Die Jahreszeit des Tötens

Narrationen von Klima und Topographie in der Literatur zu den ruandischen Genoziden

Marino Ferri

Abstract

In this article, a wide range of literature on the Rwandan genocides is examined, in order to find out how acts of human cruelty shape the perception of topography and climate phenomena. Making use of Fernand Braudels conception of Historical Time, it is argued that, in literature, the »secret relations« between people / events and phenomena of the Longue Durée can be changed dramatically by such ineffable acts of violence. This article examines at length the most common topographical and climate phenomena found not only in European, but especially in African and genuinely Rwandan literature on the Rwandan genocides: the hills (les collines), the rain, the swamps of Bugesera. It is concluded, in a final chapter, that the post-genocidal perception of nature is shaped by the killings themselves, thus creating a macabre topography of dead bodies.

Title:

The Killing Season. Climate and Topography in Rwandan Genocide Literature

Keywords:

Rwanda; genocide; topography; climate; violence

Die Literatur über den ruandischen Genozid von 1994 ist enorm reichhaltig, ja geradezu unüberschaubar. Allein François Lagardes kritische Bibliographie der Mémorialistes et témoins rwandais, die zwischen 1994 und 2013 über den Genozid geschrieben haben, listet Werke von ungefähr 100 Autoren (vgl. Lagarde 2013). Das Jahr 1994 markiert einen Wendepunkt, wenn nicht die eigentliche Geburtsstunde, der ruandischen Literatur; manche sprechen gar von einem Moment der Zäsur für die gesamte afrikanische Literatur.1 Obschon Ruanda bereits in den Jahrzehnten davor immer wieder Kulisse genozidaler Akte war (1959, 1963, 1967, 1973), haben sich nach keinem dieser Massaker einflussreiche literarische Stimmen kundgetan. Innerruandisch ist dieses Schweigen zum Teil aus den politischen Umständen zu erklären: Die als ›Tutsi‹ bezeichnete Minderheit – aufgrund der von der belgischen Kolonialmacht 1931 eingeführten Identitätskarten für jeden erkennbar – war sowohl unter der Regierung von Grégoire Kayibanda (1961-73) wie auch unter jener von Juvénal Habyarimana (1973-94) unterdrückt, diskriminiert und stets gefährdet, Opfer neuer genozidaler Angriffe zu werden.2 Dass sich aber bis nach Juli 1994 auch von den Exilruandern kaum jemand zu Wort gemeldet hat, mag zunächst erstaunen. In den späten 1980er Jahren, unmittelbar vor dem Ausbruch des Bürgerkriegs, der im Genozid von 1994 seinen Kulminationspunkt erlebte, gab es schätzungsweise 600.000 Exilruander. Die meisten von ihnen lebten jedoch unter prekären Umständen in den Nachbarländern, viele in Uganda, wo 1987 die Front Patriotique Rwandais (FPR) gegründet wurde, deren militärischer Führer der heutige Staatspräsident, Paul Kagame, war.3

Die Literaturwissenschaft hat sich im Zusammenhang mit der Literatur über die ruandischen Genozide bisher mehrheitlich Texten zugewandt, die von Schreibenden nichtruandischer Herkunft verfasst wurden. Im Zentrum der Analyse stehen vielerorts jene zehn Texte, die als Teil des Projekts »Fest’Africa« unter dem Titel »Rwanda: Écrire par devoir de mémoire« ab 1998 entstanden.4 Die Geschlossenheit des Korpus, seine einheitlichen Entstehungsbedingungen und verschiedene, von mehreren Autoren aufgegriffene Geschichten, Orte und Menschen machen das Korpus zum verlockenden wissenschaftlichen Objekt. Allerdings fehlt dieser Textsammlung einerseits eine außerafrikanische, andererseits eine tatsächlich innerruandische Perspektive, eine Perspektive der Zeugenschaft von Überlebenden, die während des Genozids von 1994 in Ruanda waren. In dem vorliegenden Beitrag wurden ein breiteres Feld von Texten und eine größere Vielfalt der Perspektiven erforscht; gerade auch, weil hier die literarische Beschreibung und Funktion dessen analysiert wird, was außerhalb der Ereignisse und der Strukturen mittlerer Dauer steht und außerhalb ihrer existiert: die Faktoren der longue durée, namentlich Klima und Topographie. Diese Naturerscheinungen bieten sich nicht zuletzt aufgrund ihrer Dauerhaftigkeit als Basis einer Untersuchung von Kreuzungspunkten testimonialer und literarischer Modi, von Faktizität und Fiktion, an. Eine ausführliche theoretische Grundlegung dieses literaturtopographischen Ansatzes hat Boris Previšić anhand der postjugoslawischen Kriege geleistet (vgl. Previšić 2014). Gemeinsam mit den literatur- und sprachwissenschaftlichen Arbeiten von Robert Stockhammer über die ruandischen Genozide (vgl. Stockhammer 2005a; 2005b; 2016) bildet sie das Fundament der vorliegenden Studie.

In ihrer Analyse der Literatur zum ruandischen Genozid von 1994 bemerkt die Literaturwissenschaftlerin Zoe Norridge, im Zentrum des menschlichen Leidens stünden »the absence of people, the devastation of an empty place, the loss of everything familiar« (Norridge 2013: 148f.). Ausgehend von dieser Beobachtung stellte sich die Frage, ob die erschütternden demographischen und infrastrukturellen Veränderungen, die der Genozid hinterließ, wirklich mit dem Verlust alles Vertrauten gleichzusetzen seien. Wie steht es mit jenen den Einwohnern einer Region vertrauten Gegebenheiten, denen menschliche Grausamkeit physisch nichts anhaben kann? Mit den Hügeln, den Wäldern, dem Regen? Inwiefern vermögen Ereignisse von der Tragweite eines Genozids die Beschreibung klimatischer und topographischer Gegebenheiten zu beeinflussen, ihre Bedeutungshorizonte zu verändern? Wie unterscheidet sich die Behandlung dieser Gegebenheiten in Texten von Autoren, denen die Natur der Region zutiefst vertraut ist, von jener in Texten von Autoren, die Ruanda erst während oder nach dem Genozid von 1994 und nur für kurze Zeit bereisten? Welche Gemeinsamkeiten lassen sich festmachen?

Im Roman Nôtre-Dame du Nil von Scholastique Mukasonga, dessen Handlung in den 1960er Jahren spielt, wird die Weltanschauung einer ruandischen Internatslehrerin beschrieben: »Nach ihrer Auffassung ging es in Geschichte um Europa und in Geografie um Afrika.« Es seien erst »die Europäer gewesen, die Afrika entdeckten und in die Geschichte eintreten ließen.« (Mukasonga 2014a: 33) Die afrikanische Beziehung des Menschen zu der ihn umgebenden Geographie, die zuweilen als das wahrhaft Eigene beschrieben wird, wirft weitere Fragen auf. Wie vermögen einschneidende Ereignisse eine solche Beziehung zu verändern? Führt die Erfahrung menschlicher Grausamkeit zu einer Intensivierung der Beziehung oder im Gegenteil zur Entfremdung von dem, was als das Eigene empfunden worden ist?

