [des Baltikums] nach Europa‹ (so der Titel) formuliert. Zweifellos ist dieser Appell grundsätzlich hehren humanistischen Zielen in unsteten Zeiten verbunden. Dieser Wunsch ergibt gleichzeitig aber insbesondere für eine Stimme Sinn, welche die (zweifellos: nationalistischen) Prozesse des nation building und der Russifizierung im 19. Jahrhundert offenbar vor allem für eine Ungerechtigkeit gegenüber den (freilich: seit Jahrhunderten) herrschenden Deutschen hält. Während die Inanspruchnahme kulturellen Eigentums durch die – so Garber – »plötzlich selbständig gewordenen Völker« als »unsäglic[h]« (67) verurteilt wird, spielt die Leibeigenschaft, in der die deutschen Herren die Bevölkerung über Jahrhunderte hielten, und deren Ende keineswegs plötzlich kam, keine Rolle. »[U]nter deutschen Fittichen« (67) – so scheint es – seien die Kulturen des Baltikums offenbar so geborgen gewesen, dass die geforderte »Rückkehr« nach Europa tatsächlich auch durch eine besonders hervorgehobene paternalistische Mitwirkung von »uns gerade als Deutschen« an der Pflege des »nun einmal in erster Linie von Deutschen« (68) getragenen kulturellen Erbes zustande kommen könne.

Aleksandra Dolgopolova untersucht in ihrem Beitrag ein Phänomen, das sich an der interessanten und schwer zugänglichen Schnittstelle zwischen öffentlichem und privatem Einflussbereich befindet und zudem die verschiedenen ethnischen Gruppierungen zusammenbringt, die das Baltikum (und hier die kulturhistorisch so bedeutende wie immer wieder exzeptionelle Stadt Narva) prägten: Hochzeitsfeste und ihre musikalische Begleitung. In diesen Ritualen verbinden sich der kirchliche Anspruch auf Reglementierung von Sexualität und Partnerschaft mit hierarchisch organisierten institutionellen Abhängigkeiten (schwedische gegenüber kirchlichen Dienstverhältnissen der Musiker) sowie privaten und wirtschaftlichen Interessen der Eheleute. Außerdem können an diesen Festen die kulturellen Interferenzen nachvollzogen werden, die eine Stadt prägen, in der »sowohl Deutsche, Schweden, Holländer, Engländer als auch sogenannte Undeutsche (Esten und Finnen) und Russen« (275) leben. Um diese besonders facettenreiche und doch im Hochzeitsfest erstaunlich plastische Gemengelage zu beschreiben, greift Dolgopolova auf »Aufwandsgesetze (Hochzeits-, Polizei- und Luxusordnungen)« (271) zurück. Zwar ist das Maß ihrer rechtlichen Verbindlichkeit ungesichert (vgl. 290f.), diese Texte bieten aber dennoch einen einzigartigen Zugang zu so unterschiedlichen Fragen wie denjenigen nach Sexualmoral und Kulturkonflikten, nach Musikerlöhnen und der Festlegung von Hochzeitstagen im Kirchenjahr sowie der Instrumentierung von Musikergruppen.

Mit den Instrumenten einer interkulturell und postkolonial geschulten historischen Quellenanalyse befasst sich Maris Saagpakk mit Sprach- und Kulturpolitiken der lutherischen Pastoren im 17. Jahrhundert. An zwei Beispielen (Berichte der Pastoren Johan Gutslaff und Reiner Brockmann) kann sie zeigen, wie sprachliche und religiöse Praktiken verfuhren, um die estnische Bevölkerung zu missionieren. Sie zeichnet das Bild einer bis in semantische und phonetische Details des Estnischen hinein hybride Übergangsphase, in welcher der estnische Naturglaube verschwindet und die Kultur von religiösen Veränderungen betroffen ist. Hier wird kontinuierlich mitgedacht, dass die deutschsprachigen Quellen Machtverhältnisse zwischen Missionierenden und Missionierten niemals zweckfrei wiedergeben. Saagpakk beschreibt zudem klar, welche Funktion das bis in spätere Jahrhunderte zentrale Stereotyp vom widerspenstigen, tumben Esten für die Aufrechterhaltung der andernorts überkommenen Leibeigenschaft hatte (vgl. 229). Dem Ungleichgewicht, das entsteht, wenn nur eine Kultur stets und parallel Zugang zur Überlieferung, Sprachpolitik und damit zur Deutungshoheit hat, während die andere in der Betrachtung notorisch vage bleiben muss, begegnet dieser Beitrag mit einer angemessenen Skepsis (vgl. 219).

Anna Bers

Anmerkungen

1 | Online unter: http://www.haw.uni-heidelberg.de/forschung/konferenz_baltisch-deutsche-kulturbeziehungen.de.html [Stand: 1.4.2018].

Literatur

Lenz, Wilhelm (2004): Undeutsch. Bemerkungen zu einem besonderen Begriff der baltischen Geschichte. In: Bernhart Jähnig / Klaus Militzer (Hg.): Aus der Geschichte Alt-Livlands. Festschrift für Heinz von zur Mühlen zum 90. Geburtstag. Münster, S. 169-184.