Den Versuch, Antworten auf diese Fragen zu finden, gliedere ich im Folgenden in drei Abschnitte, die den in der untersuchten Literatur meistbeschriebenen klimatischen und topographischen Phänomenen entsprechen: den Hügeln und den Vulkanen, dem Regen und den Flüssen sowie den Sümpfen und den Wäldern.

Die Hügel und die Vulkane

Die Hügel, les collines, imisozi, sind das Skelett Ruandas, seine geläufigste strukturelle Einheit, die Referenzpunkte einer großen Anzahl alltäglicher Handlungen und Aussagen seiner Bevölkerung. Das beginnt an dem Punkt, wo es das ganze Land zu bezeichnen gilt, wo dem offiziellen Namen Ruanda, Rwanda, der so viel bedeutet wie »das wachsende Land«5, ein Kosename verliehen werden soll: Die Rede ist dann meist vom Land der tausend Hügel, le pays des milles collines, Igihugu cy’Imisozi Igihumbi. Die Hügel sind das Koordinatensystem, anhand dessen die alltagssprachliche und literarische Navigation durch das Territorium Ruandas vollzogen wird. Die Interpretationen des Kosenamens sind unterschiedlicher Art: Der französische Autor Jean Hatzfeld glaubt in der Begrifflichkeit nicht Diversität, sondern drastische Einheitlichkeit zu erkennen. Wo der Platz mit tausend Hügeln bespielt sei, führt er aus, da sei kein Raum mehr für »paysages grandioses«6 (Hatzfeld 2007: 88). Unter dem Eindruck dieser dominanten Topographie fragt Hatzfeld auch danach, wie sich in einem »paysage aussi exposé, offert à la vue depuis toutes les collines et les montagnes environnantes, ou visibles du ciel par avion ou hélicoptère«7 überhaupt ein Genozid habe ereignen können, ohne dass eine Armee – sei es eine internationale, die französische, die burundische – interveniert habe (ebd.: 146f.). Er spricht hier aus geostrategischer Sicht, verhandelt die Hügel als ungenutzte Orte der Sichtbarmachung, als eigentlich prädestinierte Frühwarnsysteme für nahende Gefahren. Entspricht diese Frage einem spezifisch außerruandischen, vielleicht spezifisch europäischen Blickwinkel auf die ruandische Topographie? Weitere Fundstellen in den Werken Hatzfelds sowie bei Lukas Bärfuss und Hans Christoph Buch sprechen für diese Hypothese (vgl. Hatzfeld 2015: 13; Buch 2001: 23; Bärfuss 2010: 49, 92). Hier sind die Hügel nicht Orte, an denen etwas geschieht, sondern Orte, von denen aus sich etwas sehen lässt. Die Aussichten sind raumgebunden, die Protagonisten bisweilen von einer durchaus europäischen Faszination beim Anblick des Erhabenen heimgesucht. Während Bärfuss und Buch in diesen Denkmustern verhaftet bleiben, hat jedoch kein europäischer Autor die Hügel als soziale Systeme genauer zu beschreiben versucht als Jean Hatzfeld. Er möchte dem gerecht werden, was die Hügel für ihre Bewohner tatsächlich bedeuten, sie als Gesamtheit verstehen, wo Bärfuss und Buch sie nur von ihren Gipfeln her begreifen. Hanna Jansen, die Lebensgeschichte ihrer ruandischen Adoptivtochter nacherzählend, kommt ebenfalls auf eine Aussicht zu sprechen: Von einem Hügel aus öffnet sich die »ungeheure Weite«, an deren Horizont »deutlich die Spitzen der großen Vulkane zu sehen [sind], deren Krater häufig in Wolkendecken oder in einer Dunstschicht verborgen blieben.« (Jansen 2002: 79) Jansens Fokus liegt auf dem sozialen Kontext, in welchem das Überschauen stattfindet: anlässlich eines traditionellen sonntäglichen Spaziergangs von Vater Ananie, der während des Genozids von 1994 ermordet wurde, mit den Kindern. Der Natur wird eine Erinnerungsfunktion zugewiesen. Nicht im eigenen Überschauen, sondern in der Erinnerung an das Überschauen eines Anderen – eines Genozidopfers – besteht in diesem Fall die literarische Rolle der Topographien. Sie legen Zeugenschaft über das Leben eines Menschen ab, der dies selbst nicht mehr kann.

Die Vulkane sind Teil des ruandischen Grenzgebiets zum Kongo. Sie sind Bestandteil jener Region, in welcher 1959 bis 1963 die drastischste Gewalt gegen ›Tutsi‹ verübt wurde und von wo aus 130.000 Menschen flüchteten (vgl. Prunier 1995: 51). Somit erstaunt es kaum, dass in der Literatur nur ihre Betrachtung aus der Ferne positiv konnotiert wird. In die Nähe der Vulkane zu kommen heißt meist: auf der Flucht zu sein, seines Überlebens nicht mehr sicher, getrennt vom sozialen und familiären Umfeld, welches die collines repräsentieren. Für viele ruandische Stimmen sind die Hügel zentral: Häufig wird die eigene Herkunft mit dem Namen eines Hügels angegeben. Den einen ist der ›eigene‹ Hügel das »milieu sécurisé«, das viele Überlebende des Genozids nach den Massakern anderswo zu suchen gezwungen waren, weil die alltägliche Angst (»la peur au quotidien«) zurückblieb. Auf den Hügeln leben vielerorts zurückgekehrte Mörder mit zurückgekehrten Überlebenden in einer Gemeinschaft, die den Schein des prägenozidalen Zusammenlebens zu wahren sucht – unter Abzug der ethnischen Differenzen zwischen ›Hutu‹ und ›Tutsi‹ (vgl. Mujawayo / Belhaddad 2011: 15). Exemplarisch für die Darstellung der collines als soziales System vor 1994, in welchem ein Hügel eine Gemeinschaft bildet, ist die Erzählung Le Malheur von Scholastique Mukasonga (vgl. Mukasonga 2014b). Obschon hier das titelgebende Unglück als Rahmenhandlung des Lebens bezeichnet wird und verschiedenste Ausprägungen annimmt, bleibt die Wahrnehmung des Hügels als weitgehend geschlossenes System erhalten, das trotz der offenliegenden Differenzen zwischen ›Hutu‹, ›Tutsi‹ und ›Twa‹ als Einheit funktionierte. Andere Stimmen wiederum markieren die Hügel als Orte, die bereits vor 1994 Orte der Unsicherheit und des Traumas waren; Orte, an denen man zu jeder Zeit im »milieu de son ethnie« verhaftet bleiben musste (Hatzfeld 2000: 39).

Der literarische Versuch, sich über die Angst, die Erinnerung, die verlorene Heimat der Hügel buchstäblich zu erheben, kommt in La Phalène des collines des tschadischen Autors Koulsy Lamko besonders zur Geltung. Lamkos Protagonistin ist ein Opfer des Genozids – vergewaltigt und ermordet vom Priester, in dessen Kirche sie Zuflucht suchte –, das im Körper eines Falters zurückkehrt, um die Lebenden heimzusuchen. Sie beschreibt ihren Flug über das Land, betäubt von der »[s]ublime féerie de la nature«8 (Lamko 2002: 15). Vielleicht liegt in diesem Betäubtsein der Ansatz für einen persönlichen Weg der Versöhnung mit jenem Land, jenen tausend Hügeln, denen Opfer und Überlebende der Massaker nicht mehr trauen können. Die Hymnen auf das Leben, mit denen einige der »Fest’Africa«-Texte schließen, sprächen dafür (vgl. Nyela / Bleton 2009: 269). Allerdings stellt sich die Frage, ob der Rückbezug auf die Geographie auch ruandischen Überlebenden als Versöhnungsangebot dienlich sein kann: Esther Mujawayo findet für die Situation Ruandas im Jahre 2011 die Worte: »Le Rwanda se reconstruit, et j’en suis contente. Il redevient, à mes yeux, en partie le beau pays qu’il était auparavant – beau par ses paysages, pour commencer.«9 (Mujawayo / Belhaddad 2011: 7) Und doch bleibt offen, ob das von ihr beschriebene Ruanda der zwei Gesichter jemals wieder ohne die »klaffende Wunde des Genozids«10 wird existieren können. Der Zusammenhang von Neubeginn und Natur kann freilich auch in andere Richtungen verlaufen: Cornelius, ein Ruanda-Rückkehrer aus Boubacar Boris Diops Roman Murambi, lobt die Topographien seines Exillandes Dschibuti in höchsten Tönen, das Land sei »une immensité de pierre, un pays aux couleurs intenses«11 (Diop 2000: 53). Die Liebe hatte ihn ursprünglich nach Dschibuti geführt, vor allem aber sei es nach 1994 der einzige Ort gewesen, an dem das Gefühl aufgekommen sei, wieder etwas Neues beginnen zu können.

Der Regen und die Flüsse

Das ruandische Jahr gliedert sich in eine Trocken- und zwei Regenphasen, die maßgebend sind für die Aufteilung in drei agrikulturelle Perioden. Wie die Hügel für die Dimension des Raumes fungiert der Regen für die Dimension der Zeit als Koordinatensystem des ruandischen Lebens. Seine Verlässlichkeit freilich ist geringer, mit historischen und literarischen Konsequenzen. »Mächtiger als früher der König oder heute der Präsident« werden die Regenzeiten bei Scholastique Mukasonga genannt (Mukasonga 2014a: 43). In seiner Untersuchung Climat et crise rwandaise hat René Gomme im Auftrag der Food and Agriculture Organzation of the United Nations klimatische Daten von August 1993 bis November 1996 analysiert und ein Zusammenwirken klimatischer und demographischer Faktoren am Ursprung der Katastrophe herausgearbeitet (vgl. Gomme 1996). Das gleichzeitige Auftreten von Trockenheit und verlorener Bohnenernte sowie einer Zahl von mehreren Hunderttausend Flüchtlingen aus dem burundischen Bürgerkrieg sorgte ab 1993 für untragbare Zustände auf dem ruandischen Staatsgebiet. Nach dem Genozid, im Juli 1994, hatten wieder regelmäßige Regenfälle eingesetzt – jedoch war an vielen Orten niemand mehr da, um die Ernten einzubringen. Der Genozid von 1994 war nicht nur eine humanitäre, sondern auch eine ökonomische Katastrophe: Gomme spricht von der vollständigen Zerstörung der ruandischen Wirtschaft. Eine ökologische Dimension des Genozids von 1994 ist deshalb stets mitzudenken (vgl. ebd.).

Zum Zusammenhang von Klima und Krise lässt Jean Hatzfeld einen Zeugen sprechen, der angibt, schon als Kind bekäme der ›Hutu‹ während Dürreperioden zu hören, »die Tutsi hätten zu viele Parzellen an sich gebracht und in der gegenwärtigen Situation, wo man gegen die Armut ankämpft, könne man auf diese Leute gut und gerne verzichten.« In Zeiten reicher Ernte gerieten die Worte dann wieder in Vergessenheit, aber »als Kind macht man sich solche Missstimmungen zu eigen.«12 (Hatzfeld 2004: 238) Auf diese Weise dringt die ökologische Dimension auf eine gesellschaftliche Ebene vor und verfestigt sich als Stereotyp. Solche Stereotypen erscheinen in der Rede über die Zeit vor 1994 oft mit Bezug auf den ›Hutu / Tutsi‹-Diskurs, in der Rede über die postgenozidale Zeit aber auch mit Verweis auf die Kolonialgeschichte Ruandas. Abdourahman A. Waberi formuliert die direkte Verbindung von Klima und Genozid in der Frage: »[L]e Dieu des chrétiens serait-il définitivement fâché à cause de tout ce qui s’est passé?«13 (Waberi 2004: 64) Der Himmel hat sich gegen Ruanda und seine Bewohner gewendet. Das wahrhaft Eigene, das, was nicht zuletzt den Ruandern einen gewissen Spielraum erlaubte, um über die Europäer gebieten zu können, ist ihnen entglitten. Das Klima als Domäne und Herrschaftsgebiet der Ruander und ihrer Götter: Nach 1994 kann es zur unbarmherzigen Macht werden, die gewalttätig über ihre vormaligen Gebieter herfällt. Die große Regenzeit, itumba, welche einstmals beschrieben wurde als Zeit der Reinigung der Herzen und der Erneuerung menschlicher Beziehungen, wird re-semantisiert zur zerstörerischen Macht, deren dominantes Merkmal nicht mehr die lebensspendende Kraft des Wassers, sondern die brachiale Gewalt des Gewitters ist.14 Diese postgenozidale Wiederkehr des Regens als strafende Gewalt wird bisweilen in einen direkten Zusammenhang mit den Opfern der Massaker gesetzt (vgl. z.B. Tadjo 2000: 52f.). Der Regen wird in den Akteurstatus erhoben, fungiert als Verbündeter eines Toten, der nicht willig ist, die Erde zu verlassen, ohne seine Sachen erledigt zu haben. In diesem Falle ist es nicht mehr die Natur in ihrer Erinnerungsfunktion, die Zeugenschaft für jemanden ablegt, der dies selbst nicht mehr kann, vielmehr ist es der Tote selbst, der in Form einer Naturgewalt zurückkehrt, um seine Zeugenschaft abzulegen. Hanna Jansen hebt diesen Wandel des Regens von der kontrollierbaren Domäne zur strafenden Gewalt ebenfalls hervor und verleiht ihm eine weitere Dimension: diejenige des Spiels. In der Zeit vor 1994 ist der Regen ein Phänomen, das die Phantasie anregt, das Spiele hervorbringt und das sich austricksen lässt. Die Kinder versuchen, den Regenwolken davonzuspringen, um trocken Unterschlupf zu finden; sie nennen das »[m]it dem Regen Fangen spielen« (Jansen 2002: 85). Sobald jedoch die Massaker einsetzen, Flüchten und Verstecken zu den bewegten und unbewegten Koordinaten des Überlebens werden, wandelt sich das Bild. Der Regen ist nun »ein Verbündeter der Mörder« (ebd.: 203). Wochen später, als es nicht mehr die ›Tutsi‹ sind, die vor ihren Mördern davonlaufen, sondern die Mörder selbst, die vor dem Einmarsch der FPR flüchten, wird Hans Christoph Buchs Protagonist, Journalist wie der Autor selbst, von einem ähnlichen Gedanken ergriffen. Er überlegt sich, die fällige Reportage mit dem Satz beginnen zu lassen: »Das Wetter ist gegen die Flüchtlinge.« (Buch 2001: 92f.) Der Verbündete der Mörder kann sich aber durchaus auch in der Maske eines Verbündeten der Flüchtenden zeigen: »La pluie nous favorisait plutôt: il y avait peu de chances que les militaires de Gako se risquent à patrouiller sous un tel déluge.«15 (Mukasonga 2012: 99) Als klimatisches Phänomen, das die Massaker begleitet, behält der Regen somit einen literarisch ambivalenten Charakter. Er scheint sich manchmal auf die Seite der Mörder, manchmal auf jene der Opfer zu schlagen – auf jeden Fall aber entzieht er sich fortan der Vorhersage. Ob er straft oder begünstigt, unterliegt der Willkür einer höheren Instanz. Die Zeile, es regne, wie er es noch nie habe regnen sehen, die der Vater in Scholastique Mukasongas autobiographischem Text Inyenzi ou les cafards seiner Tochter in einem Brief kurz vor Beginn des Genozids von 1994 zukommen lässt, markiert diesen Wendepunkt (vgl. ebd.: 115).

Wie der Regen prägendes Element ruandischer Zeitstruktur ist, so ist das, was er anfüllt, nämlich Flüsse und Seen, Element ruandischer Mythenbestände. Die Gewässer des Landes sind ein omnipräsentes literarisches und visuelles Mahnmal des Genozids von 1994. Zu den markantesten Bildern, die im Laufe der Massaker über Fernsehbildschirme in die Haushalte der untätig zuschauenden Nationen der Welt getragen wurden, gehören die zahl- und namenlosen Leichen, die von unaufhaltsamen Wassern flussabwärts getrieben werden, und die ebenso zahl- und namenlosen Flüchtenden, die sich an den Ufern des Kivusees eingefunden haben.16 Die Bilder, die die westliche Imagination der Ereignisse prägen, ließen sich über die Praxis des topographischen Benennens verorten, ohne sich mit der sozialen, politischen oder ökonomischen Situation auseinandersetzen zu müssen.17 Literatur dagegen hat die Möglichkeit, den Horror in Worte, Gefühle und Schicksale zu fassen. Bisweilen vermengen sich dabei fließende und fallende Wasser zu literarischen Schreckensbildern, wie etwa bei Bärfuss, dessen Protagonist, der Schweizer Entwicklungshelfer David Hohl, Gerüchte von Leichen, »die den Nyabarango [sic] hinunter trieben«, zu Ohren kommen, worauf ihn die Vorstellung nicht mehr loslässt, das Regenwasser, das zu trinken er gezwungen ist, sei »Leichenwasser« (Bärfuss 2010: 11). Ein ähnliches Bild taucht bei Lamko auf, mit dem Unterschied, dass das Wasser der Regenpfützen und -bäche in seinem Szenario tatsächlich von Leichen durchtränkt ist (vgl. Lamko 2002: 123). Die Gewalt des ruandischen Regens wird in Szenen sichtbar, in denen die fallenden Wassermassen zu neuen Strömen anschwellen und auf diese Weise dazu beitragen, die Topographie des Genozids zu formen: »Quand nous sommes retournés à l’école, sur le bord de la grande route de Nyamata, dans les fossés, il y avait des cadavres. Certains avaient été jetés là, d’autres avaient été charriés par les torrents qu’avaient formés les eaux de pluie.«18 (Mukasonga 2012: 68) Das Jahr des Geschehens ist hier 1967.

Es ist auffallend, dass in den Texten der europäischen Autoren die Gewässer zumeist in ihrem Dasein als Namen verhaftet bleiben, während ruandische und andere afrikanische Autoren ihnen sehr hohen Stellenwert, bisweilen gar Akteurfunktionen zuschreiben. Lamkos Nyabarongo ist ein stolzer Fluss, unschuldig und großzügig, er will seine Bitterkeit ausspucken, er erinnert sich, er war überrascht von den vielen Leichen, die seine Fluten mitzutragen hatten (vgl. Lamko 2002: 64f.). In Mukasongas autobiographischer Erzählung La rivière Rukarara (Mukasonga 2014c) ist der titelgebende Fluss eng mit der Biographie der Protagonistin verbunden, die an seinen Ufern geboren wurde. Nachdem die Familie 1959 Opfer einer Zwangsdeportation nach Gitagata in der Region Bugesera geworden war und somit fortan fern des Flusses leben musste, erfährt der Rukarara von Seiten der Mutter eine geradezu mythische Heiligung – alles Gute wird mit ihm in Verbindung gesetzt, alles Schlechte entsteht aus seiner Abwesenheit. Die erst im Exil geborenen Kinder werden krank, weil sie nicht im Wasser des Rukarara getauft werden konnten. Vier Jahre später erfolgt der Wandel: Die Verwandten, die im Tal des Rukarara verblieben sind, werden ausnahmslos Opfer einer grausamen genozidalen Tötungswelle. Das gewaltsame Aufeinanderprallen von Erzählung und Realität, von Ereignis und Erinnerung bringt die Protagonistin zum Entschluss, den Rukarara fortan nur noch in den Geschichten der Mutter fließen zu lassen. Mit dieser Bewältigungsstrategie hofft sie, der Entzauberung des Landes durch die menschlichen Grausamkeiten, die auf seinem Boden verübt werden, Einhalt zu gebieten – ein Unterfangen, das umso schwieriger anmutet, als Scholastique Mukasonga bewusst ist, dass der Rukarara als südlichstes Quellgewässer des Nils einer mythisch-ideologischen Vorbelastung im Zusammenhang des ›Hutu / Tutsi‹-Diskurses ausgesetzt ist.

In der Tat ist die Verortung der Flüsse im Mythenbestand rund um das Thema der vorgeblichen ethnischen Differenzen zwischen ›Hutu‹ und ›Tutsi‹ von großer Bedeutung. Ursprung dieser Theorie ist die Anwendung des Hamitischen Mythos durch die europäischen Kolonisatoren auf Ruandas Bevölkerung. Dieser besagt, die ›Hutu‹ seien die eigentlichen ›Neger‹, die ›Bantu‹, das heißt: die genuin subsaharischen Bewohner Ruandas. Die ›Tutsi‹ dagegen seien sogenannte Hamiten, das heißt: ein später aus dem Norden, aus Äthiopien, zugewandertes Hirtenvolk, welches den ›Hutu‹ überlegen ist und deshalb als Elite fungiert.19 Der Niederschlag dieses Mythos in den postkolonialen Diskursen Ruandas ist beängstigend und äußert sich nicht zuletzt in dem 1994 auf grausame Weise verwirklichten Wunsch radikaler ›Hutu‹, die ›Tutsi‹ mögen dahin zurückkehren, woher sie kamen. In Nôtre-Dame du Nil, dessen Schauplatz ein ruandisches Mädcheninternat während der Sechzigerjahre ist, in dem sich aggressive Rivalinnenkämpfe zwischen ›Hutu‹ und ›Tutsi‹ abspielen, erscheinen gelegentlich Argumente dieser Art: »Keine Angst, ich werde zur Heiligen Jungfrau vom Nil beten, dass dich die Krokodile auf ihrem Rücken dorthin zurücktragen oder besser noch, in ihrem Bauch!« (Mukasonga 2014a: 15) Vergleichbare Mobbingpraktiken und Hasskampagnen gehören zu den prominenten Topoi ruandischer Diskriminierungsnarrative (vgl. u.a. Nsabiyera Gasana 2009: 150f.; Mujawayo / Belhaddad 2011: 75f., 114f.).

Um dem schrecklichen Ende als den Fluss hinabtreibende Leiche zu entgehen, waren während aller ruandischen Genozide, insbesondere aber 1994, Tausende von ›Tutsi‹ gezwungen, sich auf weitgehend ungastlichem Territorium tagelang zu verstecken. Diese Verstecke, namentlich die wilden Papyrussümpfe und die Eukalyptuswälder, wurden wie die Hügel, der Regen und die Flüsse zu literarischen Mahnmalen der Grausamkeit.

Die Sümpfe und die Wälder

Ist in der untersuchten Literatur von den Sümpfen die Rede, so ist die Handlung meist auf eine spezifische Region des Landes beschränkt: auf die Provinz Bugesera südlich von Ruandas Hauptstadt Kigali. Bis ins Jahr 1959 war diese Region aufgrund ihrer ungünstigen klimatischen Bedingungen weitgehend unbewohnt. Hier ist es trockener als in den anderen Landesteilen; die Region ist anfällig für Dürren; ihre ungastlichen Papyrussümpfe lassen sich kaum ertragreich bebauen; im Morast terrorisieren die Mücken. Nach den Massakern von 1959, kurz vor den ersten ruandischen Wahlen, unternahmen die Belgier Befragungen unter den ›Tutsi‹, wohin sie ins Exil gehen wollten. Weil viele, erbost ob der Dreistigkeit dieser Frage, ihre eigene Heimat, Ruanda, angaben, sei entschieden worden: »Bon, vous irez dans le Bugesera, puisque c’est inhabité.«20 (Hatzfeld 2000: 63) Die Deportationen waren traumatische Erfahrungen, die Betroffenen zuzeiten das Gefühl gaben, »vivants dans les bras de la mort«21 zu sein (ebd.: 65). Erst durch die Deportationen rücken die Sümpfe von den Peripherien der Wahrnehmung in den Fokus der Literatur. Ihre Beschreibung erfolgt stets im genozidalen Zusammenhang, nie wird ihnen eine Verwurzelung in ruandischen Mythen und Sagen zuteil.

In der Literatur ist die Funktion der Sümpfe für die sich in ihr bewegenden bzw. gerade nicht bewegenden Akteure stets klar definiert: Für die Mörder waren die Sümpfe der Ort der ›Arbeit‹, das morastige Terrain, in welches man sich morgens in der Gruppe begab, bewaffnet mit Macheten, Keulen, Pfeil und Bogen, in dem man nach ›Tutsi‹ stocherte, die man zu töten hatte, und aus dem man sich abends, wenn der Pfiff des Anführers ertönte, um vier oder halb fünf Uhr, je nach Stand der Sonne, wieder entfernte, um zuhause bei Fleisch und Primus-Bier den Tag zu beenden.22 Es erschüttert die Emotionslosigkeit, mit der einige Mörder über ihre Taten sprechen. Einer von ihnen, Alphonse Hityaremye, wird von Hatzfeld zitiert: »Wir beeilten uns, denn die Jahreszeit des Tötens ging auf ihr Ende zu. Sie versprach, uns dieses eine Mal die harte Erntearbeit zu ersparen, aber kein zweites Mal. Wir wussten, dass wir bei der nächsten Ernte die Machete wieder für andere, traditionellere Arbeiten in die Hand nehmen müssten.« (Hatzfeld 2004: 74) Ein anderer, Elie Mizinge, sagt: »Unsere Freundlichkeit mussten wir dort ablegen, wo der Morast begann«. Für »Gnadenakte und Versöhnung« habe es in den Sümpfen keinen Platz gegeben (ebd.: 51). Die Veränderung des Territoriums markierte ihnen eine Veränderung des Verhaltens. Wo der Morast beginnt, beginnt der Genozid. Und ist er vorbei, würde man wieder zur alltäglichen Feldarbeit übergehen.

Für die Verfolgten dagegen waren die Sümpfe Versteck; der Ort, an dem man so regungslos wie möglich seine Tage zuzubringen gezwungen war, wollte man sich eine kleine Chance wahren, zu überleben. Möglicherweise gereichte es einigen von ihnen zum entscheidenden Überlebensvorteil, dass sie die Sümpfe schon ihr Leben lang kannten und mit allen Sinnen zu lesen verstanden. Im Gegenzug kannten aber auch die Mörder, die ja oftmals von denselben Hügeln stammten wie ihre Opfer, das Terrain von klein auf. Aufgrund der geregelten Tagesstruktur der Mörder war auch jene der Opfer klar zweigeteilt: Tagsüber versuchte man sich in den Sümpfen vor den Verfolgern zu verstecken, abends begab man sich zurück, hügelaufwärts, in die meist bereits geplünderten Häuser, um zu reden, zu schweigen, vielleicht etwas Schlaf zu finden. Zur Tageszeit waren die Sümpfe Schauplatz eines tödlichen Versteckspiels, dessen kaum vorstellbare Grausamkeit die Überlebende Francine Niyitegeka in nüchterne Worte fasst: »Les tueurs m’ont piégée sous les papyrus. Ils ont pris mon enfant dans mes bras. Ils l’ont coupé et l’ont laissé tomber dans le marigot. J’ai reçu un coup de massue sur la tête.«23 (Hatzfeld 2007: 127)

Die natürliche Beschaffenheit der Sümpfe wird von einigen Stimmen als Dimension zusätzlicher Erniedrigung beschrieben. Francine wandte sich, nachdem ihr kleines Kind und eine andere Frau vor ihren Augen getötet worden waren, mit der Bitte an die Mörder, sie außerhalb der Sümpfe zu töten, um nicht im Schlamm und im Blut der anderen Opfer verenden zu müssen (vgl. Hatzfeld 2000: 41). Jean-Baptiste Munyankore, ein Überlebender, der seit den Zwangsumsiedlungen von 1959 alle Genozide miterlebt hat, findet die eindrücklichsten Worte für das, was die Sümpfe während der ruandischen Genozide tatsächlich waren: grausame Zwischenwelten aus Schreien, Schlamm und Leichen, in denen die Grenzen zwischen Leben und Tod bisweilen aufgehoben schienen; Tote und Sterbende so dicht beisammen, dass »ceux qui atteignaient la rive en rampant se croyaient un peu cadavres«24 (Hatzfeld 2007: 135). Die Sümpfe mit ihren gewaltigen Papyrusdickichten scheinen sich auf den ersten Blick als Versteck anzubieten. Andererseits bergen die Sümpfe Gefahren, die sie als Versteck von Flüchtenden ziemlich unplausibel machen: verschiedene Wildtiere, den während der Regenzeiten morastigen Untergrund, der wenig Beweglichkeit erlaubt, und die in der Region Bugesera stets gefürchtete Tsetsefliege. Tatsächlich war es so, dass das Herabsteigen in den Schlamm nach Beginn der Massaker von 1994 nicht der erste Gedanke der Verfolgten war. Es waren Kirchen und Schulen, Institutionen europäischer Prägung, in denen zunächst die meisten von ihnen Zuflucht suchten – und ermordet wurden.25 Diejenigen, die diesen Massentötungen entkamen, flüchteten sich in die Eukalyptuswälder oder in die Papyrussümpfe. Hatzfeld hält fest, dass in den Wäldern die Überlebenschancen um ein Vielfaches geringer waren als in den Sümpfen.26 Es mag nicht zuletzt daher rühren, dass in der untersuchten Literatur Schilderungen der ›Jagd‹ in den Wäldern vorwiegend aus dem Mund der Mörder zu vernehmen sind.

Eine Topographie der Grausamkeit

Was haben all diese in der Literatur über die ruandischen Genozide beschriebenen Topographien gemeinsam? Sie alle werden zu Orten, an denen menschliche Grausamkeit ausgeübt und erfahren wurde. Sie alle werden zu Orten, an denen der Tod seines Mysteriums beraubt wurde. Der Tod selbst – in seiner physischen Ausgestaltung von nahezu einer Million Leichen – wird in den Beschreibungen des Genozids zur eigentlichen Topographie Ruandas. Geschändete Leichen und zerfledderte Kadaver hätten die Landschaft geprägt »comme les arbres et le reste«27 (Hatzfeld 2007: 130). Die Topographie verschwindet unter Bergen von Leichen. Diop nennt sie »ces monceaux de cadavres«28 (Diop 2000: 86), Waberi schreibt von »collines d’ossements«.29 Die Hetzrufe der Mörder fasst er in diese Worte: »Nous érigerons […], le plus haut tas de cadavres du continent, ce qui nous vaudra l’admiration des connaisseurs. Et maintenant, chantent les machettes. Allons, mes enfants, au travail!«30 (Waberi 2004: 51f.) Die Leichenberge sind einer der häufigsten Topoi der literarischen wie auch der historischen Darstellung. Nicht nur auf dem ruandischen Staatsgebiet selbst dominieren sie die Landschaft, auch in den Flüchtlingslagern der Nachbarstaaten: Hans Christoph Buch beschreibt jenes von Mugunga (Kongo), ein »Lavafeld, dessen schwarze Schlacken bei Nacht abkühlen bis zum Gefrierpunkt und tagsüber aufheizen wie Elektrokochplatten«. Mehr als eine Million ›Hutu‹ sollen hier kampiert haben. Als eine Choleraepidemie ausbrach, versenkten »Bulldozer Berge von Leichen, mit Kalk überstreut, in Massengräbern« (Buch 2001: 107). Der Regen trägt das Seinige zur neuen Ausgestaltung der Landschaft bei. Annick Kayitesi beschreibt dies in ihrem Überlebensbericht folgendermaßen: »Der Fluss am Wegesrand ist voller aufgedunsener Leichen, die Bananenschalen ähneln. Das Wasser macht das ganze Schauspiel nur noch schrecklicher. Die Toten sind keine Skelette, sondern aufgequollene Leiber.« (Kayitesi 2005: 124) Ein Fluss, der sowohl im geographischen wie auch im übertragenen Sinne existieren kann: Als Diops Protagonist Cornelius seiner Freundin erzählt, zwischen ›Hutu‹ und ›Tutsi‹ bestehe eigentlich kein Unterschied, man habe dieselbe Sprache, denselben Gott und denselben Glauben, antwortet sie: »il y a entre vous ce fleuve de sang« (Diop 2000: 88). Wieder ist es die »klaffende Wunde«, die sich auftut, und die Frage, ob sie jemals verheilen wird.

Das Land, seine Natur, seine Topographie, sein Klima, das wahrhaft Eigene der Ruander und Ruanderinnen treten im Angesicht des Genozids zurück. Kayitesis Zeugnis belegt dies eindrücklich: Bei der Produktion eines Dokumentarfilms ist sie gezwungen, sich immer wieder die Bilder der Mörder anzusehen,

die über Stunden, über Kilometer mit Macheten auf Männer, Frauen, Kinder einschlugen und hinter sich in Blut getränkte Leichen, verrenkte und zerstückelte Körper zurückließen. Dahinter tausend Hügel, eine üppige Vegetation: Auch das ist Ruanda. Am Horizont ein klarer, blauer Himmel. Mir scheint, als atme ich kurz die Luft meiner Kindheit ein. Sehr schnell aber wird sie vom Geruch des Todes davongetragen. In den Sümpfen, den Flüssen, den Gräben Tausende von Tutsi. (Kayitesi 2005: 28)

Die (literarischen) Beziehungen der Menschen zu der sie umgebenden natürlichen Umwelt sind vielfältig, einflussreich – und oft undurchdringlich. Die »relation secrète«31 zwischen den unbewegten Bäumen am Wegesrand und den Szenen unaussprechlicher Barbarei, die sich vor ihrer Kulisse abgespielt haben müssen, sind intuitiv nicht erfassbar (Diop 2000: 54, vgl. auch 68). Dies gilt auch deshalb, weil die Ereignisse von 1994 keinerlei sichtbare Spuren in der alltäglichen Umwelt hinterlassen haben, weil die Natur ihre ›Geheimnisse‹ für sich behält; der blaue Himmel und die grünen Hügel tragen die »klaffende Wunde des Genozids« niemals offen zur Schau. Heute kann Ruanda in vielerlei Hinsicht als fortschrittliches, aufstrebendes, wachsendes Land bezeichnet werden. Die gegenwärtige mediale Repräsentation Ruandas in Europa fokussiert gerne auf diese progressiven Seiten der postgenozidalen ruandischen Gesellschaft.32 Dabei besteht die Gefahr, einmal mehr eine afrikanische Gesellschaft unter durchweg europäischen Gesichtspunkten zu betrachten und zu beschreiben, ihr ›Werte‹ und Ideale zu diktieren, die womöglich nicht die ihren sind. Gerade heute, zwei Jahrzehnte nach dem letzten ruandischen Genozid, wäre es wichtig, die Spuren, die dem menschlichen Auge unsichtbar bleiben, offenzulegen, die Stimmen der Zeugenschaft ernst zu nehmen. Mit dem unbedingten Willen, aus der Vergangenheit lernen zu können und dem Imperativ »Jamais plus ça!« Folge zu leisten. Dies erscheint gerade deshalb von besonderer Bedeutung zu sein, weil Ruandas ökonomischer Aufschwung stark kontrastiert wird vom Mangel an politischer Freiheit und dem weiterhin von ›Hutu / Tutsi‹-Dichotomien geprägten politischen Leben und Diskurs.

Anmerkungen

1 | Das trifft z.B. auf Alain Patrice Nganangs Manifeste d’une nouvelle littérature africaine (2007) zu, zit. n. Norridge 2013: 135; vgl. auch Nyela / Bleton 2009: 262; zum in diesem Satz aufgeworfenen, weit größeren Themenfeld der ›afrikanischen Literatur‹ in Vergangenheit und Gegenwart vgl. u.a. Ojaide 2012.

2 | Vgl. hierzu auch Elias / Helbig 1991.

3 | Vgl. ausführlich zur ruandischen Geschichte und zum Bürgerkrieg aus der Perspektive eines Hilfswerks (Human Rights Watch) Des Forges 1999, aus geschichtswissenschaftlicher Perspektive Prunier 1995, aus literaturwissenschaftlicher Perspektive Stockhammer 2005a u. 2005b; zur Flüchtlings- und Klimakrise in Ruanda unmittelbar vor dem Genozid von 1994 vgl. Gomme 1996; zur Geschichte der ›Hutu / Tutsi‹-Begriffe Chrétien / Kabanda 2013; zur literaturwissenschaftlich-topographischen Untersuchung von Krieg vgl. sehr ausführlich für die postjugoslawischen Kriege Previšić 2014.

4 | Dabei handelte es sich um ein Projekt, zu welchem zehn afrikanische Autoren, davon zwei ruandischer Herkunft, eingeladen wurden. Sie sollten im Laufe einer Reise durch Ruanda, während der u.a. Genozid-Gedenkstätten besucht wurden, Eindrücke der postgenozidalen Gesellschaft sammeln, um anschließend darüber zu schreiben (was alle taten).

5 | Das ist hergeleitet aus dem Kinyarwanda-Verb kwanda, das so viel bedeutet wie »sich ausweiten, wachsen, expandieren«.

6 | »[G]randiose Landschaften« (Übers. M.F.).

7 | »[E]ine derart exponierte Landschaft, von allen Hügeln und umliegenden Bergen vollständig überschaubar, sichtbar aus dem Flugzeug oder dem Helikopter« (Übers. M.F.).

8 | »[D]er sublime Zauber der Natur« (Übers. M.F.).

9 | »Ruanda erschafft sich neu, und ich bin damit zufrieden. In meinen Augen wird es stellenweise wieder zu jenem schönen Land, das es vorher war – schön durch seine Landschaften, fürs Erste.« (Übers. M.F.)

10 | »Le Rwanda porte désormais ces deux faces: celle d’une incroyable beauté, d’une sécurité retrouvée, et celle de la plaie béante du génocide« (Mujawayo / Belhaddad 2011: 8; Hervorh. u. Übers. M.F.).

11 | »[E]ine Unendlichkeit aus Stein, ein Land der intensiven Farben« (Übers. M.F.).

12 | Ähnliche Argumentationslinien gibt es auch außerhalb des ›Hutu / Tutsi‹-Diskurses, bspw. in Bezug auf die unglücksbringende transzendentale Instanz Nyabingui (vgl. Mukasonga 2015: 69).

13 | »Ist der Gott der Christen nach allem, was geschehen ist, endgültig wütend geworden?« (Übers. M.F.)

14 | Vgl. Semujanga 2008: 89, dort u.a. Zitate aus Tierno Monenembo: L’aîné des orphélins (2000).

15 | »Der Regen hat uns eher bevorzugt: Die Chancen waren kleiner, dass die Truppen aus Gako es riskierten, in dieser Sintflut zu patrouillieren.« (Übers. M.F.)

16 | Siehe z.B. die Reportage von Jim Wooten (1994); vgl. auch Norridge 2013: 152.

17 | »NAIROBI, Kenya – As many as 10.000 bodies from Rwanda’s massacres have washed down the Kagera River into Lake Victoria in Uganda in the last few weeks« (Lorch 1994).

18 | »Als wir zur Schule zurückkehrten, lagen Kadaver in den Gräben am Rand der großen Straße von Nyamata. Einige waren dorthin geworfen worden, andere waren durch die vom Regenwasser geformten Ströme dahin getrieben worden.« (Übers. M.F.)

19 | Vgl. zu dieser Thematik ausführlich Chrétien / Kabanda 2013.

20 | »Gut, dann geht ihr nach Bugesera, das ist noch unbewohnt.« (Übers. M.F.)

21 | »Lebende in den Armen des Todes« (Übers. M.F.).

22 | Zu Tagesstrukturen und ›Arbeits‹-Begriffen der Mörder vgl. insbesondere die Aussagen der Interviewten in Hatzfeld 2004 (z.B. »In den Sümpfen brauchte man dann nur herumzustöbern und zu töten, bis ein Pfiff der Trillerpfeife das Ende anzeigte«, ebd.: 16); vgl. auch Hatzfeld 2000: 81.

23 | »Die Mörder haben mich unter dem Papyrus in die Falle gelockt. Sie haben mir das Kind aus den Armen genommen. Sie haben ihm die Kehle durchgeschnitten und es in den Sumpf fallen lassen. Ich habe einen Keulenschlag auf den Kopf erhalten.« (Übers. M.F.)

24 | »[J]ene, die kriechend das Ufer erreichen, fühlen sich ein wenig wie Kadaver« (Übers. M.F.).

25 | In der Kirche von N’tarama wurden um die 5000 Menschen getötet, in jener von Nyamata womöglich 10.000, in der Technischen Schule von Murambi vielleicht über 45.000. Es herrscht weiterhin keine Klarheit über die genauen Zahlen, vgl. für frühe Einschätzungen u.a. Des Forges 1999: 15f.; Hatzfeld (vgl. 2000: 7) spricht für die Kirche von Nyamata von 5000 Toten; im Roman Murambi ist von 50.000 bis 60.000 Toten für die Technische Schule am gleichnamigen Ort die Rede (vgl. Diop 2000: 103).

26 | Vgl. Hatzfeld 2000: 17; Hatzfeld 2007: 44. Die prominenteste Ausnahme ist Innocent Rwililiza, Jean Hatzfelds langjähriger Begleiter und Dolmetscher, ein Lehrer aus Nyamata, der selbst in den Wald von Kayumba flüchtete und dort überlebte (s. insb. Hatzfeld 2000: 91-113).

27 | »[W]ie die Bäume und der Rest« (Übers. M.F.).

28 | »[D]iese Kadaverhaufen« (Übers. M.F.).

29 | »Hügeln aus Gebeinen« (Übers. M.F.).

30 | »Wir errichten den höchsten Leichenhaufen des Kontinents: Der wird uns die Bewunderung der Kenner eintragen. Und nun singen die Macheten. Los, Kinder, an die Arbeit!« (Übers. M.F.)

31 | »[G]eheime Beziehung« (Übers. M.F.).

32 | Im Africa Competitive Index 2017 belegt das Land hinter Mauritius und Südafrika Rang 3, im »Global Gender Gap Report 2016« erreicht Ruanda hinter vier skandinavischen Nationen weltweit Rang 5; vgl. World Economic Forum 2016 u. 2017; medial vgl. z.B. Deuber 2017.

Literatur

Bärfuss, Lukas (2010): Hundert Tage. Roman. München.

Buch, Hans Christoph (2001): Kain und Abel in Afrika. Roman. Berlin.

Chrétien, Jean-Pierre / Kabanda, Marcel (2013): Rwanda. Racisme et Génocide. L’idéologie hamitique. Paris.

Des Forges, Alison (1999): Leave None to Tell the Story: Genocide in Rwanda. Hg. v. Human Rights Watch. New York u.a.; online unter: https://www.hrw.org/reports/pdfs/r/rwanda/rwanda993.pdf [Stand: 1.4.2018].

Deuber, Katharina (2017): Ruanda – Land in Frauenhand. NZZ Format, 2. April 2017; online unter: https://www.nzz.ch/nzz-format-ruanda-land-in-frauenhand-ld.154168 [Stand: 1.4.2018].

Diop, Boubacar Boris (2000): Murambi, le livre des ossements. Roman. Paris.

Elias, Michel / Helbig, Danielle (1991): Deux mille collines pour les petits et les grands. Radioscopie des stéréotypes hutu et tutsi au Rwanda et au Burundi. In: Politique Africaine, No. 42. Paris.

Gomme, René (1996): Climat et crise rwandaise. Dezember 1996; online unter: http://www.fao.org/3/a-au033f.pdf [Stand: 1.4.2018].

Hatzfeld, Jean (2000): Dans la nu de la vie. Récits des marais rwandais. Paris.

Ders. (2004): Zeit der Macheten. Gespräche mit den Tätern des Völkermordes in Ruanda. Aus dem Franz. v. Karl-Udo Bigott. Gießen.

Ders. (2007): La stratégie des antilopes. Paris.

Ders. (2015): Un papa de sang. Paris.

Jansen, Hanna (2002): Über tausend Hügel wandere ich mit dir. Stuttgart / Wien.

Kayitesi, Annick (2005): Wie ein Phönix aus der Asche: Ich überlebte das Massaker in Ruanda. München.

Lagarde, François (2013): Mémorialistes et témoins rwandais (1994-2013). Bibliographie critique. Paris.

Lamko, Koulsy (2002): La Phalène des collines. Roman. Paris.

Lorch, Donatella (1994): Thousands of Rwanda Dead Wash Down to Lake Victoria. In: New York Times v. 21. Mai 1994, S. 1.

Mujawayo, Esther / Belhaddad, Souâd (2011): SurVivantes [2004]. Erw., durchges. u. korr. Aufl. Genf.

Mukasonga, Scholastique (2012): Inyenzi ou les Cafards. Paris.

Dies. (2014a): Die Heilige Jungfrau vom Nil. Roman. Aus dem Franz. v. Andreas Jandl. Heidelberg.

Dies. (2014b): Le Malheur. In: Dies.: Ce que murmurent les collines. Nouvelles rwandaises. Paris, S. 101-124.

Dies. (2014c): La rivière Rukarara. In: Dies.: Ce que murmurent les collines. Nouvelles rwandaises. Paris, S. 11-32.

Dies. (2015): Cœur tambour. Roman. Paris.

Norridge, Zoe (2013): Perceiving pain in African literature. Basingstoke.

Nsabiyera Gasana, Solomon (2009): Confronting conflict and poverty through trauma healing: integrating peace-building and development processes in Rwanda. In: Phil Clark / Zachary D. Kaufman (Hg.): After Genocide: Transitional Justice, Post-Conflict Reconstruction and Reconciliation in Rwanda and Beyond. New York, S. 145-170.

Nyela, Désiré / Bleton, Paul (2009): Lignes de fronts. Le roman de guerre dans la littérature africaine. Montreal.

Ojaide, Tanure (2012): Contemporary African Literature: New Approaches. Durham.

Previšić, Boris (2014): Literatur topographiert. Der Balkan und die postjugoslawischen Kriege im Fadenkreuz des Erzählens. Berlin.

Prunier, Gérard (1995): The Rwanda Crisis: History of a Genocide. London.

Semujanga, Josias (2008): Le génocide, sujet de fiction? Analyse des récits du massacre des Tutsi dans la littérature africaine. Québec.

Stockhammer, Robert (2005a): ›Literatur‹, nach einem Genozid. Äußerungsakte, Äußerungsformen, Äußerungsdelikte. Aachen.

Ders. (2005b): Ruanda. Über einen anderen Genozid schreiben. Berlin.

Ders. (2016): Afrikanische Philologie. Berlin.

Tadjo, Véronique (2000): L’Ombre d’Imana. Voyages jusqu’au bout du Rwanda. Arles.

Waberi, Abdourahman A. (2004): Moisson de crânes: textes pour le Rwanda. Monaco.

Wooten, Jim (1994): Rwanda 1994. ABC News Nightline, 7. August 2011; online unter: https://www.youtube.com/watch?v=ZWuB8ir4VeI [Stand: 1.4.2018].

World Economic Forum (Hg.; 2016): The Global Gender Gap Report 2016; online unter: http://www3.weforum.org/docs/GGGR16/WEF_Global_Gender_Gap_Report_2016.pdf [Stand: 1.4.2018].

Dies. (Hg.; 2017): The Africa Competitiveness Report 2017; online unter: http://www3.weforum.org/docs/WEF_ACR_2017.pdf [Stand: 1.4.2018].